Seewölfe - Piraten der Weltmeere 96. Kelly Kevin
Affenarsch …“
Er unterbrach seinen Lieblingsspruch, um einen Protestschrei vom Stapel zu lassen, aber da war Dan O’Flynn schon im Kombüsenschott verschwunden. Donegal Daniel Junior war zwar längst nicht mehr das „Bürschchen“, von einst, aber immer noch schnell bei der Hand, wenn es um Eßbares und vor allem Trinkbares ging. Grinsend hangelte er sich Minuten später an den Manntauen über die Kuhl und schwenkte triumphierend die Buddel. Ed Carberry riß sie ihm energisch aus den Fingern – doch Hasard hätte darauf gewettet, daß sich Dan den ersten Schluck schon in der Kombüse gegönnt hatte.
Die Flasche wanderte. In den letzten sechsunddreißig Stunden hatte die Verpflegung aus trockenem Schiffszwieback und ein paar Brokken kalten Pökelfleischs bestanden, jetzt konnten die Männer eine Stärkung dringend gebrauchen. Hasard fühlte die Wärme des Alkohols belebend durch seine Glieder rinnen. Mit einem tiefen Atemzug reichte er die Flasche an Ben Brighton weiter und griff nach dem Spektiv, um zu versuchen, im Grau der Dämmerung ringsum etwas zu erkennen.
Noch sah er nichts als rollende Wellenberge und dahinjagende Wolkenfetzen, die ab und zu ein Stück Himmel freigaben. Aber eine knappe Stunde später hatte sich der Sturm endgültig gelegt. Die letzten Böen schienen den Himmel sauberzufegen, nur noch wenige graue Wolken zerfaserten in der frischen Brise.
Auf Hasards Befehl wurden die Trossen eingeholt, aber vorerst verzichtete er darauf, weitere Segel setzen zu lassen. Die Männer waren erschöpft und brauchten eine Pause. Und sie würden noch genug damit zu tun haben, die Decks zu klarieren und die Schäden auszubessern, die der Sturm angerichtet hatte.
Ben Brighton, der Bootsmann, fuhr sich mit allen fünf Fingern durch das dunkelblonde Haar.
„Ich schätze, daß es uns verdammt weit nach Westen verschlagen hat“, meinte er.
Hasard nickte grimmig. „Da kannst du recht haben. He, Dan! Laß mal den Rum in Ruhe und schwing deine müden Knochen in den Großmars!“
„Aye, aye, Sir!“ Donegal Daniel junior warf Ed Carberry die Flasche zu, enterte wie der Blitz in die Wanten und schwang sich über die Segeltuchverkleidung der Plattform. Der Schimpanse Arwenack, der sich während des Sturms unter Deck verkrochen hatte, folgte ihm keckernd. Unten auf der Kuhl flatterte der Papagei Sir John dem Schiffsjungen Bill auf die Schulter.
„Gottverdammt!“ krähte der Vogel. „Wollt ihr wohl anbrassen, ihr Rübenschweine, oder soll ich euch die Haut in Streifen von euren Affenärschen ziehen?“
Die Männer bogen sich vor Lachen. Ed Carberry, der Profos, kriegte rote Ohren. Er fand es höchst unpassend, daß sich der Papagei seiner Lieblingsflüche bediente.
Hasard blickte gespannt zum Großmars hoch, wo Dan O’Flynns blonder Schopf im Wind flatterte. Der Junge hatte die schärfsten Augen der Crew, aber es verging noch eine halbe Stunde, bevor er in der endlosen Weite des Pazifik etwas entdeckte.
„Deck ho! Land in Sicht! Insel Steuerbord voraus!“
Hasard nahm das Spektiv ans Auge und spähte in die angegebene Richtung. Er konnte nichts erkennen. Erst Minuten später entdeckte er einen winzigen Punkt an der Kimm. Eine Mastspitze konnte es nicht sein, dafür war es zu groß, also mußte Dan wohl recht haben mit der Insel.
„Hm“, brummte Hasard. „Scheint doch was dran zu sein an den Karten dieser Chinesen.“
„Wieso?“ fragte Ben Brighton. „Ich dachte, hier gibt es weit und breit nur Wasser.“
„Was heißt schon hier?“ Der Seewolf zeigte die Zähne. „Kannst du vielleicht eine genaue Positionsberechnung aus dem Ärmel schütteln? Der Himmel allein weiß, wie weit wir nach Westen gedriftet sind. Wenn das da vorn eine der Inseln ist, die die Chinamänner entdeckt haben, muß es verdammt weit sein.“
„Eine Insel ist es auf jeden Fall. Und die können wir jetzt auch gebrauchen. Das war kein Frühlingslüftchen, das uns da erwischt hat.“
„Wem sagst du das! He, Ferris! Sieh dich mal ein bißchen um! Ist die Großrah noch heil, die Blacky und Smoky so elegant auf die Planken gefeuert hatten?“
Blacky und Smoky hätten einwenden können, daß die elegantere Methode sie vielleicht das Großsegel gekostet hätte, aber sie ließen es bleiben. Ferris Tucker war natürlich längst in allen Winkeln des Schiffs herumgekrochen, das brauchte man dem rothaarigen Zimmermann nach einem solchen Sturm nicht erst zu sagen. Jetzt grinste er breit und streichelte gewohnheitsmäßig den Griff der riesigen Axt an seinem Gürtel.
„Die Großrah ist heil, Sir“, meldete er. „Das Bilgewasser steht ein bißchen hoch, aber ich glaube nicht, daß wir groß lenzen müssen. Nur der Besan hat einen Riß abgekriegt. Die Blindenrah ist hin, und im achteren Frachtraum hat sich ein Wasserfaß losgerissen. Es war ordentlich festgezurrt“, fügte er hinzu. „Daß der Augbolzen aus dem Spantholz brechen würde, konnte niemand voraussehen.“
„Kleinholz?“ fragte Hasard trokken.
„Jede Menge, Sir. Wenn du mich fragst, kommt uns die komische Insel da sehr gelegen.“
Hasard nickte. „Na schön, dann segeln wir mal näher heran. An die Brassen und Fallen! Heißt auf Großsegel und Besan! Heißt auf die Marssegel!“
Die Männer gerieten in Bewegung.
Knatternd entfaltete sich das weiße Segeltuch, die Rahen wurden dichter geholt. Pete Ballies riesigen Fäuste wirbelten das Steuerrad herum, und die „Isabella“ luvte an, bis sie mit halbem Wind über Backbordbug auf die unbekannte Insel zurauschte.
„Deck ho!“ schrie Dan O’Flynn aus seinem luftigen Ausguck.
Hasard hob sofort alarmiert den Kopf, weil die Stimme des Jungen etwas schrill klang.
„Der Teufel soll mich holen, wenn das nicht die merkwürdigste Insel ist, die ich je gesehen habe!“
„Kannst du dich nicht deutlicher ausdrücken?“ fauchte der Seewolf zurück.
„Aye, aye, Sir! Ist aber schwierig! Das Ding sieht wie eine Art Bastion aus, nur größer.“
„Bastion? Hast du zu viel Rum getrunken?“
„Bestimmt nicht, Sir! Es ist wirklich komisch!“
Den Eindruck hatte Hasard auch. Eine Insel mit einer Befestigungsanlage, das war das letzte, was er in diesem Teil des Pazifik erwartet hätte. Angestrengt spähte er durch das Spektiv nach Norden, und jetzt sah auch er, was Dan gemeint hatte.
Deutlich hoben sich die Konturen der Insel über der Kimm ab.
Eine Insel, die aussah, als habe sie gewaltige Zähne. Ihre Form erinnerte tatsächlich an eine Art Bastei, nur daß die merkwürdigen „Zähne“ einfach zu groß waren, um wirklich zu einer Befestigungsanlage zu gehören. Andererseits jedoch hätte Hasard schwören können, daß es sich nicht um eine zufällige Felsformation, eine Laune der Natur handelte. Sein Blick wanderte zum Großmars hoch. Dan O’Flynn hielt das Spektiv unverwandt auf die Insel gerichtet. Erst nach einer Weile ließ er es mit einem Ruck wieder sinken.
„Figuren!“ rief er. „Das sind Figuren, riesige Steinfiguren.“
„Besoffen!“ knurrte Carberry. „Mann, wenn du uns auf den Arm nehmen willst, ziehe ich dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch!“
„Affenarsch!“ wiederholte der Papagei Sir John begeistert. „Affenarsch und Rübenschwein, was, wie?“
Hasard hörte nicht mehr zu.
Er hatte das Gefühl, als sei tief in seinem Gehirn etwas eingerastet. Immer noch spähte er zu der seltsamen Insel hinüber, und jetzt wußte er plötzlich, woran Dans Worte ihn erinnert hatten.
Riesige Steinfiguren!
Steinerne Riesen …
Von der „Insel der Steinernen Riesen“ hatte er schon einmal gehört, damals auf Jamaica, als sie die Bucht angelaufen hatten, in der der fünfzehnjährige Bill verzweifelt Rauchzeichen gab, weil er auf Hilfe für