Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff
immer wieder, und er zerreißt das Blatt und versucht es noch einmal, bis der Block aufgebraucht ist.
Erneut ist also keine Zeichnung, in dem Fall all der Versuche, etwas von der Mutter festzuhalten, übrig geblieben, wie Jahre zuvor in Hamburg die gezeichneten Querschnitte großer Schiffe, um so ihr Wesen zu erfassen; geblieben aus den Tagen des vergeblichen Zeichnens ist nur ein kleines Schwarzweißfoto mit welligem Rand. Meine Mutter – zur Zeit der Aufnahme Anfang dreißig – ist von vorn zu sehen in ihrem Liegestuhl, die Unterschenkel leuchten, die Füße in hellen offenen Schuhen stehen auseinander, die Knie berühren sich; sie trägt einen nach oben gerutschten, eher jedoch hochgezogenen Rock, damit die Beine freiliegen. Die Schatten auf dem Bild sind kurz, wohl ein Julimittag – im Hintergrund heuende Bauern –, die Frau im Liegestuhl nimmt ein Sonnenbad, seitlich neben dem Stuhl ihr Neunjähriger in der Hocke. Er trägt Sandalen, Badehose und ein kurzärmliges Hemd, sein linkes, der Kamera zugewandtes Bein ist ebenfalls deutlich im Bild; beide haben wohlgeformte Beine, die des Sohns wirken schon nicht mehr kindlich, wenn auch weniger gezirkelt als die zur Schau gestellten. Ja, er besteht überwiegend aus den Beinen in der Hockstellung, das Gesicht von der Kamera abgewandt, ist nur Körper auf dem Foto und doch Leib und Seele in der Haltung: die eines Sohns, der mit einer im Liegestuhl sitzenden Mutter auf Augenhöhe geht. Und offenbar schauen wir uns auch in die Augen, obschon nur ihre zu sehen sind, der Blick darin etwas zwielichtig, bühnenhaft, als gelte er einem Schauspielerkollegen in einem Salonstück, keinem Kind am Rande einer Sommerwiese. Der mütterliche Mund ist leicht geöffnet, sie sagt etwas oder will gerade etwas sagen, etwas wie: Wir zwei Hübschen, nicht wahr? Und vielleicht summt oder singt sie auch, was sie in solchen Augenblicken dann oft leise gesungen hat, Schau mich bitte nicht so an, ich weiß genau, ich kann – Pause, Pause – dir dann nicht widerstehen.
Es war und ist ein Lied wie eine zarte Umarmung von hinten, besonders wenn es, teils gesprochen, teils gesungen, zu einer Anrede wird, der man außer Schweigen nichts entgegenhalten kann; noch in ihrem letzten Appartement am Alpenrand hatte sie es bei einem meiner zu kurzen Besuche, als ich abends an ihrem Bett saß, gesummt, und später, in der Dusche des Gästezimmers (in der immer ein zurückgelassenes Shampoo meiner Schwester stand) kehrte die Melodie wieder und hielt sich bis in den Schlaf. Und dann gab und gibt es auch noch das andere Lied, das mich als Kind, wann immer mein Vater irgendwo war, nur nicht in unserer Nähe, mehr als erreicht hatte, das von der kleinen Konditorei – ja, da sitzen wir zwei bei Kuchen und Tee, meine Mutter und ich, und das elektrische Klavier, das klimpert leise eine Weise von Liebesleid und Weh.
Sie gingen mir im Bett des Gästezimmers kaum mehr aus dem Kopf, die beiden Lieder, ihre Melodien mischten sich, wie durch eine Verwandtschaft in der Tonlage – ich bin kein Kenner von Musik, nur ein Hörer, der auch die Musik in der Sprache hört. Gute Nacht, hatte meine Mutter mit einer gewissen Kühle am Ende des gemeinsamen Abends gesagt, und als ich am nächsten Tag, nach ihrem Frühstück und dem Zurechtmachen für mich und ihrer Erholungsphase, um genau halb zehn ihre Tür mit dem Besucherschlüssel öffnete, abzugeben am Schluss des Besuchs an der Rezeption im Foyer, und das Appartement betrat, an ihr Bett kam, erklärte sie mit der gleichen Kühle, ich sei nicht rasiert, und zeigte ein kleines fahriges Kopfschütteln, womit es alles andere war als eine Bagatelle, denn wer weiß, wem ich im Haus begegnet sein konnte, womöglich der Leiterin des Stifts. Weil ich aber meine Reisetasche dabeihatte, um gleich nach dem Abschied aufbrechen zu können, schlug sie eine Rasur in ihrem Bad vor – Schnell noch für deine Mutter, sagte sie, und der Sohn tat dort, was getan werden musste, damit der Abschied an dem Vormittag ein guter Abschied würde, schon allein dadurch, dass sie das Resultat prüfen durfte. Sie strich mir über Kinn und Wangen und nahm Schaumreste vom Hals; sie fand keine Stoppeln, auch keine Schnitte, sie fand nur etwas in ihrem Gedächtnis.
Dein Vater, eröffnete sie mir ganz überraschend, hat sich oft geschnitten beim Rasieren und immer Fetzen von Klopapier darauf gedrückt, so hat er dann gefrühstückt, mit diesen kleinen roten Fetzen im Gesicht, nicht nur zu Hause, auch wenn wir in einem Hotel oder schönen Gasthof waren, saß er morgens so da, Fetzen am Kinn und am Hals, und nie fiel einer herunter – ob ich gut gefrühstückt habe, unterbrach sie sich selbst und sah auf die Uhr. Sie wollte die Verabschiedung, ehe die Putzfrau erschien, ich aber wollte noch etwas über sie und meinen Vater wissen, wo in einem schönen Gasthof sie beide gewesen seien, und wie am Abend zuvor kam ihr kleines fahriges Kopfschütteln, das auch ein vergebliches Abschütteln von Erinnerung war – Wo, mein Gott, wo, in Tirol, in der Sommerfrische, da hat er uns einmal besucht, musst du nicht zum Zug? Sie kannte meine Abfahrtszeit, sie kannte auch die Fahrzeit mit dem Taxi bis zum Bahnhof Tegernsee, sie kannte den Preis und die pünktliche Fahrerin; noch hätte ich etwas bleiben können, fünf Minuten, aber sie bat schon um den Abschiedskuss, den einen auf den Mund. Und als ich wieder aufsah, lag sie – und liegt in der Erinnerung auch weiterhin – schmal und blass im Bett, groß nur die Augen, darin ein Blick von lautloser Klarheit: Ich weiß, dass ich allein hier liegen muss, geh jetzt. So blieb nur noch, Auf Wiedersehen zu sagen, das eine unabdingbare Wort, die Tasche zu nehmen und eben zu gehen. Ich gab den Besucherschlüssel im Foyer ab und nickte Herrn Abban zu, der auch schon vormittags an seinem Platz saß, angezogen wie für den Abend im Restaurant; das Taxi aber stand bereits, überpünktlich, vor dem Eingang.
8
Ja, einmal tauchte mein Vater – nicht weniger überraschend, als er in meiner alten Mutter mit der Klopapierfetzengeschichte wieder lebendig geworden war – im Gasthof Vordergrub auf. Er entstieg seinem grauen VW mit geteilter Heckscheibe, für den herbeigeeilten Sohn noch immer der Dunkelhäutige mit Fez, heldenhaft heimgekehrt von einer Schiffsreise, seine junge Frau aber begrüßt ihn als Helden der Landstraße und einer Firma, die er vor dem Untergang bewahrt. Also schmiegt sich der Sohn an den, an den sich auch die Mutter schmiegt, und spürt das vertraute Holzbein; er wird sogar hochgehoben und nimmt einen Geruch nach Zigaretten und Rasierwasser auf, nach Schweiß von der langen Fahrt und auch etwas nach Wein. Der Held, der Vater, nennt den Sohn beim Namen, ohne den Namen abzuwandeln, und der Benannte äußert seinen heißesten Wunsch: mit der Seilbahn auf das Kitzbüheler Horn zu fahren. Nur einer, der im Krieg gekämpft hat, im Panzer saß, kann diesen Wunsch erfüllen, mit ihm in eine schwankende Gondel steigen und über Abgründe schweben, niemals die, die schon bei dem Gedanken an Abgründe wilde Bewegungen macht und ruft, keine zehn Pferde brächten sie in eine Seilbahn. Der Vater dagegen steckt sich eine Reval an – wie der immer noch hochgehobene Sohn das verfolgt, die Art, ein Streichholz anzureißen und nach dem Entzünden der Zigarette die Flamme auszuschütteln, den ersten Zug zu tun und den Rauch aus der Nase strömen zu lassen, um dann unvergessene Worte zu sagen: Söhnchen, wir fahren da gleich morgen hinauf.
Und in einer Gondel ganz für uns schwebten wir am nächsten Tag bei strahlendem Wetter auf das Kitzbüheler Horn zu, hoch über Tannenspitzen und steilen Matten, über Almen und Felsschründen und einer Schlucht – mit sachtem Schaukeln geht es bergan, fast geräuschlos, das Gondelfenster weit offen. Es ist Mittag, es ist heiß, der Vater hat das eine Hosenbein etwas hochgezogen und sogar auch das andere ein Stück, so, als wäre noch sein eigener Knöchel darunter und keiner aus Holz, und der glückstrunkene Sohn, trunken in dem seltenen Gefühl, einen Vater zu haben und über ihn gebieten zu können, möchte die Geschichte von dem fehlenden Bein hören. Etwas davon kennt er ja schon, das mit dem Stahlsplitter, der ins Knie dringt, ohne dass es gleich schrecklich wehtut, und nun will er die ganze Geschichte hören, schwebend zwischen Himmel und Erde. Und der Vater erzählt, wie sein Panzer, der Panzer des Kompanieführers, in Russland von einer Granate getroffen wurde und ihm, der den Angriff geleitet hat, der daumengroße Splitter in die Kniescheibe drang, und das an seinem Geburtstag, dem siebenundzwanzigsten. Zuerst war da für ihn, so erzählt er es noch einmal, gar kein richtiger Schmerz, nur etwas Heißes im Knie, er konnte sich sogar bewegen, sich aus dem brennenden Panzer retten. Und eine verirrte Kugel erwischt mich dann am Hintern, sagt er, eine, die zum Glück schon austrudelte – das war sein Wort dafür –, und zum Glück schneit es auch, Pech für die russischen Scharfschützen, alles Frauen mit ruhiger Hand, und irgendwie kommt dein Vater auf einen anderen Panzer, hält sich dort den Hintern und ist froh, dass er lebt – siebenundzwanzig, und nur ein blöder Splitter im Knie, so geht es ins nächste Feldlazarett, ein paar Zelte in einem Birkenwald. Und da liegst du dann, wartest, dass etwas passiert, während um dich herum Geschrei ist, einer kein Gesicht mehr hat und sie einem