Verraten und verkauft. Ralph Kretschmann

Verraten und verkauft - Ralph Kretschmann


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sie, den Schritt weit zu öffnen. Dann nahm er eine Art Eisenring aus dem Wust, an dem zwei etwas kleinere Schellen angeschweißt waren. Er wickelte Stoffstreifen um ihre Handgelenke, bevor er die Schellen um ihre Gelenke schloss. Schließlich öffnete er ihr den Mund und drückte einen Gummiball in ihre Mundhöhle. Er band einen Streifen Stoff um ihren Mund, damit sie den Knebel nicht wieder ausspucken konnte.

      Dann erhitzte er mehr Wasser und holte aus einer Tasche, die er in einer der nicht einsehbaren Nischen des Gewölbes deponiert hatte, ein Färbemittel. Er musste die genaue Menge schätzen, die nötig war, um den Farbton wiederherzustellen, den ihre Haare ursprünglich gehabt hatten. Haar anfeuchten, Färbemittel auftragen, einwirken lassen und auswaschen. Er hielt ihren Kopf behutsam fest, achtete darauf, dass nichts von dem Mittel in ihr Gesicht oder die Augen geriet. Er trocknete ihr Haar und bürstete es, bis es locker und feucht durch seine Finger glitt.

      Da lag sie. Nackt und in Ketten. Ein Frösteln lief dem Mann über den Rücken. Er hob die gefesselte Frau hoch und trug sie zu dem Freiraum vor dem Ofen. Von der Decke hingen einige Ketten herunter, mit denen die schweren Eisenteile des Ofens bewegt werden konnten, wenn eine Reparatur anstand. Ein paar davon liefen über Rollen und Züge an der Decke entlang. Zielsicher wählte der Mann eine davon aus und ließ sie herunter. Mit einem Karabinerhaken klinkte er das Ende der Kette in den eisernen Ring der Handfessel. Mit festen Bewegungen zog er die Kette an. Sie ratterte über die Rollen und langsam wurde der schlaffe Körper der jungen Frau hochgezogen, bis sie eine Handbreit über dem Boden baumelte. Ihr Kopf war ihr auf die Brust gesunken. Langsam drehte sie sich an ihrer Kette, direkt vor seinen Augen. Er trat an den hängenden Körper heran. Wie gut sie duftete! Er schloss die Augen und näherte sich ihrer Haut, atmete ihren Geruch ein: teure Öle, Pflege für ihre kostbare Haut. Obwohl er sie gründlich gewaschen hatte, konnte er noch ihr Parfum riechen.

      Abrupt richtete er sich auf. Ein wildes Knurren entfuhr ihm. Er schüttelte sich, und eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Er krümmte sich zusammen. Der Schmerz war bohrend, zog sich durch seine Eingeweide und brannte in seiner Brust. Er hustete trocken. Sein Atem ging stockend, und er presste die Fäuste gegen den schmerzenden Leib. Langsam richtete er sich auf. Es tat weh. Wie mit Rasierklingen schnitt der Schmerz durch seinen Körper. Es war ein wohlbekannter Schmerz, und er wusste, wie er ihn unter Kontrolle bekam. Er atmete tief ein, trotz der Stiche hinter den gepeinigten Lippen. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Schmerz, lokalisierte ihn. Er musste die Schmerzen annehmen, sie zulassen und sich in ihnen auflösen, dann würden sie ihn nicht mehr beherrschen, sondern er würde den Schmerz beherrschen, ihn nutzen, zu seinem Gehilfen machen.

      Der Mann zwang sich, langsam ein- und wieder auszuatmen. Einatmen, ausatmen, regelmäßig, langsam und bedächtig. Das Gefühl trat in den Hintergrund, und seine Gedanken wurden klar.

      Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Die tiefen Falten und Narben in seinem zerstörten Gesicht waren noch eine Schattierung dunkler geworden. In der Tasche der Jacke, die er auf der Werkbank abgelegt hatte, befand sich ein Fläschchen mit Tabletten. Er nahm zwei davon mit einem Glas Wasser. In der Brusttasche bewahrte er seine Uhr auf. Er bevorzugte Taschenuhren. Ein Druck auf die Krone ließ den Deckel aufspringen. Er hatte noch mehr als genug Zeit. Das Betäubungsmittel wirkte noch für mindestens vier Stunden.

      Er goss neues Wasser in sein Glas und lehnte sich an die Werkbank.

      Wie schön sie war! Ihr Körper hatte aufgehört, sich zu drehen. Schlank und elegant hing sie an der Kette von der Decke, wie eine schwebende Statuette. Sie hatte sich immer gut gepflegt. Feste Muskeln unter makelloser Haut. Sie hatte es sich auch leisten können. Geld hatte für sie nie eine Rolle gespielt. Er betrachtete die sanften Kurven ihrer Hüften, den Schwung ihrer Brüste und den Schwall feuchten, braunen Haares, der darüber fiel. Er gähnte. Noch vier Stunden, bis sie wieder zu Bewusstsein kommen würde. Er schob die Jacke ans Ende der Bank und räumte die darauf liegenden Werkzeuge beiseite. Er legte sich so, dass er den hängenden Körper im Blick hatte. Er hatte gelernt, auf Kommando zu schlafen. Er schloss die Augen und schlief fast sofort ein.

      Bevor sein Geist abdriftete, musste er an die Frau in der Boutique denken, und ein Lächeln spielte um seine Lippen. Die Narbe eines Schnittes, die quer über den Mund lief, entstellte das Lächeln zu einer schon fast teuflisch wirkenden Grimasse.

      »Gelb?«, fragte Detective Maurer ungläubig.

      »Gelb!«, bestätigte die Zeugin, heftig nickend. »Gelb wie ein Kanarienvogel! Ein quietschgelber Volkswagenbus. Aber nicht, dass sie jetzt an so ein Hippieauto denken! Nein, nein, der Wagen war neu! Und das war eine Sonderlackierung, da bin ich mir sicher.«

      »Sie kennen sich mit so etwas aus?« Maurer beschloss in diesem Moment, sich von gar nichts mehr überraschen zu lassen. Die Frau machte nicht den Eindruck, als kenne sie sich mit Autotuning aus. Rund und adrett saß sie da vor ihm, das Bild einer gestandenen gutsituierten Dame der mittelreichen Gesellschaft. Die Geschichte, die sie ihm erzählte, passte überhaupt nicht zu ihrem Äußeren.

      »Mein Sohn liebt es, mir von seinem Bus zu berichten und was er grade wieder damit vorhat. Er plant dauernd neue Umbauten oder Verbesserungen!«, sagte sie entschuldigend.

      Maurer hatte während der ganzen Zeit der Aussage der Frau auf einem Stuhl gesessen, genau ihr gegenüber. Jetzt stand er auf, schob den Stuhl beiseite und begann, im Raum herumzulaufen.

      »Ich fasse noch mal zusammen, was sie mir da grade berichtet haben«, sagte er mehr zu sich selbst als zu den beiden anderen Personen im Raum, der Zeugin und der Assistentin, die ihm vom Kommissariat aufs Auge gedrückt worden war.

      »Etwa um elf Uhr heute Vormittag kam eine langjährige Kundin, um neue Kleider zu kaufen. Sie kennen die Dame schon lang und wissen mit Sicherheit, dass es sich um Mrs. Roberta Stone handelt, die Frau von Alexander Stone, dem Verleger.«

      Die Dame nickte zustimmend, aber Maurer nahm das nicht wahr. Er starrte auf den Boden, lief ruhelos umher und rekapitulierte weiter:

      »Mrs. Stone hatte sich eben das zweite Kleid zeigen lassen, als ein knallgelber Volkswagenbus auf den Gehweg fuhr und den Eingang versperrte. Ein Mann war aus der offenstehenden Seitentür in den Laden gestiegen, in jeder Hand eine Schusswaffe. Er ist zu ihnen herübergekommen, hat mit der einen Waffe die Vitrine zerschossen und mit der anderen auf Mrs. Stone, die daraufhin umfiel. Dann hat der Mann sie in den VW-Bus getragen und ist fortgefahren. Ist das so richtig?«

      Maurer war stehengeblieben und sah zu seiner Zeugin hinüber.

      »Ja, schon …«, antwortete sie zögerlich, »Aber es war viel, viel unwirklicher, als es sich anhört, wenn sie es so erzählen. Wissen Sie, es war schon seltsam, wie er hereinkam …«

      Maurer legte den Kopf schief. »Ja, fahren Sie fort …«, ermunterte er die Zeugin.

      »Er kam so … so langsam herein, ganz ohne Eile, als wenn er alle Zeit der Welt hätte. Er kam zu uns herüber und musterte uns eine ganze Weile. Mrs. Stone war ziemlich ungehalten und hat ihn noch angegiftet. Dann hat er ganz langsam die Waffe gehoben und auf die Glasvitrine geschossen. Das hat uns so erschreckt, dass wir wie erstarrt waren. Hier wird nicht oft geschossen, wissen Sie. Und dann hat er, auch ganz langsam, auf die arme Mrs. Stone mit der anderen Waffe geschossen. Auch als er sie dann verschleppte, hat er sich Zeit gelassen, dabei schrillten doch schon die Sirenen wegen der zerstörten Vitrine.«

      Die Frau schüttelte den Kopf. »Vielleicht hatte er Drogen genommen«, mutmaßte sie. »Ich kannte mal eine Frau, die sich ähnlich benahm, wenn sie ihre Tranquilizer genommen hatte.«

      Maurer bezweifelte, dass das der Grund war, hütete sich aber, das zu erwähnen, um den sonst folgenden Redeschwall zu vermeiden. Die Dame redete gern und viel, und Maurer versprach sich nicht mehr viel an neuen Informationen.

      Er dankte der Zeugin und komplimentierte sie hinaus. Die ganze Sache verwirrte ihn. Nichts entsprach dem Lehrbuch. Was sollte er davon halten? Er lehnte sich an die Wand und sah zu seiner Assistentin hinüber. Die Polizistin entsprach auch in keiner Weise seiner Vorstellung einer tüchtigen Beamtin. Die junge Frau hatte unübersehbar afrikanische


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