Eltern Stärken. Die Dialogische Haltung in Seminar und Beratung. Johannes Schopp
„Verstehen wollen“ ist, ist der erste Schritt in die richtige Richtung getan. Erkundende Fragen sind ein Schlüssel dazu.
Alle Eltern haben grundsätzlich den Wunsch und die Fähigkeit, alles möglichst „richtig“ zu machen. Sie alle wollen ihre Kinder „gut“ erziehen, unabhängig davon, ob sie aus vermeintlich pädagogischer Sicht „gute“ Eltern sind oder nicht. Sie alle werden in den Seminaren in ihrem Sein ernst- und angenommen.
Wer sich mit Beziehung, Lernen und Lehren beschäftigt, weiß, dass ständiges „Herumreiten“ auf Fehlern und Unzulänglichkeiten bzw. die Orientierung an so genanntem „idealen“ Modellverhalten nur in den seltensten Fällen die Motivation und Bereitschaft fördern, sich auf etwas Neues einzulassen oder sich gar „zu ändern“. Im Gegenteil: Der Dauerblick auf Schwächen behindert einen Lernzuwachs eher, als dass er nützt.
Auf unsere Kinder bezogen heißt das: Begleiten wir ihren manchmal unbeholfen wirkenden Wachstumsprozess auch mit seinen Misserfolgen respektvoll und wertschätzend oder abwertend und sanktionierend? Betrachten wir unsere [34] Kinder als bloßen Kostenfaktor, als „Störung“ unserer Entfaltungsmöglichkeiten, oder nehmen wir sie als Geschenk, als Bereicherung unseres Lebens und als Zukunftspotenzial auch der Gesellschaft wahr?
Fragen als Schlüssel zu den Stärken
Offene Fragen sind Ausdruck einer Suchhaltung. Die meisten Eltern kommen in der Regel mit einem Sack voller Fragen, die sie am liebsten möglichst einfach und klar – am besten aus berufenem Referenten-Munde – beantwortet haben möchten.
Wie erkenne ich, ob mein Kind sich richtig entwickelt?
Was soll ich machen? Unsere Jessica macht in letzter Zeit, was sie will.
Mein Sohn reagiert überhaupt nicht mehr. Mein Mann und ich können ihn nicht mehr erreichen. Was können wir tun?
Ich kriege meine beiden Kinder nicht vor dem Fernseher weg. Was meinen Sie, wie ich am besten vorgehen soll?
Unser Sohn Till ist in der Schule das letzte Halbjahr total abgesackt und fast nur noch mit einer Clique zusammen, die alle kiffen. Wie sollen wir ihn davon weg kriegen?
Ist man schon süchtig, wenn man jeden Abend drei Flaschen Bier trinkt? etc.
Ein sachkundiger Leiter hätte sicherlich spontan einige Antworten parat, die sich jedoch nicht selten als flüchtige Illusionen erweisen. Auch gut gemeinte und vermeintlich fundierte „schlaue“ Beiträge von Eltern und Seminarleitung verfehlen oft ihren Zweck. Vor allem aber werden die Fragenden durch einen solchen Informationsaustausch zunehmend passiver.
Als Dialogischer Begleiter weiß ich, dass der Such-Prozess für die Gruppe bzw. für Fragesteller beim Finden des eigenen „Schatzes“, der eigenen Stärken wichtiger ist als eine schnelle Lösung von außen. Auch wenn beispielsweise eine Mutter oder ein Vater bereits mögliche Antworten nennen, die diesen hilfreich sind, kann es sinnvoll sein, weitere Optionen mit Einzelnen oder der Gruppe herauszuarbeiten. Warum das? Die gefundene Lösung mag im Einzelfall für den Fragenden oder für andere in der Gruppe neue Perspektiven beispielhaft aufzeigen, anderen wiederum hilft diese „Lösung“ überhaupt nicht weiter. Das, was allen [35] langfristig im Alltag hilft, sind insbesondere eigene Gedanken und Selbstreflexion, sich selbst Fragen zu stellen.
„Es kommt mir oft vor, als wäre alles, was ich lerne und lese, erfunden. Was ich aber selber finde, das ist, als wäre es in Wahrheit schon immer dagewesen.”
Elias Canetti Der Sinn einer Frage liegt darin, dass keine Antwort parat liegt, sonst wäre die Frage eine verkappte Antwort. Eltern finden kein Gerüst und keine Vorgabe vor, woran sie sich festhalten könnten. Und wenn sie selbst ihre Antwort gefunden haben, müssen sie die Verantwortung dafür tragen. Es gibt auch nicht Lob oder Tadel, nicht ein: „Oh, das ist klasse!“ Jede Antwort ist richtig.
Aus der Antwort allein ergibt sich noch kein Handeln. Handeln ist wiederum ein Prozess, der neue Fragen und neue Antworten produziert und erfordert. Der Weg entsteht beim Gehen. Die Verantwortung wächst beim Handeln, da es um eine selbst gesteckte Aufgabe und damit um einen selbst definierten Weg geht und nicht um eine vordefinierte Botschaft, bei der ich denjenigen, die die Botschaft aufgestellt haben, das mögliche Scheitern in die Schuhe schieben kann.
Eltern bringen also ihr Thema bzw. ihre Problemstellung in die Gruppe ein. Als Dialogbegleiter lasse ich das Gesagte zunächst unkommentiert im Raum stehen oder wiederhole es lediglich. Oder ich bedanke mich bei der Mutter oder dem Vater für ihre persönliche Schilderung, wenn sie sich mit ihrem Beitrag besonders angreifbar gemacht haben. Ein Blick in den Kreis kann mir dann zeigen, ob und was die vorgetragenen Äußerungen bei den Einzelnen auslösen. Ich lasse mich als Dialogbegleiter aber in der Regel konsequent nicht dazu verleiten, vorschnelle Antworten zu geben. Ich öffne stattdessen den „Raum“ für die Fragestellungen der Teilnehmenden und lade die Anwesenden ein, sich am Lösungsprozess zu beteiligen. Mit anderen Worten, ich mache das individuelle Anliegen zum Thema für die geamte Gruppe.
Kennen andere im Raum etwas Ähnliches?
Kommt Ihnen das Problem bekannt vor?
Wenn ja, wie gehen Sie damit um?
Wie sind Sie in der entsprechenden Situation vorgegangen?
Welche Hilfe haben Sie sich geholt?
etc.
[36] Welche Art Fragen aber sind besonders geeignet, Potenziale, neue Gedanken für neue Lösungen bei den Eltern frei zu setzen bzw. vermitteln den Besuchern der Seminare, dass ihre eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen, Lebensziele auch tatsächlich im Mittelpunkt stehen? Die Fragen sollten weder stereotyp sein, noch die Antwort bereits mitliefern. Sie müssen in verständlicher Sprache formuliert und der jeweiligen Elterngruppe angepasst werden, und sie sollten die Neugier der Eltern wecken für die Suche nach Antworten. Das folgende Beispiel zeigt, wie man durch Fragen ungeahnte Ressourcen entdecken kann.
„Echtheit ist nur über die Absichtslosigkeit wirklich echt.“
Wilfried Reifarth Der oben genannte Vater, der beschrieb, dass sein Sohn Till in der Schule leistungsmäßig abgesackt sei und nur noch mit seinen Freunden „kiffe“, kann durch ressourcenorientierte Fragen seinen Blick erweitern. Er könnte durch entsprechende Fragen andere Seiten an Till entdecken und darauf stoßen, dass es an der Schule einige Lehrer gibt, die Till durchaus engagiert und aktiv erleben. Man könnte weiter gemeinsam erkunden, was das Besondere an dem Verhältnis zwischen den jeweiligen Lehrern und dem Schüler ausmacht und was der Vater eventuell für sein Verhältnis zu seinem Sohn daraus ableiten kann. Der festgefahrene väterliche Blick auf das Fehlverhalten des Sohnes wäre auch „aufzuweichen“, wenn er sich bei genauem Nachdenken klar machen würde, dass sein Junge z.B. einen guten „Draht“ zu seinem Patenonkel pflegt und dort grundsätzlich sehr hilfsbereit, also gar nicht so „zu“ und passiv wirkt, wie es der Vater ursprünglich als unumstößliche „Wahrheit“ beschrieb. Andere Eltern können das eine oder andere aus dieser „öffentlichen“ Aufarbeitung für ähnlich gelagerte Situationen in ihrem Familienleben lernen.
Ich setze den Fragen der Eltern also neue, „angemessen ungewöhnliche“ Fragen (Andersen 1990) entgegen, die helfen sollen, das in Vergessenheit Geratene, das Übersehene, auszuleuchten. Eine Auswahl der Fragen, die ich in der Anlage 10 zum Seminarablauf in Kapitel 6 gesammelt habe, unterscheiden sich z.B. von Fragen, die mit „Warum?“ beginnen und vor allem Ursachen zu ergründen suchen. Warum-Fragen haben sich die Eltern vermutlich schon tausendmal gestellt, und die bringen kreislaufartig immer nur dieselben stereotypen Antworten hervor, ohne die Betroffenen ihrer eigenen Antwort einen Schritt näher zu bringen.
[37] Die Fragen, die hier gemeint sind, werden jeweils aus einer anderen Perspektive (zeitliche, räumliche, Beziehungs-, Zukunfts- und positive Perspektive etc.) gestellt und zeigen damit die Realität, die bisher vom eigenen einseitigen Blick überlagert wurde. Oft sind wir halt in mehr als einer Hinsicht „blind“.
In meinen o.g. Beispielen würde ich etwa folgendermaßen nachfragen:
Ist Ihr Mann/Ihre