Chad Gadja: Das Peßachbuch. Anonymous
Erlebnisses auf. Und der Weihespruch, den die Weisen schufen, steigerte noch die Größe des Erlebnisses: ... „der uns erlöst hat und unsere Väter erlöst hat aus Ägypten.“ Die Väter traten zurück vor der Befreiung des lebenden Geschlechtes. Im Leid der Gegenwart sollte es die Wonne der Freiheit fühlen.
Allein da die letzte nationale Hoffnung verschüttet war, sollte sich der Ernst gleich einem schweren Tau in die sonnenfrohen Flügel der Festesfreude legen. Einst schwelgte der Jude nach dem Peßachmahle bei feurigem Weine. Lieder erklangen im Kreise; und die kichernde, schmeichlerische Flöte, das Lieblingsinstrument der Juden, zauberte im Kusse mit trunkenen Lippen hüpfende Weisen hervor. Da leuchteten die Augen und die Stirnen glühten. Die Glieder regten sich zum Tanze. Und freudetrunken zog die Jugend in die Häuser der Freunde. Sie scherzten und lärmten, bis die kühle Nacht sie hinausrief auf die Berge; sprangen sie nicht wie Widder, und die Hügel nicht wie junge Schafe? Das Echo der Felsen und Wände sang fröhlichen Refrain; und die Sterne lächelten...
Als zum Beginn des dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung Rabbi Jehuda Hanassi die mündlich überlieferten Gesetze und Bräuche in der Mischnah festlegte, war das hellenisch anmutende Epikomon untersagt. Selbst nach dem dritten und vierten Becher des Rituale durfte kein Wein mehr genossen werden. „Warum all die Zeugnisse, Vorschriften und Gesetze?“ fragt das kluge Kind. Und beziehungsvoll soll der Vater antworten: „Man lasse die Peßachfeier nicht mit einem Epikomon schließen.“ Die Freiheit soll im Geiste erlebt werden. Nicht im Rausch. Die Freude in Bande zu schlagen, ward sittliche Pflicht. Israel war wieder im Galuth. Des Spiritualismus dichtes Gewebe hüllte schützend das einst erdhafte Volk.
Das Leben auf eigener Scholle war verwehrt. Das Leben im eigenen Geiste konnten nicht Feuer und Schwert und nicht die Macht der Cäsaren vernichten. Wenn nur die Kette der Geschlechter sich nicht löste! Im Kinde das nationale Erlebnis der Befreiung aus Mizrajims Sklaverei zu einem persönlichen aufsteigen zu lassen, wurde, je weiter die Zeiten schritten, um so deutlichere Aufgabe der Peßachübung. Schon Rabban Gamliel hatte gefordert, daß am Peßachabend von den drei Dingen, dem Peßachlamm, dem ungesäuerten Brote und den bitteren Kräutern gesprochen werden sollte. Das Kind mußte sehen, fragen und hören. In den Sinnbildern der bitteren Leiden Israels sollte ihm der Auszug aus Ägypten gegenwärtig werden. Und also fortbauend fügten unsere Meister Stein um Stein zu unserer Hagadah. Nicht eine geschichtliche Überlieferung galt es weiterzugeben; nicht antiquarische Kenntnisse zu erhalten. Die Frage nach dem Sinn des Peßachopfers schwand, als der Opferkult in die Form national durchsetzter Gebete eingeschmolzen war. Die Frage, warum sitzen wir heut angelehnt, wurde eingefügt. Und die anderen Fragen wurden nach den aus verändertem Milieu gegebenen Vorstellungen des Kindes neu gewendet. Die Antwort des Vaters gab zunächst wohl nur den schlichten Bericht von den Leiden Israels in der ägyptischen Sklaverei und von ihrer Befreiung. Aber in den Jahrhunderten wurden aus alten Büchern Geschichtchen entlehnt, die dem Feste galten und zur Seele eines jüdischen Kindes sprechen konnten. Als letztes Zwischenstück kam die geistvolle, packende Erzählung von den vier verschieden gearteten Söhnen, die nach dem Sinn des Festes fragen.
So wuchs die Peßach-Hagadah. Wie der Peßachabend die große Stunde des Kindes wurde, wurde die Hagadah das Buch des Kindes. Es löste sich aus den großen Folianten, in deren gewundenen Wegen es wie ein verborgener Garten lag; und führte klein und zierlich sein eigen Leben. Gebetstücke schmiegten sich an. Fromme Lieder baten um Eingang. Aber als um das Jahr 1100 die Hagadah ganz als selbständiges Werk auftrat, war ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Wie der Peßachabend die Geburtsstunde des Erlebnisses war, das sich immer wieder erneute, also verjüngten sich Brauch und Sitte, und neue Lieder schmeichelten sich ein, ernste und scherzende, wie das Lied von Böcklein, Chad Gadja, das Adirhu und die nachdenkliche Zahlenspielerei des Echad mi jodea.
Also wurde das Peßachbuch ein Lieblingsbuch der Juden. Ein Kinderbuch in unserem Sinne konnte es nicht werden. Zunächst schon, weil sich zum Seder die ganze Familie versammelte und der Eifer und die Nachdenklichkeit auch der Erwachsenen angeregt werden mußte. Aber weit darüber aus: hatte denn das jüdische Kind eine rechte Kindheit? Es sah die Sorge frühe um sich und die Angst, die in den Ecken hockte. Die Liebe, die es betreute, erbebte zu oft nur im Fürchten. Seine Spiele wagten sich nicht ins Freie. Sie suchten nicht das Leben zu erfassen, mit kindlichen Händen zu begreifen; sondern hatten geheime Beziehungen zu einem Sein, das über allem Irdischen ist. Frühe schon kehrte sein Geist ein zur Weisheit der Ahnen; ging er auch nur zagend und in kindlicher Befangenheit in diesen stillen Gärten, so wußte er doch, daß sie seine Welt sein — mußten.
So war die Peßach-Hagadah ein Buch auch für dieses jüdische Kind; wert und lieb noch den Gereiften, die ihrer kindheitarmen Kindheit gerne dachten, mit seiner niedergehaltenen Natürlichkeit und seinem gesteigerten Intellektualismus. Ein Buch, in dem die verängstete, freiheitsehnende Seele sich im Spiegelbilde fand. Ein Buch, das sich dem Alltag entzog und — alljährlich nur für zwei Abende der dunklen Truhe entführt — in den Monaten aufgestapelt die Freude am Lichte, an Freiheit und leuchtenden Augen trug. So war es, daß eine fast zärtliche Liebe dieses Buch wie nie ein anderes jüdisches Buch umgab. Es wurde häufig abgeschrieben, und sinnende Künstler wußten mit goldigen Farben, mit kecken Buchstaben und zierlichen Bildern den Ernst der schweren Buchstaben ins Heitere zu schmücken. Fünfundzwanzig dieser illuminierten Handschriften-Hagadahs haben in unsere Tage die Kunde liebevoller Sorgfalt getragen. Sie stammen aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, aus Spanien, Frankreich und Deutschland. Allein als schon die Druckerkunst die Demokratisierung des Buches begonnen hatte, starb die Freude an dem persönlichsten Besitz einer bemalten Handschrift nicht. Bis ins achtzehnte Jahrhundert blühten jüdische Meister dieser heiteren Kunst, und Aaron Schreiber Sterrlingen aus Gewitsch in Mähren war weit berühmt als Hagadahschreiber in den Landen. Auf schwerem Pergamente lebte die Geschichte vom Auszug aus Mizrajim. In langen Tagen und in Nächten erstand die Schrift; und Sinnen und Sorge, Segen und Versagung in den Schöpferstunden gruben sich in die Buchstaben ein. Bald liegen sie kauernd am Boden; bald streben sie empor, als wollten sie wie eine Jakobleiter der Enge des Irdischen entstreben. Noch ist der Buchstabe nicht zum Blei erstarrt. Getreulich folgt er Willen und Laune des Schöpfers. In den krausen, verschnörkelten Initialen spiegelt sich noch das verworrene Gewoge der Absichten, der Hoffnungen und Zagnisse, die jeden Gestalter im Anbeginn seiner Arbeit durchziehen. In den Zwischenstücken, die so scheinen wollen, als seien sie eine Erholung für den Leser, ruht der Sturm des Schaffens; und besonnen, nachdenklich wird die Linie der Zeichnung. Und wenn ein Stück zu Ende gebracht, tollt sich die Freude am gelungenen Werk in den Kapriolen der Phantastik aus. Die Lust am grotesken Buchstaben, der sich in Schlangenschwänzen, Giraffenhälsen, Karikaturenköpfen, in Blüten und Gezweige verliert, das Behagen an bizarren Schlußstücken und der sittliche Ernst, der Zwischenstücke formt — große Worte etwa, die wie Könige des Gedankens in Schloß und Burgen stehen oder sich in dichter Dornenhecke ungeweihtem Auge zu verbergen scheinen —: sie haben sich in allen handschriftlichen Hagadahs erprobt. In den Bilderbeilagen weichen sie indessen ab. Die älteste — zugleich das köstlichste Erbe jüdischer Künstlerschaft — die Hagadah von Serajewo bringt in enger Folge Bilder zur Genesis und zur Erzählung des Auszugs aus Ägypten. Die Illustration des eigentlichen Peßachrituale tritt hier zurück. Andere wieder schließen sich enger den Begebenheiten an, die im Peßach ihre ewige Wiederkehr feiern. Moses, sein wundersames Schicksal und seine Berufung werden der Mittelpunkt dieses eingeengten Bildkreises. Die Erzählungen von den vier Weisen, die zu B’ne-B’rak vom Peßach sprachen, bis daß der Morgen sie zum Gebete rief, die Typen der vier Fragenden, Rabban Gamliel, der die Festordnung schuf, werden im Bilde deutlich. Und Eliah sehen wir nahen, den ewigen Wanderer, der wie ein gütiger Tröster aus dem düstern Wirrsal der Gegenwart in den Frieden des Messias weist.
Wie sich die Formensprache des Zeichners aus dem Primitiven, über die Technik der Renaissance zum Realismus aufhellt, so prägt sich in der Auswahl der Motive die Stimmung der Zeiten aus. Dunkle Tage kommen, da der Haß die stachliche Peitsche schwingt. In den frühen Hagadahhandschriften, die stolze Herren aus romanischen Landen sich zeichnen ließen, herrscht das Bild, dem die Bibel den Vorwurf gibt. In den deutschen des späten Mittelalters will sich die Legende verkünden. Die große aristokratische Linie verläuft ins Volkstümliche, in die Träumereien des Gedrückten, in die Enge des Hauses. Die Helden und Starken — Simson, David — kommen in die Hagadah