Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
und Zerstreuen von Ängsten am Telefon, die Stunde jenseits aller Vernunft, hätte sie in ihren letzten Jahren wohl den Verstand verloren – wie jeder, der am Ende nur noch sich selbst hat, und damit zu viel vom selben.
Das Telefon war für meine Mutter die Öffnung zur Welt, lange ein Sprachrohr, zuletzt nur noch Hörrohr, aber das Erstere hat sich mehr eingeprägt. Und so vermisse ich manchmal ihre helle, überdrehte Stimme, ihre Freude am Telefon über meine Freude, wenn mir etwas gelungen ist, und ihre Art, wie sie sich bei Anfeindungen mitempört und mir Trost zugesprochen hat. Sie war eine begabte Trösterin und selbst zuletzt untröstlich. Zwei Jahre vor ihrem Tod hatte sie aufgehört zu lesen, sie konnte den Büchern nichts Hilfreiches mehr entnehmen. Und dabei war sie zeitlebens eine Leserin, mehr in Romanen zu Hause als in ihrer Wohnumgebung, in sogenannten Guten Büchern mit den ewigen Themen Glaube, Liebe, Hoffnung und Tod. Sie schätzte das literarische Ringen bedeutender Männer um Erkenntnis und Vollendung, von Marc Aurel über Augustinus bis Montaigne und Goethe, von Flaubert über Proust und Joseph Conrad bis zu Thomas Mann. Alles Neuere, Zeitgenössische blieb ihr dagegen fremd, war nur Abbild einer unappetitlichen Gegenwart. Sie wollte von der Welt, die sie umgab, im Grunde nichts wissen, sie lebte nicht in ihr, sie lebte neben ihr, und das nicht aus Ignoranz, sondern aus Angst. Sie fühlte sich dieser Welt gegenüber zu wehrlos. Wie manche wehrlos sind durch ihren Ernst, der keine Witze verträgt, war sie wehrlos durch Dünnhäutigkeit. Alles von außen Kommende, ob ein unbekannter Mensch oder auch nur die schlechte Neuigkeit in den Nachrichten, konnte durch ihre Schwachstellen ungehindert in sie eindringen. Und der Sohn hat versucht, diese Stellen, die immer mehr zu einer einzigen, mit ihrem ganzen Wesen einhergehenden Schwachstelle oder umfassenden Schwäche wurden, absurderweise dingfest zu machen, mit Mitteln, die einem Nagel glichen, den man probeweise in bestimmte Bereiche der Wand schlägt, um ihre Festigkeit zu prüfen. Ich versuchte es mit Scherzen und Ironie, einer stichelnden Sprache, ohne zu merken, dass meine Mutter, selbst im Bett noch mit einer wärmenden Jacke, auch dem leisesten Scherz oder Wortwitz bis ins Mark ausgeliefert war. Sie hatte keine schützende Haut mehr, da gab es nur noch eine überempfindliche Hülle, um darauf wattehafte Liebkosungen zu empfangen, ein Berühren als schlichte Bejahung – Ja, ich bin bei dir, ja, du bist die, bei der ich sein will, bei der ich bin, um sie zu streicheln, weil ich sie liebe –, vom Sohn erst spät erkannt, zu spät. Das Bild einer Divahaften mit Muttergebärden war fast bis zuletzt stärker als das der Hinfälligen, auf gespenstische Weise noch unterstützt vom fehlenden Bild der stillenden Mutter.
In ihrem Bericht zum vierzehnten Ehejahr, zu neunzehnhundertachtundfünfzig, -neunundfünfzig, heißt es am Schluss: Im Februar verließ uns Annegret nach so langer Zeit, und nun war ich eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben Hausfrau und Mutter, für die Kinder da! (Der Sohn neun zu dem Zeitpunkt, die Tochter fünf, und die Geborgenheit in dem Haus mit Garten, das ein Elternhaus war, wenige Jahre nur, aber für die Kinder das Korsett um ein zerbrechliches Inneres, ging schon dem Ende entgegen, ohne dass die Chronistin es vermerkt hätte, nur gespürt hat sie es wohl, dass der Kirchzartener Boden unter ihren Füßen kein fester mehr war.) Wir führen jetzt ein friedliches Familiendasein, ich brutzle sogar abends in der Küche, dann gibt es Schnitzel, auch wenn mir manchmal etwas verbrennt, und ich bete darum, dass uns dieses so friedliche Glück hier noch ein bisschen erhalten bleibt.
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