Gregorsbriefe. Gregor Schorberger

Gregorsbriefe - Gregor Schorberger


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damit die Welt glaube«, in den wir summend einstimmten. Mit den zahlreichen Jugendlichen aus aller Welt, aus allen Religionen und Weltanschauungen konnten wir vier Pilger in Taizé, diesem Ort des Friedens, der Versöhnung und der Kraft, an unsere eigenen Energien und Ressourcen kommen.

      Diese Kraft brauchten Kamal und ich besonders in den nächsten Wochen. Denn noch am Abend unserer Rückkehr bekam Kamal so starke Schmerzen in der Seite, dass wir sofort ins Krankenhaus gingen. Nach einer ersten Diagnose wollten die Ärzte Kamal gleich stationär aufnehmen, jedoch bekam er eine solche Angst vor der fremden, nach Äther riechenden Atmosphäre des alten Krankenhauses, dass er es fluchtartig verließ. Die Stationsschwester nahm mein Erschrecken und meine Ohnmacht über Kamals Verhalten sowie meine Tränen wahr und gab mir ein Päckchen schmerzlindernder Tabletten für ihn mit. Auf der Straße trafen wir uns wieder und gingen gemeinsam durch den Hintereingang in mein Zimmer des Priesterseminars. Schon seit einigen Tagen wohnte und schlief Kamal illegal bei mir im Priesterseminar, da ihm aus Geldmangel sein Zimmer gekündigt worden war. Ich bat den Direktor des Priesterseminars aufgrund seiner aktuellen Notlage, Kamal für einige Zeit eines der vielen leerstehenden Zimmer zur Verfügung zu stellen. Trotz all meiner Argumente, Kamals soziale Absicherung, Studienplatz, die Aufenthaltsgenehmigung und finanzielle Unterstützung meiner Familie aus Essen, lehnte der Leiter des Priesterseminars meine Bitte ab. Auch als ich letztlich den Direktor um der Barmherzigkeit Christi willen bat, eine Ausnahme zu machen, blieb der Priester hart. Ich ärgerte mich nachträglich, den Direktor gefragt zu haben, da wir ja schon einige Tage im Zimmer zusammengewohnt hatten. Euch schrieb ich damals, »dass es mir nicht schwerfällt, mit Kamal zusammen zu schlafen, da er einen guten Charakter hat und ich mir selbst die Erlaubnis gab, angesichts der ›christlichen Torheit der Liebe‹ laut Jesu ›Froher Botschaft‹ Gesetze zu umgehen.«

      Dank der Härte des Seminardirektors kamen Kamal und ich uns noch näher, indem wir zusammen in einem schmalen, durchgelegenen Bett schliefen. Ich genoss natürlich seine körperliche Nähe, da wir nicht, wie Elisabeth vermutete, wie Bretter nebeneinander schliefen. Allein die zärtliche Berührung seiner Füße glich einer Liebkosung, die ich gerne entgegennahm. Mehr an körperlicher Nähe ließ ich nicht zu, da ich doch mit Eintritt in den Orden das Gelübde der Keuschheit versprochen hatte. Interessanterweise hatte ich seit dem Ordenseintritt keine sexuellen Fantasien mehr, wie sie noch zu Hause gang und gäbe waren. Statt die erotische genoss ich in dieser Zeit die caritative Liebe zu leben. Mama schrieb einmal in einem ihrer Briefe, dass das schlimmste für mich war, wenn man mir das Helfen verweigerte. Ja, so war es.

      Für Kamal, der seit drei Monaten Schmerzen im Unterleib hatte, fand ich für seine Krankheit weitere Lösungswege. Da die Tabletten seine Schmerzen nur zeitweise linderten, holte ich den Medizinstudenten Antoine hinzu, der als genehmigter libanesischer Bewohner des Priesterseminars um unsere illegale Übernachtung wusste. Er vermittelte auf Arabisch Kamal schließlich die Notwendigkeit einer stationären Behandlung. Gleichzeitig sorgte Elisabeth, die im Hospital arbeitete, für einen kostenlosen Krankenhausaufenthalt. Allein auf mein Versprechen hin, Kamal täglich im Krankenhaus zu besuchen, ließ er sich aufnehmen und am inzwischen entzündeten Blinddarm operieren. Glücklich nahm ich die Erlaubnis von Bruder Dominique auf, bei Kamal in Besançon auf der Station zu bleiben, entgegen der Vereinbarung, vierzehntägig das Wochenende im Kloster St. Rémy zu verbringen. Zuspruch, feuchte Umschläge und die Bitte um schmerzlindernde Tabletten ließen mich stundenlang an Kamals Krankenbett bleiben. Auf die Idee, ein Placebo-Präparat von dem behandelnden Arzt zu erbitten, wie Du, Papa, es mir als fünfzehnjährigem Patienten damals täglich im St. Josef-Krankenhaus wohltuend hast zukommen lassen, was aus heutiger Sicht Kamals Schmerzen nochmals erheblich erleichtert hätte, bin ich leider nicht gekommen. Letztlich stärkte gutes Essen aus Deinen und Mamas Paketen seine Heilung. Mama schenkte Kamal eines ihrer Emaille-Medaillons. Eure finanzielle Unterstützung hinsichtlich der wirtschaftlichen Notlage Kamals und vor allem Eure herzliche Einladung an ihn, nach Essen zu kommen, förderten darüber hinaus erheblich den Gesundungsprozess, sodass er nach acht Tagen aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Mit Tunichi stand Kamal am 14. November 1970 bei meiner endgültigen Abreise von Besançon ins Postulat nach St. Rémy frühmorgens am Bahnsteig. Die herzliche Umarmung und Küsse zeigten uns beiden noch einmal die entstandene innige, unzertrennliche Freundschaft.

      Im letzten Waggon des Zuges auf Besançon und seine Umgebung zurückblickend, half mir in meiner Trauer ein wenig die Zeile »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und hilft zu leben« aus dem Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse, das Marlene mir in ihrem letzten Brief nach Besançon beigelegt hatte. Angesichts des traurigen Abschieds von Kamal, den Freund*innen und zehn Wochen Besançon schrieb Christiane mir: »Wisse, dass wir im Zug bei Dir sitzen!«

      Zwar äußerlich Mitte November 1970 im Postulat von St. Rémy angekommen, blieb ich innerlich noch ganz mit meiner zweiten Heimat Besançon verbunden. Allein das heiligmäßige Vorbild von Bruder Dominique ließ mich nicht an meiner Liebe zu Jesus in Gebet, Meditation, Anbetung und geistlicher Betrachtung zweifeln. Dominique bestärkte meinen Entschluss, hier am Ort die Nachfolge Jesu zu leben. Ich hatte Angst davor, die tägliche stille Anbetung von anderthalb Stunden wegen Kreislaufversagens nicht durchhalten zu können. Erstaunlicherweise verspürte ich in dieser Zeit in der Kapelle eine spirituelle Kraft: einerseits für den harten Alltag des Postulates, und andererseits fühlte ich mich mit allen mir anvertrauten Menschen, insbesondere den am Rande der Gesellschaft stehenden Armen, Verlassenen, Kranken, Arbeitern, Ungläubigen und Hoffnungslosen, verbunden.

      Mit Bruder Dominique verstand ich mich bestens, sowohl was meine persönliche Erfahrungswelt als auch was das Ordensleben, insbesondere das Postulat, anging. Erstaunlicherweise blieben mir meine sieben Mitpostulanten fremd, da ich mich trotz zweieinhalb Monaten Sprachstudiums nicht mit ihnen verständigen konnte. Lag es nur an ihrer schnell gesprochenen Sprache oder auch daran, dass sie kein Interesse an meinen Erlebnissen in Besançon, geschweige an meiner Herkunft hatten? Bestimmt hätte ich sie mit meiner Erwartung eines brüderlichen Zusammenseins überfordert, da jeder zu Beginn der Ordenszeit mit sich selbst zu kämpfen hatte.

      Neben der hilfreichen Anleitung zum Ordensleben sorgte sich Bruder Dominique um Kamal, ganz so wie Du, Papa, in Deinen Briefen. Er schlug vor, nachdem er von Deiner vergeblichen Geldüberweisung an Kamal hörte, das Geld an einen für die Araberseelsorge beauftragten Priester in Besançon zu schicken, bei dem Kamal dann nicht nur Eure finanzielle Unterstützung hätte abholen können, sondern auch seelische und soziale Begleitung erhalten hätte. Er war aber auch damit einverstanden, dass Ihr mir das Geld ins Kloster schickt. Dominique wollte, dass ich zu Weihnachten einen anderen deutschen Bruder namens Ludwig in Annemasse bei Genf für einige Tage kennenlernte. Bei dieser denkwürdigen Reise am Jahresende über Besançon hätte ich dann Gelegenheit gehabt, Euer Geld Kamal zu seiner Unterstützung zu übergeben. Bei meiner Ankunft in Besançon am 30. Dezember 1970 stand Kamal auf dem Bahnsteig. Minutenlang hielten wir uns beide, den Tränen nahe, in den Armen. Es war ein berührendes, herzliches Wiedersehen und zugleich voller Wehmut, da wir beide ahnten, uns zum letzten Mal zu treffen. In einem dem Bahnhof nahegelegenen, uns vertrauten Café hatten wir uns so viel zu erzählen, dass wir gar nicht merkten, wie schnell die drei Stunden meines Zwischenaufenthaltes vergingen. Ich kam, um zu gehen. Entsprechend der Aussage der Kleinen Theresia von Lisieux: »Wir haben nur das Heute Gottes«, genossen Kamal und ich dennoch dankbar unser spontanes Zusammensein. Erstaunlicherweise war ich bei meiner Weiterfahrt nach Annemasse nicht so betrübt, da ich Kamal gesund, finanziell gestärkt und im Segen Gottes wusste.

      Bruder Ludwig erwartete mich am Bahnsteig, umarmte und küsste mich brüderlich, wie es bei den Franzosen üblich ist, und ich fühlte mich fast wie zu Hause. Bestand aus meiner heutigen Sicht in der Brüdergemeinschaft von St. Rémy eine überwiegend kalte »Männerwirtschaft«, so erfuhr ich in der Fraternität von Annemasse eine einfühlsame, warme Atmosphäre, in der mein Herz sofort aufging. Papa, Ludwig sah genauso aus wie Ottmar, Dein Krankenpfleger, den Du damals zu uns nach Hause eingeladen hattest. Ludwig hatte einen angenehmen, heiteren Charakter, lachte viel und war wie ein leiblicher Bruder um mich besorgt. Es tat mir unheimlich gut, nach drei Monaten mal wieder mit einem gleichaltrigen Bruder deutsch sprechen zu können.

      Wieder in St. Rémy, begann meine Ende November aufgenommene Arbeit als Anstreicher in einer kleinen Gruppe in Montbard. Gemäß der benediktinischen Ordensregel Ora


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