Seewölfe - Piraten der Weltmeere 233. Burt Frederick
„Wißt ihr“, sagte er zu den Zwillingen und senkte seine Stimme, wie im Verschwörerton, „ich kann euch sogar jetzt schon voraussagen, was als nächstes passiert.“
„Wirklich?“ Hasard junior sah ihn mit großen Augen an.
„Was ist es? Bitte erzähl es uns, Sir.“ Philip junior hob Sir John, den karmesinroten Ara-Papagei, von der Nagelbank und setzte ihn auf seine Schulter, als müsse es auch der Vogel für die nun folgende Geschichte bequemer haben.
Sir John wiegte sich hin und her, stieß ein heiseres Krächzen aus und plusterte sein Gefieder auf. Er fuhr mit dem Schnabel durch das Haar des Jungen und genoß es offenkundig, alle Aufmerksamkeit für sich zu haben. Denn Arwenack, der Schimpanse, hatte es vorgezogen, im Logis zu bleiben, wo der Rest der Crew noch mit der Morgenmahlzeit beschäftigt war.
„Da gibt es nicht viel zu sagen“, begann der alte O’Flynn. „Es ist nur so, daß wir auch ohne Wind weiter auf Nordostkurs laufen werden.“
Die beiden Jungen sperrten den Mund auf.
„Ohne Wind?“ fragte Hasard junior.
„So ist es. Natürlich nur mit sehr geringer Fahrt. Aber euer Vater und alle anderen Schlaumeier werden nachher aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Wenn ich alles richtig mitgekriegt habe, sind wir nämlich nur noch ein paar Seemeilen von den Kanarischen Inseln entfernt. Und da gibt es so eine merkwürdige Erscheinung. Manche behaupten, es wäre eine ganz einfache Meeresströmung. Aber das ist es nicht allein. Ich habe von Sachen gehört, die hier passiert sind …“ Old O’Flynn schüttelte sich und legte eine Pause ein, um die Spannung der Jungen zu steigern.
Ihre Blicke hingen wie gebannt an seinen Lippen.
„Da hat es mal einen spanischen Kapitän gegeben“, fuhr der Alte fort. „Ihr erinnert euch an Venezuela?“
Philip und Hasard nickten eifrig. Die Geschehnisse, in die die Isabella-Crew am Drachensund verwikkelt gewesen war, lagen noch nicht allzu lange zurück.
„Nun, der Name dieses Kapitäns ist mir entfallen. Spielt auch keine Rolle. Es muß jedenfalls schon zwanzig Jahre her sein, daß dieser Don am Orinoco eine Silberladung an Bord nahm. Vorher mußte er sich mit einem Eingeborenenstamm herumschlagen. Die Wilden wurden zwar besiegt, aber ihr Medizinmann verfluchte das Schiff, und er prophezeite, daß es vor einer fernen Küste ohne Winde in den Schlund der Hölle hinabgezogen würde. Nun …“ Old O’Flynn räusperte sich krächzend und kratzte an seinem Holzbein. „Dieses verdammte Kribbeln will und will nicht aufhören.“
„Weiter!“ drängte Philip junior.
„Nun, was soll ich sagen? Die spanische Galeone mit dem Bauch voller Silber geriet tatsächlich südwestlich der Kanarischen Inseln in eine Flaute. Und genau wie wir uns wundern werden, wunderte sich der Kapitän über diese merkwürdige Strömung. Er hat es in seinem Logbuch notiert. Es befand sich in seiner Kiste, die Jahre später von Seeleuten aus dem Wasser gefischt wurde. Mit seiner letzten Eintragung berichtete der Spanier, daß das Meer glatt wie ein Spiegel gewesen wäre und sich kein Lufthauch geregt hätte. Trotzdem soll da aber eine unerklärliche Macht gewesen sein, die das Schiff immer tiefer hinabzog. Von da an war die Galeone für alle Zeiten verschollen. Vielleicht gehört sie jetzt zu den Geisterschiffen, die manchmal in einer Sturmnacht irgendwo auf den Weltmeeren zu sehen sind.“
„Und wenn es nun die Bohrwürmer waren?“ wandte Hasard junior zaghaft ein. „Die können einen Schiffsrumpf doch auch so durchlöchern, bis …“
„Nein, nein. Das hat der Kapitän alles überprüfen lassen. Ihr müßt euch nun mal damit abfinden, Leute, daß es zwischen Himmel und Erde gewisse Sachen gibt, für die unser menschlicher Verstand einfach zu armselig ist.“
Voller Genugtuung bemerkte Old Donegal Daniel O’Flynn, wie die Söhne des Seewolfs erschauerten.
Eine Donnerstimme, die von der Kuhl herauftönte, riß sie aus ihren düsteren Gedanken.
„Hurtig, hurtig, ihr faulen Rübenschweine! Das könnte euch so passen, was, wie? Erst den Bauch vollschlagen und dann nicht mehr mit dem Hintern hochkommen! Davor wird euch euer Profos bewahren, ihr Stinte! Schwingt die Pützen und schrubbt es euch von der Seele, was euch bedrückt! Wenn ich mich nicht gleich in den Decksplanken spiegeln kann, ziehe ich euch …“
„… die Haut in Streifen von euren Affenärschen!“ fiel ein heiserer Chor von Männerstimmen ein.
„Ho, ho! Ihr habt wohl euren spaßigen Tag!“ brüllte Edwin Carberry. Der Profos der „Isabella“ hatte sich beim Großmast aufgebaut und schob herausfordernd sein mächtiges Rammkinn vor. Er stemmte die Fäuste in die Hüften, wodurch seine bullige Statur noch eindrucksvoller wirkte. „Denkt ihr etwa, wenn der Wind stillsteht, heißt das für euch auch Stillstand, was, wie? Himmel, Arsch und Kabeljau, wenn ihr lausigen Bilgenratten glaubt, daß ihr euch auf die faule Haut legen könnt, dann wird euch gleich der Schlag treffen!“ Carberry blickte in die Runde. „He, Mister Roskill, das hab ich auch schon mal schneller gesehen! Sieht so aus, als ob deine lahmen Knochen nur noch für den Kombüsendienst taugen. Schaffst du’s noch, oder brauchst du Hilfe?“
Sam Roskill, der schlanke ehemalige Karibik-Pirat, lehnte am Backbord-Schanzkleid und holte mit flinken Handbewegungen eine Leine ein, an deren Ende eine mit Seewasser gefüllte Pütz hing. Wie alle anderen arbeitete er mit unvermindertem Tempo weiter.
Die lautstarken Sprüche des Profos’ waren für sie gewohnte Begleitmusik, und jedem einzelnen von ihnen hätte etwas gefehlt, wenn die Anfeuerungen des klotzigen Profos’ einmal ausgeblieben wären.
„Da soll mir doch der Gehörnte persönlich in den Hintern treten“, fuhr Carberry grollend fort, „wenn ich es nicht hinkriege, daß sich dieser verrottete Kahn noch heute in ein sauberes und blitzblankes Schiff verwandelt!“
Die Männer mußten grinsen. Eine Begegnung zwischen Edwin Carberry und dem Gehörnten konnten sie sich mächtig gut vorstellen. Keine Frage, daß der letztere schon nach wenigen freundlichen Worten des Profos’ den Schwanz einziehen und verstört davonschleichen würde.
Was nun Sauberkeit und Ordnung anbetraf, so bot die schlanke dreimastige Galeone ein stolzes Bild, hinter dem sich keiner der Seewölfe zu verstecken brauchte. Carberrys maßlose Übertreibung bezog sich auf die wenigen Sägespäne und Holzreste, die nach den Instandsetzungsarbeiten noch herumlagen.
Seit sie die Kapverdischen Inseln hinter sich gelassen hatten, verfügten die Männer unter Philip Hasard Killigrew wieder über ein Schiff, das so schmuck war wie an seinem ersten Tag.
Keiner von ihnen würde jemals den denkwürdigen Tag vergessen, als sie die achte „Isabella“ daheim in Old England in ihren Besitz übernommen hatten. Der beste Schiffbauer Englands hatte die 300-Tonnen-Galeone entworfen und eine prachtvolle Konstruktion zustande gebracht.
Die Kastelle waren wesentlich flacher, wodurch eine viel schlankere Linienführung als bei anderen Schiffen dieser Klasse erreicht worden war. Ins Auge stachen auch die drei überlangen Masten, die eine größere Segelfläche ermöglichten. Das Ruderhaus auf dem Quarterdeck hatte ein richtiges Ruderrad. Auch damit war die „Isabella“ den plumpen spanischen Galeonen weit voraus, die noch mit dem veralteten Kolderstock auf Kurs gehalten wurden.
Letztlich gingen auch die Kanonen des Dreimasters über das herkömmliche Maß hinaus. Acht 17-Pfünder-Culverinen waren auf jeder Seite der Kuhl mit den Brooktauen festgezurrt. Die überlangen Rohre dieser Geschütze ermöglichten ein genaues Zielen auf mehr als eine Seemeile Distanz. Zusätzlich gab es auf der Back und auf dem Achterdeck je zwei Drehbassen – Hinterlader, die in beweglichen Gabellafetten gelagert waren.
Philip Hasard Killigrew beobachtete die Entwicklung des Wetters voller Sorge. Längst schob die „Isabella“ nicht mehr den weißschäumenden Schnurrbart der Bugsee vor sich her. Und die bisher noch stolz geblähten Segel hingen wie übergroße schlaffe Lappen an den Rahen.
Dem Seewolf und seinen Männern entging keineswegs, daß ihr Schiff in einer kraftvollen Meeresströmung stetig weiter nach Nordosten trieb.