Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff

Dämmer und Aufruhr - Bodo Kirchhoff


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mit Revolver und schmalen Augen und Frauen mit roten Lippen und Schlitz im Rock, einen Schenkel entblößt. Er streift umher in der Stille eines Sonntagnachmittags, als die meisten Leute in der Kinobaracke sind, ein Stadtkind, das nach warmer Milch und einem Marmeladenbrot bei den fremden Eltern seiner Schwester allein auf dem Gelände ist, kaum noch in Sichtweite von Annegret, der Type, die erst abends mit ihm zurückfährt. Und so trödelt es zwischen den Halbgebäuden und Trümmern, in der Hand, wie auf der väterlichen Zeichnung, ein Stöckchen, damit peitscht es die Fetzen von den Kinoplakaten, den Gesichtern der Frauen und ihren Röcken, es schlägt die Zeit tot. Bis plötzlich helles, flehentliches Schreien aus dem Fenster einer Kellerwohnung dringt, das eines Mädchens wie ein Ruf an ihn, also schleicht er sich pochenden Herzens an und schnappt ein Wort auf, Hoserunter! Das Fenster ist halb offen, dahinter liegt ein Schlafzimmer, ein Bett steht dort, davor ein Tisch, neben dem Tisch sitzt eine Frau mit Lockenwicklern auf einem Schemel. Der Zeuge tritt noch näher, und endlich sieht er das Mädchen, über den bestrumpften Knien der Frau, wohl ihrer Mutter. Sein Kleid ist in den Rücken geklappt, seine Unterhose ist bis zu den Knöcheln heruntergezogen, und die Mutter schlägt es mit einem Kochlöffel, dass ihre Lockenwickler pendeln. Das Aufklatschen der Hiebe mischt sich mit dem Schreien des Mädchens und der Stimme der Mutter, die jeden ihrer Schläge mitzählt. Ton und Bild sind wie eins, ein einziger Ansturm auf den Zeugen; er sieht zappelnde Füße in Strümpfen und zwei weiße Backen, die sich röten, das umgeklappte Kleid, himmelblau, und blondes Haar. Nur vom Gesicht des Mädchens sieht er nichts, sosehr er sich auch vorwagt, dafür hört er ihr jetzt im Weinen ersticktes Flehen und dann ein Sichfügen in die Bestrafung, nur noch mit Wimmern vor dem nächsten Schlag. Und er achtet auf das Zählen der Mutter, die jede Zahl zwischen den Lippen hervorpresst beim Schlagen, danach gleich wieder ausholt, und zählt leise mit, er kann nicht anders, und macht sich dabei in die Hose. Es geschieht einfach, unaufhaltsam, und das Unaufhaltsame tut sogar gut, ein so heißes Verströmen, dass ihm die Schenkel vor dunkler Wonne zittern, und ist erst niederschmetternd, als er in die Wohnung der Kindermädcheneltern zurückkehrt, dort die Blamage zeigt und wortlos ausgezogen wird.

      Der noch ergriffene, dabei vor Scham glühende Junge – ergriffen wie auf eine Epiphanie hin: der einer strafenden weiblichen Gottheit und ihrem sich fügenden Opfer – wird gewaschen und danach in fremde, viel zu große Hosen gesteckt. So kommt er abends zu den eigenen Eltern, fürchtend, man könnte ihm anmerken, was er gesehen hat, aber man sieht nur eine äußere Folge, das fremde Kleidungsstück mit Flicken, die Travestie des Sohns als kleines, rührendes Proletenkind. Er bleibt allein mit den Bildern aus Moorfleet, fortan ein innerer Film, wenn er schlafen soll, aber wach liegt, unruhig auch, weil immer öfter vom Umzug in eine andere Welt die Rede ist. Und in dieser nervösen Phase des Abschieds, noch in Hamburg, aber schon zwischen gepackten Koffern, während sich der Vater im fernen Schwarzwald nach besseren Bedingungen für seine Firma umsieht, wird der Junge eins mit dem gesichtslosen Mädchen: als er zum ersten Mal selbst Hiebe bekommt und sich in den Rausch einer außer sich geratenen Mutter fügt.

      Der jetzt bald Sechsjährige ist mit seiner jungen Mutter in der Wohnung, er leistet ihr dort still Gesellschaft. Sie geht mit Rollenheft in der Hand auf und ab, murmelt und macht jähe Gesten, er aber möchte auf den Spielplatz hinter den Grindelhochhäusern, um dort im Sandkasten einen Tunnel zu bauen. Darin ist er ein kleiner Meister, das eine und andere Kind hat sogar schon seine kostbaren Murmeln oder Klicker durch die zu einer Seite hin abschüssige Tunnelanlage rollen lassen, der Grabung des fremden Jungen also vertraut, aber Damemammi will nicht, dass ihr Augenstern mit anderen Kindern im Sand wühlt. Wir beiden Hübschen bleiben hübsch zu Hause, danke dem lieben Gott, dass du hier in der warmen Wohnung spielen kannst, sagt sie im Auf-und-ab-Gehen, und da vergisst sich das Unkind (oder ist in dem Moment ganz bei sich): Gott ist ein Arschloch!, schreit es und trifft damit, der Sprache ergeben, ins Schwarze, was augenblicklich einen Tumult auslöst. Auch seine Mutter schreit, das Rollenheft zu Boden werfend, Nimm das zurück!, schreit sie, ja verlangt sogar die Entschuldigung bei ihr, nicht bei Gott. Und als der kleine Gotteslästerer, in sich erstarrt, nur schweigt, reißt sie, wie abgeschaut in Moorfleet, einen Bügel aus dem Schrank, zerrt ihm die Hose herunter und schlägt wild auf ihr Fleisch und Blut ein. Der Gezüchtigte aber hört nur das Klatschen des Kochlöffels auf die Mädchenhinterbacken in der Kellerwohnung und spürt mehr als jeden Schmerz einen Schrecken über die so fremde Mutter, wie in den Minuten, wenn er im Souffleusenkasten saß und sie auf der Bühne eine Szene machte. Dann aber erlahmen die Kräfte der Ungeübten; sie steht nur noch aufgelöst da, den hölzernen Bügel in der Hand, und heißt das Biest von Kind, auf der Stelle ins Bett zu gehen, auf der Stelle zu schlafen! – ein Vorfall mit paradoxem Schlusswort, und fast ein Menschenleben später hat der Sohn einmal den Versuch gewagt, die schon gebrechliche, aber noch wache Mutter daran zu erinnern.

      Bei einem Abendessen zu zweit, einem der letzten noch am Esstisch ihres finalen Appartements mit Balkon und Aussicht auf Vorläufer der Alpen, ging es um die Sternstunden des Lebens, wenn sie etwa Rollen gelernt habe in der Hamburger Wohnung, während der kleine Sohn still vor sich hin spielte und das Töchterchen schlief. Es war ein Essen, das der alte Sohn samt gutem Wein in einem nahen Feinkostladen besorgt hatte, und nach dem ersten Glas gab es einen Moment ihres Interesses an einem Beitrag auch des Besuchers an der Unterhaltung, und da sprach er von der Spannung zwischen ihrem Wunsch, als Schauspielerin Erfolg zu haben, und dem Wunsch eines Kindes, in einem öffentlichen Sandkasten einen Tunnel zu graben, den andere Kinder erst bestaunen und dann mit benutzen könnten. Aber ich musste zu Hause bleiben, sagte ich und schenkte meiner Mutter – sie hatte sich für das Abendessen noch einmal in Schale geworfen – Wein nach. Du hast erklärt, ich solle dem lieben Gott danken, dass ich in einer warmen Wohnung spielen könnte und wir beiden Hübschen dort hübsch unter uns blieben, und ich nannte Gott ein Arschloch, und du hast einen Kleiderbügel geholt und mich damit geprügelt, nicht wahr? In einem Atemzug rückte ich mit der alten Geschichte heraus, und die Befragte oder ins Gebet Genommene setzte empört ihr Weinglas ab, ja geriet fast erneut außer sich über den Gebrauch solcher Worte und verlangte eine Entschuldigung, und ich entschuldige mich. Wir setzten unser Essen fort, sie sagte, der San-Daniele-Schinken sei tadellos, dabei war es ein gewöhnlicher Parma, von mir aber als San-Daniele ausgegeben, als den Schinken, den man auch im Grand Hotel Danieli in Venedig auf seinem Teller hat; sie hatte ihn dort als Antipasti auf der Terrasse beim Abendessen mit ihrem zweiten Ehemann, wohl mehr als einmal. Ziemlich schnell waren wir also vom Nachkriegshamburg zum Canal Grande gekommen, und der Vorstoß in die Vergangenheit war vergessen. Ich löste ihr die Rinde von einer Scheibe Ciabatta und strich Butter auf das luftige Innere, legte etwas von dem falschen San-Daniele darauf und gab ihr das Stück, und meine Mutter – das schon hagere, bis auf die Wangen eingefallene Gesicht wie umrahmt von einer perlgrauen Perücke, die fast ein Teil ihrer selbst war – entspannte sich nach diesem Sprung in eine jüngere Vergangenheit ohne dunkle Stellen. Wir sprachen nur noch über Italien, nicht das heutige der Verschuldung und der Verblödung, sondern das Italien der alten und ewigen Schönheit – die sie zum ersten Mal mit meinem Vater erlebt habe, vor tausend Jahren für ein paar Tage, sagte sie (und meinte die Alassio-Tage, von denen ich erst später etwas erfuhr, aus dem Jahresbericht). Sie sprang gleich weiter, zu Italienreisen in ihrer zweiten Ehe, und bis auf einen Vorbehalt in den Augen – Augen, die in ihrer letzten Lebensphase immer größer geworden waren, als wollte sie auch die kleinsten Anzeichen des sich nähernden Todes sehen, um noch dagegenhalten zu können – schien sie jetzt dem Frieden mit mir zu trauen, solange wir bei der Schönheit blieben. Ich schob als Dessert ein Pfirsichkompott über den Tisch und machte ihr ein Kompliment: Wie gut sie aussehe heute Abend, eine gut aussehende ältere Dame, und sie drückte mir die Hände, eine Klammer von erstaunlicher Kraft, als könnte sie damit ein Band, das es so nie gab, doch noch herstellen, das schlichte Lebensband zwischen Mutter und Sohn. Iss das, sage ich zu ihr – irgendwie immer noch an dem Tisch, der alte Sohn und seine unsterbliche Mutter – und warte, bis sie die drei überweichen Pfirsichhälften gegessen hat, mit einer Langsamkeit, als müsste sie schwer daran kauen oder kaute an etwas ganz anderem, dann reicht sie mir die leere Schüssel, damit ich sie vor ihre Tür stelle, auf eine dortige Ablage, von der sie, wie von Geisterhand, über Nacht fortgetragen wird. Kein benutztes Geschirr soll bei ihr stehen und Gerüche verbreiten oder Fliegen anziehen und sie womöglich zwingen, die Balkontür zu öffnen. Wollen wir jetzt zum Bett gehen, sage ich und helfe ihr vom Stuhl auf, eingestellt auf kleinere Schreie; immer ist der Griff unter den Armen nicht zart genug, immer geht


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