Seewölfe - Piraten der Weltmeere 96. Kelly Kevin
wie eine Damaszener-Klinge schnitt ihre Stimme durch den Lärm.
„Abfallen auf Raumschotskurs! Klar bei Backbordgeschütze!“ Und mit einem tiefen Atemzug: „Einzeln schießen, Männer! Wir rasieren ihnen erst mal die achteren Drehbassen, dann sehen wir weiter.“
Über der Insel, die die Spanier Sala-y-Gomez nannten, schien die Luft zu kochen.
Nichts drang von dem Gefechtslärm herüber, das Rollen der Kanonen trug nicht bis hierher. Auf der Insel herrschte eine fast gespenstische Stille, nur die Geräusche der Natur waren lebendig. In einer geschützten Senke stand ein Dutzend primitiver Hütten, aber auch in diesen Hütten war alles still.
Es lag noch nicht lange zurück, daß auf der Insel ein kleiner Eingeborenenstamm zu Hause gewesen war.
Friedliche Polynesier, die vom Fischfang lebten. Menschen, die freundlich in ihrem Wesen waren, gastfrei, aber auch kriegerisch, wenn es sein mußte. Ihre Waffen waren jedoch primitiv, sie hatten keine Kanonen, keine Musketen, keine Pistolen, und als eines Tages ein Schiff am Horizont auftauchte und die Insel anlief, waren sie wehrlos.
Die Spanier, die über die Eingeborenen herfielen, kannten kein Erbarmen.
Für sie waren die Bewohner der Neuen Welt keine Menschen, sondern Wilde, die noch unter den Tieren rangierten. Gnadenlos metzelten sie die Polynesier nieder und rotteten in einem grausamen Massaker fast die gesamte Inselbevölkerung aus. Einige wenige nur blieben übrig. Hübsche junge Mädchen und Frauen vor allem. Und ein paar Männer, die den neuen Herren als Sklaven zu dienen hatte und sich fügen mußten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, auf bestialische Weise umgebracht zu werden.
Sala-y-Gomez gehörte den Spaniern.
Einer Handvoll Spaniern nur, die ein festes Lager errichtet hatten und in ihren Hütten im Grunde recht primitiv lebten.
Sehr selten nur sichteten sie ein anderes Schiff, das sie kaperten, um die lohnende Beute erleichterten und dann versenkten. Manchmal segelten sie auch zur Nachbarinsel hinüber, um unter den dortigen Eingeborenen zu morden, zu plündern und zu brandschatzen. An Tagen wie diesem, wenn das Schiff ausgelaufen war, herrschte in dem kleinen Lager auf der Insel tiefe Stille.
Es war Mittag, als ein großer, hagerer Mann eine der Hütten verließ und leicht schwankend über den freien Platz ging.
Er hatte getrunken. Seine Augen waren glasig, die Hitze benebelte zusätzlich sein Hirn. In der Linken hielt er eine halbgeleerte Rumflasche, und sein Gesicht verzerrte sich zu einem Ausdruck dumpfer Gier, als er sich nach rechts wandte und weiterstolperte.
Am Rand des Lagers kauerte reglos eine dunkle Gestalt zwischen den Büschen. Sie hatte ein braunes, breitflächiges Gesicht, dunkles Haar, das glatt und dicht in die Stirn fiel, breite Schultern und einen geschmeidigen, muskulösen Körper. Der Polynesier war jung, fast noch ein Knabe. Aus brennenden Augen beobachtete er den Spanier. In dem braunen Gesicht preßten sich die geschwungenen Lippen zu einem Strich zusammen, als der hagere Kerl vor einer bestimmten Hütte stehenblieb.
Luana, dachte der junge Polynesier.
Luana!
Der betrunkene Spanier rülpste, dann verzog er die Lippen zu einem schmierigen Grinsen. Seine Augen begannen zu funkeln. Ohne hinzusehen, schob er die halbleere Flasche in eine seiner Taschen. Verstohlen sah er sich nach allen Seiten um, dann trat er rasch auf die Tür der Hütte zu und begann, an dem primitiven Riegel zu nesteln.
Der junge Polynesier ballte die Hände zu Fäusten.
Er wußte, was der Kerl dort vorhatte. Er wußte es so genau, als habe der Bursche es ihm gesagt. Er konnte es in dem verzerrten Gesicht lesen, in dem dünnen, glänzenden Schweißfilm auf der Stirn und dem gierigen Glitzern der Augen. Der braunhäutige Junge grub die Zähne in die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Sein Herz trommelte in einem wilden Wirbel gegen die Rippen, Angst schnürte ihm die Kehle zu. Alles in ihm drängte danach, sich einfach abzuwenden, lautlos davonzuschleichen und Augen und Ohren zu verschließen vor dem, was geschehen würde, aber er brachte es nicht fertig.
Er konnte es nicht geschehen lassen!
Er mußte etwas tun!
Jetzt! In dieser Sekunde!
Seine Hände waren feucht, Schweiß perlte auf seinem braunen, jetzt fast fahlen Gesicht. Vorsichtig, geschickt und lautlos wie eine Schlange, glitt er ein Stück zur Seite. Erst als er sich im Sichtschutz der Hütte befand, richtete er sich behutsam auf und verließ die Deckung des Buschwerks.
Vier, fünf gleitende Schritte, dann hatte er die Rückwand der Hütte erreicht.
Er hörte, wie der Spanier die Tür öffnete und eine Mädchenstimme erschrocken aufstöhnte. Der Spanier stieß ein heiseres, gemeines Kichern aus. Der Junge biß die Zähne zusammen. Sein Blick zuckte in die Runde. Hastig bückte er sich, hob einen faustgroßen Stein auf und schlich weiter.
Die Tür der Hütte stand offen.
Lautlos auf seinen nackten Füßen glitt der Junge näher. Im Innern der primitiven Behausung herrschte Halbdunkel. Zuerst konnte der Polynesier nur das schmutzige, zerfetzte Hemd des Spaniers entdecken, den knochigen Rücken, das ölig glänzende schwarze Haar, doch nach und nach schälten sich auch die anderen Einzelheiten aus dem Schatten.
Ein einfaches Strohlager.
Und ein schlankes braunhäutiges Mädchen, das hilflos auf diesem Strohlager kauerte, an Händen und Füßen gefesselt.
Ihre Augen waren weit aufgerissen.
Voller Angst starrte sie den Spanier an. Ihre Lippen zitterten, ihre Brust hob und senkte sich unter schnellen, angstvollen Atemzügen – und das war ein Anblick, der den betrunkenen Spanier vollends in Erregung versetzte.
„He, Täubchen“, sagte er. „Nun schau mich nicht so an, als ob ich dich auffressen wollte! Ich tu dir doch nichts! Nur ein bißchen Spaß will ich mit dir haben.“
Weder das Mädchen in der Hütte noch der junge Polynesier draußen vor der Tür verstanden die spanischen Worte.
Aber sie hörten den Tonfall. Sie wußten beide, was gemeint war und daß es nichts gab, was den Betrunkenen jetzt noch von seinem Vorhaben abbringen konnte.
Nichts – außer Gewalt.
Das Mädchen in der Hütte atmete schneller und wich so weit gegen die Wand zurück, wie sie es vermochte. Der Spanier lachte nur. Blindlings tastete seine Rechte nach der Rumflasche. Mit den Zähnen zog er den Korken heraus und setzte die Flasche an den Mund, um sich noch mit einem kräftigen Schluck zu stärken.
Der junge Polynesier hob vorsichtig die Hand, in der er den Steinbrocken hielt.
Seine Muskeln spannten sich. Hoch aufgerichtet stand er da, der schlanke, muskulöse Körper glänzte im Sonnenlicht. Für die Dauer eines Herzschlags wirkte er fast wie eine Statue, dann explodierte er.
Blitzartig schlug er zu.
Es gab ein dumpfes Geräusch, als der Stein den Schädel des Mannes traf. Ein scharfer, zischender Atemzug drang über seine Lippen, das war alles. Von einer Sekunde zur anderen erschlafften seine Muskeln. Die Rumflasche entglitt ihm, zerklirrte auf dem Boden, und im nächsten Moment brach er zusammen wie vom Blitz getroffen.
Über den reglosen Körper hinweg starrte das Mädchen zur Tür. Ihre Augen waren weit aufgerissen, die Lippen zitterten.
„Guma“, flüsterte sie. „Guma!“
„Luana.“
Er lächelte ihr zu. Rasch ließ er den Stein fallen und wollte die Hütte betreten, um das Mädchen von den Fesseln zu befreien. Viel zu spät hörte er das winzige Geräusch in seinem Rücken.
„Bastardo! Cobarde!“
Es war eine spanische Stimme.
Wie unter einem Peitschenhieb zuckte der Junge zusammen. Auf dem Absatz wirbelte er herum, aber er schaffte es nicht einmal mehr, die beiden Männer zu erkennen, die dort im heißen Staub