Seewölfe - Piraten der Weltmeere 415. Roy Palmer
den Palast stürmte.
An diesem Vormittag des 14. August 1594 wurde Califano höchst unsanft aus seinen Träumen hochgescheucht. Kanonendonner wehte von der See herüber. Er richtete sich auf, kroch aus seiner Hütte und rieb sich die Augen. Im ersten Moment glaubte er, sich getäuscht zu haben. Dann aber krachte es wieder, und das Dröhnen wälzte sich schwer über die See auf die Insel zu.
Das Gefecht fand gar nicht weit von seinem Lagerplatz entfernt statt. Califano horchte auf. Bedeutete es Gefahr für ihn? Nein, er hatte nichts zu befürchten. Sein Lagerplatz lag weit genug landeinwärts. Selbst ein Ortskundiger konnte ihn kaum entdecken. Keine Kanonenkugel konnte sich hierher verirren, sie blieb vorher im Gewirr der Mangroven und Schlingpflanzen stecken. Kein Schiffbrüchiger würde die Hütte finden, denn sie war hervorragend getarnt und verschmolz mit ihrer Umgebung wie ein Chamäleon mit dem Ast, auf dem es hockte.
Mit der Ruhe war es aber trotzdem aus. Außerdem war Califanos Neugierde geweckt. Wer beschoß sich da draußen, was ging vor? Hatten Freibeuter einen Kauffahrer überfallen, wie es häufig in diesem Gebiet passierte? Oder wehrten spanische Kriegsschiffe einen Gegner ab, einen Feind, der in den Hafen von Havanna einzudringen versuchte?
Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und schüttelte den Kopf. Nein, die zweite Möglichkeit schloß er aus. Zur Zeit befanden sich keine Kriegsgaleonen oder Kriegskaravellen im Hafen. Er gab im übrigen auch wenig auf das Gerücht, die englischen Schnapphähne würden früher oder später auftauchen, um Don Antonio Feuer unter seinem dicken Hintern zu machen.
Sosehr er, Califano, das dem Señor Gouverneur auch wünschte: So dumm waren die Engländer bestimmt nicht. Eher bedienten sie sich einer Kriegslist. Don Antonio hatte sie mit seinem Angriff auf ihren Schlupfwinkel bis aufs Blut gereizt, und sie würden sich an ihm rächen, aber sie würden es nicht auf dem direkten Weg tun.
Daß diese Engländer bereits vor Ort waren, konnte Califano nicht ahnen. Ebensowenig wußte er, daß sie das kurze, heftige Gefecht entfesselt hatten, das vor der Küste stattfand.
Er kroch geduckt durch das dichte, verfilzte Gestrüpp und arbeitete sich auf einen seiner Aussichtspunkte zu, von dem aus er das Geschehen verfolgen konnte.
Dieser Platz war ein V-förmiger Einschnitt im Ufer, der von Mangroven überwuchert war. Auf den ersten Blick mochte er wie die Mündung eines Flüßchens wirken, doch bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, daß kein Wasserlauf aus dem Inneren der Insel in die See floß. Es handelte sich ganz einfach nur um eine winzige Bucht. Hier warf Califano seine Angeln aus, wenn der Hunger groß war und er etwas zum Beißen brauchte.
Er kauerte sich hinter die dicken, bizarr verrenkten Luftwurzeln der Mangroven und spähte auf die See. Was er sah, ließ ihn unwillkürlich erstarren. Vor seinen Augen spielte sich ein Kampf ab, der es in sich hatte. Eine Fleute wurde von zwei Dreimastern in die Zange genommen, einem düsteren Zweidecker und einer stattlichen Galeone mit flachen Decksaufbauten, hohen Masten und überlangen Rahruten. Die Fleute war ins Kreuzfeuer geraten, ihre Besatzung hatte keine Chance mehr.
Tatsächlich schienen die Kerle an Bord der Fleute dies einzusehen. Sie sprangen ins Wasser, als sei der Leibhaftige hinter ihnen her.
Aber sie haben die Haie nicht berücksichtigt, dachte Califano, oder es ist ihnen lieber, von den Tiburónes zerrissen zu werden, als dem Gegner in die Hände zu fallen.
Der Zweidecker luvte jetzt an, und die Galeone fiel ab. Ein Manöver, das sich in harmonischer Übereinstimmung vollzog. Die Fleute hatte keinen Spielraum mehr. Streicht die Flagge, dachte Califano, es ist aus, Leute.
Wieder lösten sich Gestalten von Bord der Fleute und sprangen ins Wasser. Von dem Zweidecker schwang sich ein schlanker, mit einem Degen bewaffneter Mann an einem Fall auf die Fleute hinüber und säbelte einen riesigen Schwarzen nieder. Eine schwarze Frau hechtete über das Schanzkleid in die See und tauchte weg. Dreiecksflossen erschienen – die Haie waren zur Stelle. Alles ging atemberaubend schnell.
Califano war jetzt hellwach und verfolgte alles aus schmalen Augen, nichts entging ihm. Er war überzeugt, daß keiner der in der See Schwimmenden gegen die reißenden Zähne der grauen Mörder eine Chance hatte.
Von Bord der Galeone enterten große Männer auf die Fleute über. Die meisten von ihnen waren blond und hatten Bärte. Califano begriff: Sie waren die rechtmäßigen Besitzer des Schiffes. Bei seinem letzten Besuch in der Kellerkaschemme „Malagena“, die einem gewissen Lopez gehörte, hatte er dies und anderes vernommen. Übel hatte man diesem Wim de Bruijn und seiner Crew mitgespielt. Der Gouverneur hatte die Fleute für die schwarze Frau beschlagnahmen lassen, und die Holländer waren ins Stadtgefängnis gesperrt worden.
Von dort waren sie wieder ausgebrochen, aber es war ihnen nicht gelungen, ihr Schiff zurückzuerobern. Jetzt hatten sie es geschafft – mit Hilfe der Fremden an Bord der beiden Dreimaster. Diese Schiffe führten eine schwarze Flagge mit gekreuzten goldenen Säbeln.
Piraten, dachte Califano, und unwillkürlich erschauerte er. Was werden sie tun? Havanna ansteuern?
Nein, die Galeone und der Zweidecker segelten westwärts, aus welchem Grund auch immer. Die Fleute entfernte sich in nordöstlicher Richtung. Noch ein paar Rufe schallten herüber – offenbar Grußworte –, dann trat Stille ein, und die Distanz zwischen der Fleute und den beiden anderen Schiffen vergrößerte sich rasch.
Sieben- bis achthundert Yards lag der Schauplatz des Geschehens nach Califanos Schätzung vom Ufer entfernt. Nein, auch der beste Schwimmer konnte es nicht schaffen, über diese Entfernung den Haien zu entkommen, dessen war Califano sicher. Und doch täuschte er sich, wie sich wenig später herausstellte.
Regungslos hockte Califano in seiner Deckung und beobachtete, wie die Segler sich entfernten. Er sah auch die Dreiecksflossen der Haie und meinte, hier und dort eine Verfärbung des Wassers zu erkennen.
Einmal wehte ein gurgelnder, erstickter Laut zu ihm herüber, aber sonst blieb es still. Die Szene war gräßlich und unheimlich. Die Haie zerrten ihre Opfer in die Tiefe und hielten ihre grausige Mahlzeit ab.
Bedauern konnte Califano sie nicht. Sie waren die Schnapphähne, die mit dem Gouverneur paktiert hatten, und das Weib sollte den Teufel im Leib haben. Sie war schlimmer als zehn Kerle zusammen, und ihr böser Einfluß, so hieß es, habe ganz Havanna ins Verderben gestürzt. Ihr und ihren Kumpanen geschah es also ganz recht, daß sie von den Haien zerrissen wurden.
Der Riese, der entseelt auf dem Deck der Fleute zusammengesunken war, mußte Caligula gewesen sein, das Ungeheuer, vor dem die ganze Stadt gezittert hatte. Sein Lebensweg war mit zahllosen Leichen übersät gewesen, so tuschelte man in den Kneipen, und so war es nur recht, daß auch er den Tod gefunden hatte.
Ein Todesschrei gellte herüber, verebbte aber sofort wieder. Califano glaubte, zwei Arme zu sehen, die sich hilfesuchend aus dem Wasser reckten, gar nicht weit von ihm entfernt. Er schloß die Augen und schüttelte sich. Als er sie wieder öffnete, waren die Arme verschwunden. Ein paar Blasen stiegen auf, das Wasser war dunkel verfärbt und schien ein wenig zu brodeln.
Gottes gerechte Strafe trifft alle Verbrecher, dachte Califano. Unwillkürlich bekreuzigte er sich. Im Grunde seines Herzens war er ein einfacher gläubiger Mann, wenn er auch nie in die Kirche ging.
Sein Blick richtete sich auf das Wasser zu seinen Füßen. Etwas regte sich darin. Er hockte wie gelähmt da und vermochte sich nicht mehr zu rühren. Seine Augen weiteten sich und drohten aus ihren Höhlen zu quellen. Was war das? Ein Hai?
Etwas tauchte auf – eine menschliche Hand. Califano stöhnte vor Entsetzen auf. Die Hand schob sich auf ihn zu und schien nach ihm zu greifen. Dann sah er auch das Gesicht des Mannes, es war zur Unkenntlichkeit verzerrt und verunstaltet. Der Mann war tot, aber er schien noch zu leben, denn er bewegte sich wiegend in den sanften, flachen Wellen, und seine gebrochenen Augen richteten sich auf Califano.
Califano erhob sich unendlich langsam. Er stöhnte und gab würgende Laute von sich. Der Leiche fehlte das linke Bein, auch sonst war sie am ganzen Körper verstümmelt. Nie zuvor hatte er etwas Gräßlicheres gesehen. Schlimmer noch: Er kannte diesen Mann.
Er hatte Grillo