Seewölfe - Piraten der Weltmeere 274. Roy Palmer
im Grunde wußten sie alle ja nur zu gut, daß sie sich gegenseitig nichts vorzuerzählen brauchten.
Die Zeit der Überfahrt hatten sie dadurch verkürzt, daß sie – obwohl zahlende „Passagiere“ an Bord der etwa zweihundert Tonnen großen Galeone – bei der Decksarbeit kräftig mit zugepackt hatten.
„In die Hände spucken und reinhauen“, hatte Shane das genannt. „Wenn ich nicht ständig was um die Ohren habe, wird mir hundeelend zumute.“
So ging es nicht nur ihm, so empfanden auch Hasard und die anderen Männer und sogar die Zwillinge. Je länger man beschäftigt war und je erschöpfter man nach dem Dienst an Deck in die Koje sank, desto seltener stellten sich die deprimierenden Gedanken über das Schicksal der anderen Kameraden ein.
Und so waren die Seewölfe dem Kapitän Orosco und seinem Ersten Offizier Aurelio Vergara doppelt willkommen, denn die „Rosa de los Vientos“ war unterbemannt.
Diesem desolaten Zustand hatten die Männer der „Isabella“ abgeholfen. Obendrein hatten sie sich bei der Mannschaft der Galeone so manchen guten Freund geschaffen. Die spanischen Decksleute waren heilfroh, Verstärkung erhalten zu haben. Somit war die Reise nach Irland bei weitem nicht so anstrengend geworden, wie es anfangs ausgesehen hatte.
Hasard ging nach achtern und lächelte knapp, als der Aufklarer, ein sechzehnjähriger Junge, ihm sogar das Schott des Achterkastells öffnete.
Mit langen Schritten verschwand der Seewolf im Achterkastell und durchmaß den Mittelgang, der ihn direkt auf die Kapitänskammer zuführte.
Don Juan war nicht allein, Aurelio Vergara leistete ihm Gesellschaft. Während der Kapitän hinter seinem Pult saß, hatte sich der Erste unter den Bleiglasfenstern der Backbordseite auf einem geschnitzten Gestühl aus Edelkastanie niedergelassen.
Mit einer aufmunternden Geste wies Juan Bernardo Orosco auf einen freien Stuhl und sagte: „Señor Killigrew, bitte, nehmen Sie Platz. Ich hatte mir gedacht, daß es wohl angebracht sei, vor unserer Ankunft im Hafen von Galway noch ein letztes Gespräch zu führen.“
Hasard setzte sich und blickte von Orosco zu Vergara. Was hatte das zu bedeuten? Gab es jetzt doch noch eine unangenehme Überraschung? Hatte sich Orosco dazu entschlossen, seinen englischen Gast als Gefangenen ins Kabelgatt zu sperren und zurück mit nach Spanien zu nehmen, um das von der Krone ausgesetzte Kopfgeld zu kassieren?
Aber nein – Hasard las Offenheit und Aufrichtigkeit in den Zügen der beiden Spanier. Sie hätten ja auch unterwegs oft genug Gelegenheit gehabt, Hasards Begleiter zu töten und in die See zu werfen und ihn selbst in Ketten zu legen. Sie hätten dies schon in Cadiz tun können, wenn sie es gewollt hätten.
Dieses Mißtrauen, dachte Hasard, warum kannst du es nicht ablegen?
Früher war er anders gewesen, aber seit den Ereignissen in Ägypten traute er kaum noch einem Menschen. Zu dieser Wandlung in seinem Wesen hatten die List und der Betrug des Ali Abdel Rasul nicht nur beigetragen – der Kerl trug die ganze Schuld daran. Es würde seine Zeit brauchen, bis Hasard diesen tiefsitzenden Argwohn wieder loswurde.
Hinter seinem Rücken wurde an die Tür geklopft. Orosco antwortete, und der Aufklarer trat ein. Er brachte einen Krug voll Rioja, den er auf die Anweisung des Kapitäns hin frisch aus einem der Fässer im Laderaum abgefüllt haben mußte.
Die „Rosa de los Vientos“ hatte bis unter die Ladeluken Wein aus dem berühmten spanischen Anbaugebiet Rioja geladen. Wein lieferten die Spanier, wie der Seewolf schon von früher her wußte, nur zu gern nach Irland. Dafür handelten die Iren mit Wolle und Tierhäuten.
Juan Bernardo Orosco war gescheit genug, ein paar Fässer gleich vor Anfang der Reise sowohl für das Achterdeck als auch für die Decksmannschaft zu reservieren. Es wurde in Maßen getrunken, keiner durfte es übertreiben und sich beim Dienst mit starker Schlagseite erwischen lassen, denn das wiederum wurde mit Strafen quittiert.
Da Orosco aber freiwillig die Wein-Rationen verteilen ließ, griff er von vornherein jedem Mißbrauch vor und verhinderte, daß der eine oder andere seiner Männer heimlich ein Faß anstach und sich sinnlos betrank.
Vergara nahm den Krug entgegen, Orosco entließ den Aufklarer mit einer Gebärde. Vergara erhob sich, entnahm einem Schapp drei Kelche und schenkte sie fast bis zum Rand voll. Den einen überreichte er Hasard, den anderen seinem Kapitän. Dann stand auch Orosco auf, und der Seewolf folgte seinem Beispiel.
„Lassen Sie uns anstoßen, Señores“, sagte der Kapitän.
Über das Pult hinweg brachten sie die Kelche einander näher, bis sie sich berührten, hoben sie an die Lippen und tranken.
Dann fuhr Orosco fort: „Ich möchte mich noch einmal für die Hilfe bedanken, für den Einsatz, den Sie und Ihre Männer an Bord dieses Schiffes geleistet haben, Señor Killigrew. Ich werde Ihnen das nie vergessen, glauben Sie mir.“
„Für uns war das eine Selbstverständlichkeit“, sagte Hasard. „Und die Arbeit hat uns über einiges hinweggeholfen. Sie verstehen, was ich meine.“
„Ja. Doch ich möchte Ihnen zumindest das Geld zurückgeben, das Sie uns gezahlt haben.“
„Das nehme ich nicht an“, sagte Hasard. „Verteilen Sie es unter Ihrer Mannschaft. Sie haben gute Leute auf Ihrem Schiff, die diese zusätzliche Heuer bestimmt verdient haben.“
Orosco begriff und drang nicht weiter darauf, die Münzen auszuhändigen. In der Zeit der Überfahrt hatte er herausgefunden, daß es die Engländer in vielen Dingen mit ihrem Ehrgefühl und Moralkodex wie die Spanier hielten – eine Entdekkung, die ihn überrascht hatte. Er wußte, daß es der Seewolf sozusagen als eine Beleidigung angesehen hätte, jetzt das einmal gezahlte Geld zurückzuerhalten.
Sie setzten sich wieder, und Orosco nahm noch einen Schluck Wein, ehe er wieder sprach. „Erlauben Sie mir, noch ein offenes Wort an Sie zu richten. Ich bedaure den Zwist zwischen unserem Mutterland und Ihrer Nation zutiefst, mein lieber Killigrew. Wenn es nach mir ginge, gäbe es keinen Krieg, das dürfen Sie mir glauben.“
„Wir sind keine Fanatiker“, fügte Vergara lächelnd hinzu. „Aber das haben Sie sicher schon selbst bemerkt, Señor.“
„Ja“, sagte der Seewolf. „Wir alle sind in erster Linie Menschen und sollten es auch bleiben. Nach allem, was ich erlebt habe, wäre ich froh, wieder an etwas wie echte Kameradschaft zwischen Männern verschiedener Herkunft glauben zu können.“
„Was uns betrifft, dürfen Sie es ruhigen Gewissens tun“, entgegnete der Kapitän. „Für uns werden Sie nie ein Feind der spanischen Krone sein. Ich möchte das Kompliment erwidern, das Sie eben ausgesprochen haben: Auch Sie haben hervorragende Männer unter sich, Señor Killigrew, und Ihre beiden Söhne sind wahre Prachtkerle.“
„Danke“, sagte Hasard. „Aber Sie hätten den Rest der Crew kennenlernen sollen, Ben Brighton, Ferris Tukker, Edwin Carberry und alle anderen.“
„Eines Tages treffen Sie sie wieder.“
„Ich danke Ihnen für diese Worte und möchte gern daran glauben.“
„Man darf die Hoffnung nie aufgeben, Señor“, sagte Aurelio Vergara. „Bedenken Sie, wie viele Möglichkeiten es auch für den versprengten Rest Ihrer Mannschaft gibt, in die Heimat zurückzukehren.“
Hasard blickte auf die Flüssigkeit in seinem Kelch, dann schaute er wieder auf. „Vielleicht nehmen Sie es mir nicht ab, aber ich bete darum, daß sie es geschafft haben.“
„Und ob ich Ihnen das glaube“, sagte Don Juan. „Der wahre Glaube findet seinen Beweis in der Menschlichkeit, die ein Mann zu zeigen imstande ist. Die See ist rauh und fordert ihre Opfer. Wer in einem Gefecht nicht seinen harten Kern zeigt, der ist verloren. Doch Menschlichkeit scheint trotzdem Ihr oberstes Gebot zu sein, Señor Killigrew.“
„Wie wollen Sie das so genau wissen?“
Der Kapitän lächelte verhalten. „Ich habe davon gehört, wie Sie sich nach der Schlacht gegen die geschlagene Armada verhalten haben, und