Frankreich - eine Länderkunde. Henrik Uterwedde

Frankreich - eine Länderkunde - Henrik Uterwedde


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der raschen Industrialisierung mit allen ihren Begleiterscheinungen (Landflucht und Verstädterung, Entstehung eines Massenproletariats, der sozialen Frage und der Arbeiterbewegung, Konzentration des Kapitals) nur zögernd und gleichsam in homöopathischen Dosen. Es war, als ob sich die herrschenden Klassen dieser Zeit – das Besitzbürgertum, aber auch die Landbesitzer – stillschweigend darüber einig waren, den ihre Machtbasis gefährdenden Strukturwandel so weit wie möglich zu bremsen. Die Folge war eine außerordentliche politische Stabilität und Blüte der demokratischen Entwicklung der III. Republik, aber auch eine relative Stagnation in der Bevölkerungsentwicklung, im Wirtschaftswachstum und in der Modernisierung von Landwirtschaft und Industrie. In der Folge sah sich Frankreich zunehmend von der Wirtschaftsdynamik vor allem des deutschen Nachbarn abgekoppelt und geriet in einen ökonomischen Entwicklungsrückstand. Der Kontrast zum hochindustrialisierten Deutschland wurde vor allem nach dem Ersten Weltkrieg überdeutlich (→Kap. 6.1).

      Die Dreyfus-Affäre

      [26]löste um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine der größten innenpolitischen Krisen Frankreichs aus. Der französische Hauptmann jüdischen Bekenntnisses, Alfred Dreyfus, wurde 1894 aufgrund falscher Beweise wegen Hochverrats und Spionage angeklagt, verurteilt und auf die Insel Mayotte deportiert. Das Urteil löste eine jahrelange erbitterte Kontroverse aus. Sie wurde durch die Hetzpropaganda antisemitischer und antirepublikanischer Kreise in Armee, Justiz, Erziehungswesen, Politik und Gesellschaft entfacht. Dagegen gingen republikanische Politiker und Intellektuelle den immer offenkundigeren Zweifeln an diesem Fehlurteil nach und forderten seine Revision, wie der Schriftsteller Émile Zola in seinem berühmt gewordenen offenen Brief an den Präsidenten in der Zeitung L’Aurore 1898 („J’accuse“, Ich klage an). Die anhaltende Welle von Protesten führte schließlich 1899 zu einer Wiederaufnahme des Verfahrens, aber erst 1906 wurde Dreyfus wegen erwiesener Unschuld freigesprochen und wieder in die Armee aufgenommen.

      Diese Affäre erlangte weit über den ursprünglichen Fall hinaus eine hohe politische Bedeutung. In einer Zeit, in der die Republik nach 30 Jahren Existenz immer noch nicht völlig gefestigt war und sich antidemokratischen Anfeindungen ausgesetzt sah, markierte sie die Durchsetzung der republikanischen Kräfte gegen ihre Feinde.

      Außenpolitisch war die Zeit vom deutsch-französischen Gegensatz geprägt, nachdem Deutschland nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870–1871 die Annexion des Elsass und eines Teils von Lothringen und Reparationszahlungen in Höhe von 5 Milliarden Francs erzwungen hatte. Aus dem Ersten Weltkrieg, der weitgehend auf französischem Boden stattfand und ein ungeheures Ausmaß an Zerstörungen und Menschenopfern forderte, ging Frankreich als Sieger hervor und war maßgeblich an den harten Bedingungen des Friedensvertrags von Versailles beteiligt (1919). Indessen scheiterte dieser Versuch, Sicherheit gegen den deutschen Nachbarn mittels harter Zwangsauflagen zu erreichen, spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933. Im Zweiten Weltkrieg gab es zunächst keine Kampfhandlungen bis zum Überfall der hitlerdeutschen Truppen im Mai 1940, der nach wenigen Wochen mit einer Katastrophe für Frankreich endete.

      b) Kollaboration und Widerstand (1940–1944)

      Es folgte eine kurze Zeit (1940–1944), die gleichzeitig von Kollaboration mit und Widerstand gegen Hitler geprägt war. Am 22.6.1940 schloss Marschall Pétain, Oberbefehlshaber der französischen Truppen, einen Waffenstillstand mit Hitler. Ein Teil Frankreichs blieb unter deutscher Besatzung [27](zone occupée); der Rest des Landes bildete den „Französischen Staat“ (État francais), ein autoritäres Regime mit Pétain an der Spitze und der Kurstadt Vichy als Hauptsitz. Dieses Vichy-Regime verpflichtete sich zur Zusammenarbeit mit Hitlers Deutschland (collaboration), z. B. Wirtschaftslieferungen und den „freiwilligen“ Arbeitseinsatz von Franzosen in Deutschland. Es kompromittierte sich überdies durch seine aktive Beteiligung an den Judendeportationen. Gegen Pétain formierte sich sogleich nach dem Waffenstillstand 1940 Widerstand, der sich in den kommenden Jahren ausweiten sollte. Der General Charles de Gaulle verurteilte den Waffenstillstand in einem Aufruf, den er am 18. Juni 1940 aus dem Londoner Exil verbreitete und in dem er zur Fortsetzung des Kampfes gegen Deutschland aufrief. Er bildete bald eine Exilregierung und später auch eigene Truppen, die sich an den alliierten Kampfhandlungen vor allem bei der Befreiung Frankreichs beteiligten. Dieser Widerstand (Résistance) von außen wurde ergänzt durch Widerstandsgruppen in Frankreich selbst, an denen sich Menschen aus verschiedenen Strömungen (Kommunisten, Sozialisten, Christen, Bürgerliche, Anhänger de Gaulles) beteiligten. Sie versuchten, die Besatzungstruppen unter anderem durch Sabotageakte zu schwächen. Trotz des insgesamt begrenzten Anteils des französischen Widerstands an der Befreiung Frankreichs durch alliierte Truppen (Landung in der Normandie, Juni 1944) schaffte es de Gaulle mit großer Beharrlichkeit, dass Frankreich am Ende des Zweiten Weltkrieges den Status einer alliierten Siegermacht erhielt und neben den USA, der Sowjetunion und Großbritannien zur Besatzungsmacht in Deutschland wurde. Im kollektiven Gedächtnis diente der Widerstand auch dazu, die Schmach der Niederlage 1940 und vor allem die Kollaboration durch Pétain in den Hintergrund zu drängen. Erst viel später, ab den 1970er Jahren, hat man begonnen, ein differenzierteres Bild von Widerstand und Kollaboration zu zeichnen und vor allem die Mitverantwortung des Pétain-Regimes etwa an der Verfolgung, Deportation und Ermordung der in Frankreich lebenden Juden zu thematisieren.

      c) Von der Vierten zur Fünften Republik (1946–1958)

      General de Gaulle, dessen konsequenter Widerstand gegen Hitler und gegen die Kollaboration des Pétain-Regimes zur Befreiung Frankreichs durch die alliierten Truppen beigetragen hatte, wurde zum Chef einer provisorischen Regierung bestellt, die die dringendsten Aufgaben des Wiederaufbaus in die Wege leiten sollte. Allerdings trat de Gaulle am 20.1.1946 zurück, weil die Verfassungsgebende Nationalversammlung in seinen Augen eine ausschließliche Parteienherrschaft wiederherstellen wollte, die er scharf ablehnte. So entstand mit der IV. Republik ein parlamentarisches System nach dem Muster der III. Republik, in der die Regierung stark vom Parlament und den oft wechselnden Stimmungen der Parteien abhängig wurde. De Gaulle zog sich daraufhin aus der Politik zurück. Die IV. Republik erwies[28] sich sehr bald als instabil; taktische Manöver der führenden Parteien und wechselnde Mehrheiten führten zu ständigen Regierungswechseln. Die politischen Institutionen und auch die Parteien funktionierten im Kern immer noch wie im 19. Jahrhundert und waren damit den völlig veränderten Anforderungen an eine moderne Regierung, die eine stärkere Handlungsfähigkeit der Exekutive erforderten, nicht mehr gewachsen.

      Während die politische Erneuerung Frankreichs zunächst gescheitert war, wurde die wirtschaftliche und soziale Erneuerung gleich nach 1944 energisch in Angriff genommen. Denn die führenden Eliten und fast alle Parteien waren sich einig darin, dass Frankreichs gebremster Strukturwandel und der Modernisierungsrückstand für die schmachvolle militärische Niederlage 1940 mitverantwortlich gewesen waren. In einem breiten politischen Konsens, der von den Gaullisten bis zu den Kommunisten reichte, wurde nach 1944 die rasche wirtschaftliche und soziale Modernisierung zur nationalen Aufgabe erklärt. „Modernisierung oder Dekadenz“, so formulierte einer der Väter des französischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, Jean Monnet, die Aufgabe der Stunde. Es bestand auch Übereinstimmung darin, dass diese Aufgabe nicht alleine dem Markt oder den Unternehmen überlassen werden könne. Die Modernisierung bedurfte einer effektiven Steuerung. Dafür wurden die notwendigen Voraussetzungen geschaffen: Eine moderne Verwaltung wurde aufgebaut, umfangreiche staatliche Lenkungsmittel entstanden – wie die Planification, staatliche Unternehmen vor allem im Finanzsektor und bei den großen Versorgungsunternehmen oder die Investitionslenkung durch staatliche Kreditpolitik, Sektoren-Entwicklungspläne usw. (→Kap. 6.1).

      Die IV. Republik zerbrach vor allem an ihrer Unfähigkeit, die wachsenden Auseinandersetzungen in den Kolonien (Indochina, Nordafrika) zu beenden. In einer bürgerkriegsähnlichen Situation (Putsch der Generäle in Algier, der auf das Mutterland überzugreifen drohte) wurde schließlich Charles de Gaulle als „Retter in der Not“ gerufen. Dieser legte alsbald einen Verfassungsentwurf vor, der seinen Vorstellungen einer starken Exekutive und eines „gezähmten“ Parlaments entsprach und der am 28.9.1958 in einer Volksabstimmung gebilligt wurde: Die V. Republik war geboren.

      d) Die Fünfte Republik (seit 1958)

      De Gaulle wurde zum ersten Staatspräsidenten der V. Republik gewählt und prägte deren Beginn


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