Gregorsbriefe. Gregor Schorberger

Gregorsbriefe - Gregor Schorberger


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      Heute, am Nikolausabend, bin ich gespannt, Papa, womit Burkhard mich morgen überraschen wird. Jetzt werde ich mich erst einmal schlafen legen.

      Liebe Grüße

      Dein Sohn Gregor

      Brief über die Ordenszeit

       als Kleiner Bruder Jesu

      Benediktiner Abtei St. Matthias, Trier, 12. Dezember 2016

      Lieber Papa,

      gerade sang der Abt der Benediktinerabtei St. Matthias, Bruder Ignatius, zum Schluss des gemeinsamen Abendessens mit Brüdern und Gästen: »Gott, segne alle, die uns Gutes tun und schenke ihnen um Deines Namens Willen das ewige Leben. Amen.« Gerne schließe ich mich zu Beginn meines erneuten Aufenthaltes hier im Kloster der Bitte des Bruders Ignatius für Dich, Mama, Marlene, Christiane, Burkhard und alle uns Anvertrauten an.

      Bestimmt war es nicht leicht für Euch, mir an jenem frühen Dienstagmorgen des 1. September 1970 bei der Abfahrt des Zuges nach Paris auf dem Essener Hauptbahnhof nachzuwinken. Mein heftiges Winken aus dem Fenster sehe ich heute im Rückblick als Metapher, dass ihr mich trotz meines ernsthaften Entschlusses zur Nachfolge Jesu nicht loslassen konntet – und ich Euch auch nicht. Trotz meiner intensiven Vorbereitung auf das neue geistliche Leben in der kontemplativen Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu, trotz der Vorfreude, das Postulat jetzt im Spätsommer nach dem gerade bestandenen Abitur beginnen zu können, trotz Deiner Versicherung: »Wir freuen uns, dass Du Dich glücklich fühlst mit Deiner Berufung«, fragte ich mich, ob ich es letztlich schaffen würde, dem Lied von Edith Piaf »Non, je regrette rien« entsprechend, alles hinter mir zu lassen, alles Anvertraute wegzufegen, um am Punkt Null mit Jesus Christus im Orden ganz neu zu beginnen.

      In St. Rémy stellte ich fest, dass ich als Postulant nur ein Viertel des Gepäcks benötigte. Der äußerst feinfühlige, und sympathische geistliche Leiter des Postulats, Bruder Dominique, empfing mich, ohne eine Bemerkung zu meinen vielen Koffern zu machen, herzlich am nächtlichen Bahnsteig der kleinen Stadt Montbard. In seiner großen, leicht von Krankheit nach vorn gebeugten, mageren Gestalt, gehüllt in einen billigen Lodenmantel und mit ausgetretenen Schuhen, glich Bruder Dominique eher einem müden Fabrikarbeiter als einem Ordensmann. Allein seine großen, leuchtend dunkelbraunen Augen, die Menschenfreundlichkeit, Weisheit, Hoffnung und Wärme ausstrahlten, verrieten mir einen lebenserfahrenen, spirituellen, interessierten Menschen, dem anzuvertrauen sich lohnte. Bruder Dominique war der leibliche Bruder des Ordensgründers René Voillaume.

      Kaputt und müde fiel ich in dieser ersten Nacht in St. Rémy ins Bett. An Schlaf war nicht zu denken, da ich ständig die am Klostergebäude vorbei donnernden Züge hörte. In kurzen Albträumen sah ich mich vergeblich mein schweres Gepäck von einem Bahnhof zum anderen schleppen, um dann am Bahnsteig dem letzten Waggon des abfahrenden Zuges ohnmächtig nachzuschauen. Am Morgen beim kargen Frühstück, Baguette und Butter, fragte mich Bruder Dominique, ob ich gut geschlafen hätte, was ich natürlich nicht bestätigen konnte. Auf meine Gegenfrage, ob er gut geschlafen hätte, erfuhr ich, dass er wegen seines Asthmaleidens kaum schlafen konnte. Das erklärte sein hageres Aussehen und sein Fehlen um 5.20 Uhr bei der Laudes, dem Morgengebet der Mönche.

      Nach drei Tagen St. Rémy, in denen ich gerade einmal die anderen sieben Postulanten, vier Franzosen, zwei Spanier und ein Amerikaner, ein wenig kennengelernt hatte, war ich wieder auf Reisen, um auf Empfehlung von Bruder Dominique in Besançon Französisch zu lernen, hatte ich doch am Abendgymnasium nur Latein und Griechisch als Sprachen. Papa, ich war in St. Rémy angekommen, um wieder zu gehen – auch eine bedeutungsvolle Erfahrung, die, wie Du weißt, mich mein Leben lang begleiten sollte und letztlich erst mit Beginn meiner Liebesbeziehung zu Burkhard im Sommer 1992 endete.

      Die Sprachschule, das »Centre Linguistique de Besançon«, ein Ableger der Universität, lag inmitten dieses malerischen, baulich total heruntergekommenen, morbiden Städtchens, das vom Fluss Doubs wie eine Halbinsel umgeben war. Über den vielen alten Häusern, Villen und Palästen mit bunten, formschönen Dachziegeln erhob sich auf dem vor der Altstadt liegenden Berg Mont Saint Étienne »La Citadelle«, ein großer Militärstützpunkt aus der Zeit Napoleons. In der katholisch dominierten Stadt ragte die Kathedrale Saint Jean über die kleinen Gassen mit ihren grünen Baumoasen und vielen kleinen barocken Brunnen hinaus. Weiterhin gab es schon damals Fußgängerzonen entlang kleiner Geschäfte, Bäckereien und Cafés, kleine Parkanlagen und Uferwanderwege, die ich in den ersten Tagen als einsamer Fremder und nachdenklicher junger Mann von 23 Jahren entlangging. Direkt neben dem imponierenden barocken Krankenhausgelände Hôpital Saint Jacques lag die Kirche Saint Pierre, eine ebenso barocke wie halb verfallene, dunkle, selten durch ein paar Sonnenstrahlen erhellte Kirche aus dem 18. Jahrhundert. Ich suchte sie täglich für meine Anbetungsstunde auf. Alles, einschließlich meiner Unterkunft in dem übergroßen leeren Priesterseminar »Le Grand Seminaire de Besançon« in der Rue Mégevand, entsprach meiner traurigen Gemütsverfassung: wehmütig über den Verlust der Familie, den Verlust der Karnaper Heimat und den gerade kurz zuvor erfahrenen Verlust der Brüdergemeinschaft in St. Rémy.

      Allein die klagende Stimme Edith Piafs aus einem sozialistisch angehauchten Kellerlokal gleich schräg dem Priesterseminar gegenüber zog mich am 5. September 1970, dem ersten Samstagabend in Besançon, wie ein Magnet an. Hier, inmitten eines Arbeitermilieus, hielt ich mich gerne auf, um ein Käsebaguette mit einem Glas Rotwein zu mir zu nehmen. Nur zwei Menschen, den freundlichen Pförtner, der drei Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen war, und den libanesischen Medizinstudenten Antoine, lernte ich anfänglich in dem großen Priesterseminar kennen. Antoine half mir bei kleinen Reparaturen in meinem kargen Zimmer mit äußerst trockenem Dielenholzbodengeruch. Obgleich Antoine eine größere Nähe zu mir suchte, blieb ich als junger Postulant instinktiv distanziert. Gerne aber nahm ich seine Einladung an, mit ihm und seinen arabischen Freunden zum gemeinsamen Mittagessen in die Mensa der Sprachschule zu gehen.

      Mit Schulbeginn am »Centre Linguistique de Besançon« traf sich nach drei Stunden Sprachlabor unsere kleine internationale Gruppe täglich zum Mittag am eigenen Mensatisch. Neben der Ordensschwester Elisabeth war ich der einzige Deutsche unter Finnen, Japanern und Arabern. Obgleich wir uns nur mit Gestik, Mimik und ersten französischen Worten verständigten, begann schon nicht nur zu Elisabeth, sondern auch zu Kamal aus Libyen und zu Tunichi aus Japan eine Freundschaft. Völlig erschöpft vom vielen Sprachunterricht traf ich mich dennoch am Abend mit Kamal und Tunichi zum Weiterlernen. Elisabeth arbeitete im Hôpital St. Jaques und wohnte im Konvent der »Weißen Schwestern« am Bergabhang. Sie lud uns drei Freunde öfter zum Kaffeenachmittag in ihren Konvent ein. In Erinnerung an meine Kindergartenschwester Hanna in Essen-Karnap und an die Krankenschwester Zita vom Sonntagsdienst im St. Josef-Hospital in Gelsenkirchen-Horst traf ich in Elisabeth die dritte sympathische, vorbildliche, freundschaftliche Ordensfrau an.

      Gleich am ersten Schultag saß ich drei Reihen hinter Kamal in meiner Sprachbox. Sein attraktives orientalisches Aussehen lenkte mich immer wieder von der Wiederholung französischer Alltagsredewendungen ab. Die Sprachsentenzen rasselten bewusst-unbewusst in mein Ohr – besonders dann, wenn Kamal sich mit einem fragenden Blick zu mir umschaute. Es brauchte keine Worte, um zu spüren, dass zwischen uns der Funke einer gegenseitigen Zuneigung entstanden war. Kamal, von großer schlanker Gestalt, mit schwarzen Locken, edlen Gesichtszügen und gutmütigem Blick, war aus Libyen zum Philosophiestudium nach Paris gekommen.

      Bei wunderschönen Spaziergängen mit ihm entlang der herbstlichen Ufer des Doubs erholten wir uns von den Anstrengungen der Schule. Gemeinsam bestaunten wir die Fluss-, Menschen- und Häuserlandschaften. An den Abenden trafen wir uns öfter mit unserem japanischen Kursfreund Tunichi zu gemeinsamen Schulaufgaben im Priesterseminar. Auf Einladung von Elisabeth fuhren wir am letzten Septemberwochenende nach Taizé zu einer ökumenischen Kommunität. Elisabeth hatte ein Auto organisiert und fuhr mit einem polnischen Priester, Kamal und mir über Lyon zuerst nach Tournus, der Stadt mit der beschaulichen frühromanischen Kirche aus dem ersten Jahrtausend nach Christus. An diesem Ort nahe Taizé bezogen wir vier Pilger eine kleine Pension. In Taizé waren wir vom meditativen Gesang der christlichen Mönche berauscht. Die Mehrheit von ihnen war evangelischer Konfession, doch auch katholische und orthodoxe Mitbrüder gehörten zu ihrem Konvent. Vor der Abreise aus Taizé, diesem segensreichen Ort der


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