Verraten und verkauft. Ralph Kretschmann

Verraten und verkauft - Ralph Kretschmann


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gemacht haben, denn sonst würde sie jetzt nicht hier hängen. Die Kerze war zu einem Stummel von höchstens noch einem Zoll zusammengeschmolzen. Wenn sie abgebrannt war, kam er wieder zurück, der Vernarbte. Vielleicht nahm er ihr ja den Knebel aus dem Mund; dann würde sie ihm Fragen stellen können. Sie musste wissen, wer er war und weshalb er ihr das hier antat. Wie sonst sollte sie eine Strategie entwickeln? Wie sollte sie bekämpfen, was sie nicht kannte?

      Vielleicht konnte sie ihre weiblichen Reize einsetzen. Noch jeder Mann war darauf hereingefallen. Bobby hatte sie alle genommen. Ihr war es egal, wer da in ihr steckte. Sie hatte mit jedem ihren Spaß, denn ihr Sex fand in ihrem Kopf statt. Ihr Fetisch war Macht, ihre Geilheit hieß Herrschen. Das machte sie an! Selbst in ihrer aussichtslosen Situation fühlte sie, wie sich ihr Unterleib zusammenzog bei dem Gedanken.

      Sie war bereit alles zu tun, um zu überleben. Hinterher konnte man dann sehen und Rache nehmen, falls das nötig sein sollte. Sie würde überleben! Roberta Stone, Survivoress.

      Der Mann regulierte die Flamme des Schneidbrenners nach, um die Flamme auf optimaler Schneidleistung zu halten. Wieder und wieder fraß sich die heiße Flamme aus Sauerstoff und Acetylengas durch das Metall des Volkswagenbusses. Deutsche Wertarbeit – das ließ sich nicht so eben mal nebenbei zerlegen!

      Er hatte viel gelernt beim Militär. Vive la Légion! Mit dem Schneidbrenner machte ihm kaum jemand etwas vor. Routiniert zerteilte er den Wagen, erst die Bleche, dann die Aufbauten, Getriebe, Motorblock, Achsen. Die Halle, in der er arbeitete, stand unten am Hafen und war zu einer Seite hin offen. Der Mann schweißte, schraubte, und nach gut zwei Stunden war von dem gelben Bus nichts mehr übrig außer einem Foto, das der Mann vorher mit einer Polaroidkamera gemacht hatte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ignorierte die Schmerzen, die in seinen Eingeweiden wüteten.

      Alle Autoteile, die verräterisch hätten sein können, hatte er im Hudson versenkt, die anderen in der ganzen Halle verteilt. Schließlich schob er das Schweißgeschirr in eine Ecke, warf einen alten, zerschlissenen Sack darüber und lehnte einige alte Bretter davor.

      Der Mann warf einen letzten Blick in die leere Halle. Der Bus war verschwunden, und er hatte seine Spuren verwischt – bis auf diejenigen, die er absichtlich für die Polizei hier gelassen hatte. Aber nur, wer wusste, dass er suchen musste, würde auf die Idee kommen, hier nach irgendetwas zu stöbern. Niemand würde hier nach irgendetwas suchen. Er drehte sich um und machte sich auf den Weg. Noch rund zwanzig Minuten. Dann würde die Kerze heruntergebrannt sein, und er musste zurück sein bei seiner Gefangenen. Im Laufen zog er einen Umschlag aus der Innentasche seiner schwarzen Jacke und steckte das Foto hinein. Er leckte den Kleberand an, verschloss den Umschlag, auf dem schon Marken in Höhe des nötigen Portos klebten, und warf ihn am nächsten Briefkasten ein.

      Er lief gleichmäßig, militärisch präzise. Er würde es schaffen. Er würde rechtzeitig vor dem Erlöschen der Kerze zurück sein. Über die große Kreuzung, dann zweite Straße links. Im Hinterhof der Wäscherei stand ein Schuppen; in dem Schuppen gab es eine Falltür, die zu einer Treppe führte. Er hastete die Treppe hinunter. Hier lagerte der Wäschereibesitzer seine Vorräte an Seifen und Stärke, und es roch frisch und rein.

      Der Mann lief quer durch den Raum voller Regale, öffnete eine Tür, ging in den Gang dahinter, der nach gut fünf Metern an einer Metallwand endete. Rostiges Eisen, faustgroße Nieten. Der Mann schob zwei von den dicken Halbkugeln hoch und drückte gegen die Eisenwand. Knarrend schwang sie nach hinten; er schlüpfte hindurch und schob die Wand sofort wieder an ihre alte Position zurück. Hörbar rasteten die Verschlüsse ein. Die Tür war wieder eine Wand. Der Mann lief weiter. Die Treppe führte mehrere Stockwerke in die Tiefe. Hier standen früher die riesigen Kessel einer Brauerei, tief im Untergrund von New York verborgen, und unterhalb dieser Katakomben zogen sich noch ältere und seltsamere Stollen entlang. Der Mann kannte den Weg gut. Er war ihn in den letzten Jahren oft gegangen, mal mit und mal ohne Licht. Er kannte sich hier blind aus. Er hatte noch ein paar weitere Abzweigungen und Tunnel vor sich, er musste auf die Zeit achten. Weiter durch die Gänge.

      Die letzte Tür. Er spähte hinein. Ein flackernder Schein. Die Kerze brannte noch. Der Schmerz in seinem Bauch hatte sich etwas gelegt, und der Mann atmete tief ein. Er legte seine Kleider am Eingang ab, und nur in seinen Hosen ging er leise um die Pfeiler herum, die ihm den direkten Blick bislang verwehrt hatten. Die Kerze blakte noch in den letzten Zügen ein paar Fetzen trüben Lichtes hervor, dann kippte der Docht in seiner Lache aus geschmolzenem Wachs um und erlosch. Die Dunkelheit währte nur einen Herzschlag lang, dann flammte eine Fackel auf. Er hatte alles vorbereitet. Vier Fackeln steckten in Wandhalterungen. Er ging mit der Fackel, die er in der Hand hielt, herum und entzündete die anderen der Reihe nach. In eine fünfte Halterung steckte er seine. Die fünf Fackeln ließen fünf lange Schatten der hängenden Roberta Stone über die Wände tanzen. Ihr Körper wurde von dem warmen Licht von allen Seiten ausgeleuchtet. Er konnte jede kleine Einzelheit erkennen: die perfekten Kurven ihrer Hüften, den Schwung ihrer festen Brüste und den nicht ganz symmetrischen Bogen, den ihre unteren Rippen beschrieben. Mit den Armen hoch über dem Kopf saßen ihre Brüste ein wenig zu hoch, aber das lag eben an ihrer Haltung. Ihr Haar fiel ihr an den Seiten herab … diese wunderschönen, braunen Locken, die im Sonnenlicht einen rötlichen Schimmer bekamen, die ihr als kleines Mädchen bis auf die Hüften gereicht hatten. Es gab da dieses Foto von ihrem neunten Geburtstag …

      Roberta konnte ihn nicht sehen, da wo er stand, und so sah sie nicht die Träne aus seinem Auge rollen. Sie fiel auf den Steinboden und verdunstete innerhalb von Sekunden. Es war mehr als warm in dem Kellergewölbe. Trotzdem ging der Mann zum Ofen und legte nach. Er schürte die Glut und trieb die Temperatur weiter in die Höhe. Ein leichter Schweißfilm bedeckte seinen Oberkörper.

      Er ging zu seiner Bank und trank von seinem mitgebrachten Wasservorrat. Dann nahm er den verbliebenen Schlüssel zur Hand. Die Tür hatte er sicher verriegelt. Er spannte den Schlüssel ein wie den ersten und feilte auch diesen herunter. Nun gab es keine Möglichkeit mehr, das Schloss zu öffnen. Wer immer hinaus oder herein wollte, würde die Tür aufbrechen müssen. Er trank noch einen tiefen Schluck. Seine Gefangene würde auch Durst haben, besonders nach den Drogen, und der Gummiball in ihrem Mund würde den Wunsch nach Wasser noch verstärken.

      Er wischte sich die Lippen trocken und trat zu seiner Gefangenen. Langsam ging er um sie herum. Sie nahm ihn schon aus dem Augenwinkel war. Er war groß, kein Riese, aber groß gewachsen. Breite Schultern. Das lange, graue Haar stand ihm nicht. Andererseits war das bei dem, was von seinem Gesicht noch übrig war, ziemlich egal. Sie folgte ihm mit ihrem Blick. Kraftvolle Bewegungen. Ein Raubtier, geschmeidige Bewegungen, eine Tätowierung auf dem Oberarm. Etwas Militärisches? Etwas vornüber gebeugt blieb er vor ihr stehen, als stemme er sich gegen etwas Unsichtbares. In ihrem Sex-Zirkel, den sie alle vierzehn Tage aufsuchte, hätte er sicherlich Interesse geweckt. Der Mann hatte etwas Wildes, Animalisches an sich, etwas Gefährliches. Roberta kannte den Typ Mann. Er hatte das Töten gelernt, und er hatte seinen Beruf ausgeübt. Sie konnte das erkennen. Der Mann vor ihr hatte schon getötet. Dazu musste sie keine Hellseherin sein. Die Narben hatte er sich nicht bei der Gartenarbeit zugezogen.

      Er sah sie an. Sie hing vor ihm, und sie war in seiner Gewalt. Endlich. Jetzt war es an ihm, dafür zu sorgen, dass Roberta Stone nie wieder jemandem Schaden zufügen würde.

      »Du tust mir leid«, sagte er tonlos.

      Roberta hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

      »Du bist ein verdammtes Miststück, eine Hure, eine Mörderin, Verleumderin, Lügnerin, Ehebrecherin, Verräterin, Betrügerin. Du bist so ziemlich das letzte Stück Dreck unter den Frauen dieser Welt, Roberta Emilia Lucia Stone, verwitwete Mrs. Fouley, geborene Osterman.«

      Er sagte das alles mit tiefer Traurigkeit, mit einem schmerzenden Bedauern in der Stimme, ohne auch nur den Anklang einer Anklage oder des Vorwurfs, aber mit einer gewissen Bitterkeit. Er sprach leise, aber sie hörte jedes Wort, als hätte er es herausgeschrien.

      Roberta schrak zusammen. Er wusste gut Bescheid. Ihren Geburtsnamen hatte sie selbst seit Jahren nicht mehr gehört. Sie hatte ihn nicht mehr hören wollen. Osterman. Eine kleine, mistige


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