Frankreich - eine Länderkunde. Henrik Uterwedde

Frankreich - eine Länderkunde - Henrik Uterwedde


Скачать книгу
Republik bestärkte letztere in ihrer Kritik an der Haltung der katholischen Kirche und führte 1905 zur Verabschiedung des Gesetzes über Trennung von Kirche und Staat. Es garantiert die individuelle Glaubensfreiheit, verweist aber die Kirchen in den privaten Raum. Diese haben den Status privatrechtlicher Vereine (während sie in Deutschland als Körperschaften des öffentlichen Rechts gelten). Es gibt keinen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen; religiöse Symbole sind aus allen staatlichen Räumen verbannt. Das im Gesetz von 1905 durchgesetzte Prinzip des Laizismus hatte von Anfang an eine starke, bis heute spürbare Symbolkraft, weil es in den Zusammenhang mit dem Sieg der demokratischen Republik gegen ihre Feinde gestellt wurde. Noch in den 1980er Jahren gab es erbitterte Fehden zwischen Vertretern der öffentlichen Schulen und jenen der (zumeist katholischen) Privatschulen. Richtete sich das Gesetz vor 100 Jahren vor allem gegen die katholische Kirche, wird das Prinzip des Laizismus heute auch gegenüber Muslimen angewandt und ist dabei Gegenstand heftiger Kontroversen (→Kap. 8.1).

      f) Gleichheit

      „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ lautete eine der Losungen während der Französischen Revolution; sie ist heute offiziell die Devise der Republik. Dabei hat die Gleichheit (égalité) bis heute eine besondere Bedeutung. In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.8.1789, die noch heute Verfassungsrang hat, heißt es in Art 1: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt an frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.“ Dabei geht es zum einen um die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Das abstrakte Gleichheitsprinzip erlaubt dabei keine Bevorzugung von benachteiligten Gruppen im Sinne einer positiven Diskriminierung. Darüber hinaus wird der Begriff aber auch als Versprechen der Solidarität und der sozialen Gleichheit aufgefasst. Gleichheit nicht nur der Chancen, sondern auch der materiellen Lebensbedingungen ist auch heute noch eine Forderung, die einen hohen Stellenwert in der französischen Politik besitzt.

      [23]g) Vorrang der Politik

      Schließlich gilt der sogenannte Primat der Politik, d. h. der Vorrang der Politik (die als einzige auf eine demokratische Legitimation durch das Volk verweisen kann) gegenüber den Kräften der Wirtschaft und der Gesellschaft.

1789–1792Monarchie1791 Verfassung der konstitutionellen Monarchie
1792–1799I. Republik1792–95 Konventsverfassung (nie angewandt) 1795–99 Direktorialverfassung
1799–1815Herrschaft Napoleons1799–1804 Konsulat (formal Republik) 1804–1815 Erstes Kaiserreich
1815–1848MonarchieRestauration (Bourbonen) Julimonarchie (Haus Orléans)
1848–1851II. RepublikPräsidentielles System; allgemeines Männerwahlrecht
1852–1870Zweites KaiserreichNapoleon III (Staatsstreich 2.12.1851, Verfassung 14.1.1852)
1870–1940III. RepublikVerfassungsgesetze 1875: parlamentarisches System, allgemeines Männerwahlrecht
1940–1944Vichy-RegimeAutoritäres System (Marschall Pétain)
1944–1946Provisorische RegierungZunächst unter de Gaulle; erster Verfassungsentwurf im Volksentscheid vom 5.5.1946 abgelehnt.
1946–1958IV. RepublikZweiter Verfassungsentwurf durch Volksentscheid vom 13.10.1946 gebilligt. Parlamentarisches System, seit 1944 Frauenwahlrecht.
Seit 1958V. RepublikVerfassung durch Volksentscheid vom 28.9.1958 angenommen. Parlamentarisches System mit starkem Präsident und plebiszitären Elementen. 1962: Volkswahl des Präsidenten durch Volksentscheid gebilligt.

      Quelle: eigene Zusammenstellung nach Adolf Kimmel/Henrik Uterwedde (Hrsg.): Länderbericht Frankreich, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2012, S. 377

      [24]Während in anderen Ländern, auch in Deutschland, die Sphäre der Politik eher als gleichberechtigt neben den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräften gesehen wird, liegt der französischen Vorstellung eine klare Hierarchie zugrunde: Die Politik, d. h. Staat, Verwaltung, Parlament und Regierung als Vertreter des Allgemeinwohls stehen über der Gesellschaft und der Wirtschaft, deren Akteure „nur“ Partikularinteressen vertreten. Dies verleiht staatlichem Handeln eine besondere Legitimität, die auch staatliche Interventionen nicht nur erlaubt, sondern im Zweifelsfall geradezu erfordert. Staatlicher Dirigismus etwa in der Wirtschaftspolitik – in Deutschland überwiegend negativ bewertet und abgelehnt – wird in Frankreich deshalb oft als sinnvoll und notwendig, auf jeden Fall aber pragmatisch gesehen und dann auch ohne viele ordnungspolitische Gewissensbisse verfolgt (→Kap. 4.1). Der Vorrang der Politik zeigt sich auch im Umgang mit dem Rechtsstaat. Nur zögernd hat sich in Frankreich die Überprüfung von Gesetzen durch das Verfassungsgericht durchgesetzt, und noch heute wäre eine so ausgedehnte Rolle, wie sie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland gegenüber dem Gesetzgeber einnimmt, in Frankreich nicht akzeptabel (→Kap. 2.3). Auch die strikte Regelbindung der Politik (z. B. durch die Haushaltsregeln der Europäischen Währungsunion, die die Neuverschuldung begrenzen) wird nur unter Vorbehalten akzeptiert: Es ist für viele Franzosen undenkbar, dass abstrakte Regeln eine demokratisch gewählte Regierung daran hindern können, die ihr notwendig erscheinende Politik zu realisieren und dafür eventuell auch Kredite in Anspruch zu nehmen.

      Nachdem mit der französischen Revolution die Grundlagen für die moderne demokratische Entwicklung gelegt wurde (Erklärung der Menschenrechte, Prinzip der Volkssouveränität), war die französische Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine rasche Abfolge unterschiedlicher Herrschaftsformen gekennzeichnet: kurzzeitige Republiken, die Herrschaft Napoleons, die Rückkehr zur Monarchie bzw. zum Kaiserreich Napoleons III und am Ende die III. Republik (→Tab. 1).

      a) Die Dritte Republik (1870–1940)

      Die Geschichte der modernen demokratischen Republik beginnt 1870 mit der Ausrufung der III. Republik, deren hauptsächliche Institutionen schon auf die heutige Zeit verweisen: Ein von der Nationalversammlung für sieben Jahre gewählter Präsident, dessen Befugnisse aber schon 1875 eng begrenzt wurden; eine Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist; ein Parlament mit zwei Kammern: die Nationalversammlung mit 600 Abgeordneten,[25] die für 5 Jahre direkt gewählt wurden, und der Senat mit 300 Senatoren, die durch lokale Wahlmännergremien indirekt für 9 Jahre gewählt wurden, wobei alle drei Jahre ein Drittel erneuert wurde. Damit war eine funktionsfähige, auf allgemeinen Wahlen (allerdings nur durch Männer) basierende parlamentarische Demokratie entstanden, die deutlich fortschrittlicher als das 1871 entstandene, autoritär regierte Deutsche Reich Bismarcks war.

      In die Zeit der III. Republik, die bis 1940 andauerte, fallen so grundlegende Entwicklungen wie die Ausdehnung des französischen Kolonialreiches, die Herausbildung des öffentlichen Schulsystems, das sich als „Speerspitze der Republik“ verstand und in allen 36.000 Gemeinden Frankreichs zur Verbreitung der republikanischen Werte beitrug, oder der Kulturkampf zwischen der katholischen Kirche und der Republik, der in Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre (1984–1905) 1905 zum Gesetz über die Trennung von Kirche und Staat führte. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände wurden 1884 erstmals legalisiert und 1901 ein modernes, heute noch gültiges Vereinsgesetz geschaffen (bis heute firmieren Vereine unter der Bezeichnung „association loi 1901“). Auseinandersetzungen zwischen der demokratischen Republik und monarchischen oder antiparlamentarischen Kräften gab es immer wieder, auch in den 1930er Jahren. Angesichts der Gefahr einer autoritären antidemokratischen Bewegung (faschistische Ligen; blutige antiparlamentarische Demonstration am 6.2.1934) bildete sich 1936 erstmals eine Volksfrontregierung unter Führung der Sozialisten, die von der Kommunistischen Partei geduldet wurde.

      Wirtschaftlich und gesellschaftlich war die Periode der III. Republik


Скачать книгу