Das Theater leben. Julian Beck
Es führte zum kalifornischen Aufbruch ins 21. Jahrhundert, der Faszination für die Wüste, Computer und LSD, dem Whole Earth Catalog, der Entstehung von Umwelt- und Friedensbewegungen, der Utopie des Cyberspace und schließlich zum Ende des Kalten Krieges, dessen Symbol die Öffnung der Berliner Mauer wurde.
Die Mission des Living Theatre beschrieb Julian Beck 1969 als ein „Anti-Gewalt-Theater. Theater als Fürsprecher für Anarchie, für gewaltlose Revolution, für Revolution“ – weshalb es naheliegt, dass die Öffnung der Mauer für sie eine besondere Bedeutung besitzen würde. 1991, sechs Jahre nach Julian Becks Tod, war Judith Malina auf Einladung der Berliner Festspiele wieder in Berlin. Sie nahm die friedliche Revolution im Ostteil der Stadt, im Osten Deutschlands und Osteuropas, an der viele Künstler und Künstlerinnen beteiligt waren, die an der Entstehung und Ausweitung der Bürgerbewegung zur Volksbewegung entscheidenden Anteil hatten, kaum zur Kenntnis. In ihrer Festspielrede fragt sie lediglich, ob nun, nach der Öffnung der Grenze, die Frage nach der Freiheit mit Waschmaschinen und McDonald‘s beantwortet werden könne. Mehr als dieses Bild der übernommenen Gesellschaft kam von der Revolution im Osten auch in New York nicht an. Ihr zu entkommen war die Essenz von Julian Becks Buch.
Über den Rand hinaus
Das Theater leben dokumentiert die Dekade eines unablässigen geistigen Stoffwechsels – mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, dem undogmatischen Feminismus oder den Folgen der brasilianischen Militärdiktatur. Prägend war Becks Neugier auf ausgegrenzte Lebensformen, mit denen er die revolutionäre Hoffnung verband, dass sich im Leben dieser Ausgegrenzten der Vorschein eines anderen Lebens entdecken und fördern ließe, das schließlich das Leben der Mehrheitsgesellschaft zum Besseren verändern könne. Daher sein Studium der spirituellen Außenseiter, der Lage der Frauen, Schwarzen, Arbeiter und Arbeiterinnen, Landlosen, der Nachfahren der Sklaven und Sklavinnen. Beck genderte lange vor dem Entstehen der Political Correctness und folgte auch darin seiner anarchistischen Hoffnung, dass die friedliche Revolution von den Marginalisierten ausgehe. Damit verbunden ist in Becks Notizen natürlich die drohende Überfrachtung der Kunst, wenn sie zum Vehikel der Revolution oder zu ihrem Labor wird, in dem als verwirklicht erlebt werden darf, worauf die Gesellschaft draußen noch wartet, ohne es zu wissen.
Mit fast ethnologischer Neugier lässt sich Julian Beck auf seinen Reisen auf die jeweilige Kultur ein und sucht die Nähe zu ihr. In Berlin fällt ihm die Angst der Deutschen vor seiner eindringlichen, sie emotional überwältigenden Theaterform auf, die Angstreflexe heraufbeschwört, zwanzig Jahre nach dem Ende des Faschismus schon wieder durch den Verlust der Distanz auch die mit ihr verbundene Vernunft zu verlieren. Oder sein Staunen über den Karneval und die Tanz- und schamanistischen Zeremonien in Brasilien, den Samba, die Gilden der blocos in den Favelas. In all dem sieht Beck „Theater“ und durch das Theater hindurch das Engagement von Menschen, gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihnen Leid zufügen, zu widerstehen.
Becks Studien sind Suchbewegungen am Rand des bürgerlichen Gesellschaftsmodells, bzw. Expeditionen über es hinaus. So schreibt er über die Praktiken schwarzer Magie in São Paulo und die Kultur der Roma und Sinti, der „Gypsies“, wie er sie im Gestus seiner Zeit im englischen Original nennt – eine Sprechweise, die wir in unserer Übersetzung in ihrer historischen Form beibehalten haben, auch wenn wir sie heute mit Distanz zur Kenntnis nehmen. Julian Beck nennt einige seiner Textblöcke in diesem Buch „Meditationen“, und in diesem Sinne sind sie Versuche, zur Welt zu kommen – an konkreten Orten, mit dem eigenen Körper mittendrin. Und in diesen Meditationen melden sich all die Geister, denen er sich geöffnet hat, um dieses „Leuchten der guten Ziele“ zu erzeugen: Eric Gutkind, Strindberg, Pascal, Martin Buber, Dalí, Allen Ginsberg, Paul Goodman, Artaud, William Carlos Williams, Errico Malatesta, John Cage, die heilige Theresa, Joyce und Pound, Breton, Lorca, Proust, Cummings, Gertrude Stein und Rilke, Cocteau, Pollock und de Kooning, Piscator und Robert Edmond Jones, Becks anderer Lehrer, Malraux und Frost, Auden, Barker, Gauguin, Shakespeare, R. D. Laing, Daniel Cohn-Bendit, Grotowski und Stanislawski, Siddhartha Gautama und Yasodhara, Kropotkin, Lenin, Brecht, Allan Kaprow, Charlie Parker, das I Ging, William Baziotes und der noch nicht ins Deutsche übersetzte Zeitgenosse John Donnes Thomas Traherne, Aleister Crowley, Mao Tse-tung, Wilhelm Reich und der Revolution verschriebene Künstler wie Jerome Rothenberg, Jean Duvignaud, Jean-Jacques Lebel, Ernst Fischer, Ed Sanders, Genet, Georges Lapassade, Guy Debord – all das ist das von Beck zitierte Hinterland seiner Arbeit.
Bei einer Diskussionsveranstaltung in der Berliner Akademie der Künste 2006 bemerkte der Theaterleiter und Kurator Matthias Lilienthal, dass ein Grund für den anhaltend lebendigen Mythos des Living Theatre sicher der sei, dass jeder alles in dessen Arbeit hineinprojizieren könne. Die vielen Einflüsse, die in Becks Notizen sichtbar werden, zeigen, dass dieser Eindruck nicht grundlos ist, da Julian Beck über Jahrzehnte hinweg im Modus der konstanten Suche gelebt hat. Wie ein Feldforscher kartografierte er die Formen der Ausgrenzung und sammelte die herrschenden Stereotype, um sie umzudeuten. Bis zur letzten Buchseite spürt Julian Beck dem „Vaterkomplex“ der eigenen Homosexualität nach, den Klischees über „das fahrende Volk“ und Aporien der eigenen Bürgerlichkeit oder der Rolle der Kunst im bürgerlichen Gesellschaftszusammenhang: „irgendetwas ist schief / wenn picassos gemälde und schönbergs musik / auf den wappen der macht elite prangen / rockefeller sammelt de kooning / in der wall street wird allen ginsberg gelesen / jacqueline kennedy verehrt manet / sie nehmen alles weg.“
Positivität und nonfictional acting
Diese letzte Bemerkung – „sie nehmen alles weg“ – ist vielleicht die berührendste im ganzen Buch. Was soll man dagegen tun? Ich bin älter geworden mit der Selbstverständlichkeit, dass progressives Theater aufklärt, ernüchtert, ironisiert, Distanz lehrt. Und nun erinnern mich die Notizen von Julian Beck an die Option einer anderen Art von „Fortschritt“, an ein anderes Konzept von Wachstum, das wieder zusammenwachsen lässt, was der westliche Fortschritt durchtrennt hat. Und vielleicht wirken viele der Notizen von Julian Beck auch deshalb so frisch, weil sie vor allem Fragen sammeln – zum Teil tatsächlich in Listen, zum Teil aber auch als offene Denkimpulse inmitten längerer Argumentationen. „Das Theater macht Angst“, schreibt Beck 1969 in Italien, „weil es sich mit Geheimnissen und geheimen Fragen befasst. Seit Jahrhunderten fragt das Theater: wer sind wir woher kommen wir wohin gehen wir. Jetzt fragt es: was ist los wohin geht das was tun was stelle ich mit meinem einzigartigen Leben an in diesem Moment, wenn der kollektive Genius der Menschheit die Frage beantworten muss: Wie kann unser Planet überleben?“
Die Corona-Krise, der Bambusvorhang des neuen Kalten KI-Krieges, den die neue Weltmacht China baut, macht diese Frage nach dem Überleben unseres Planeten umso dringlicher. Julian Becks Notizen sind Teil eines neu erwachenden planetarischen Bewusstseins, das fast zeitgleich auch von Denkerinnen wie Donna Haraway und Lynn Margulis vorbereitet wurde, von James Lovelock oder Bruno Latour und dem ganzheitlichen Wissen der Indigenen. Daher wirkt nach all den Jahrzehnten Das Theater leben wie ein Reisebuch ins Post-Anthropozän, das Antworten auf die Frage, wie unser Planet überleben kann, absichtlich an den Rändern des westlichen Lebensmodells gesucht hat. Die vor mehr als fünfzig Jahren gestellte Frage macht das alte Wende-Buch eines wilden Theatermannes plötzlich wieder brisant. Werke wie Paradise Now schufen positive Szenarien der sozialen Einmischung, deren solidarischer Geist das Gegenteil vom Ellenbogengeist der kapitalistischen Gesellschaften bezeugt.
Hat den Ostdeutschen, fragte mich neulich wohlmeinend ein westdeutscher Journalist, nach 1989 nicht einfach nur ein bisschen der Ellenbogen gefehlt? Dagegen, scheint mir, hat Julian Beck nach szenischen Strategien der Empathie gesucht und Theaterformen entwickelt, die Gefühle der Isolation und Ohnmacht im Erlebnis der Aufführung selbst zu überwinden erlauben. Das führte zu der herausfordernden Idee, eine Praxis des „nonfictional acting“ zu kreieren – also eine Spielweise, die nicht darauf beruht, Figuren und die für sie erfundenen Geschichten darzustellen, sondern sich eher an Strukturen des Rituals und der Zeremonie zu orientieren.
Seltsamerweise verbindet sich der Begriff der Handlung im Theater ja ausgerechnet mit einer Form von Theater, das wie eine Maschine gebaut ist. In ihr führt eins zum anderen, immer voran, weitestgehend berechenbar dem Ende entgegen. Die Handlung ist in diesem Theater der Guckkästen und Fiktionen eine logische