Dämmer und Aufruhr. Bodo Kirchhoff

Dämmer und Aufruhr - Bodo Kirchhoff


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       für Nina, in brüderlicher Dankbarkeit

       Was ich soeben geschrieben habe, ist falsch. Ist richtig. Ist weder falsch noch richtig, wie alles, was man über diese Verrückten schreibt, über die Menschen.

       Man spricht in seiner eigenen Sprache, man schreibt in einer fremden.

      (Jean-Paul Sartre, Die Wörter)

      1

      Wer spricht da, wenn einer von früher erzählt, auf sein erstes Glühen in der Kindheit blickt, wessen Stimme macht hier den Anfang, sagt Es war einmal – ein unvergesslicher, gültiger Alpensommer. Jubelrein der Himmel, wie gestochen die Berge, die Spitzen, hell ihre Hänge und Matten, bläulich der Wald darunter, dunkel ein Moorsee zum Baden; und oberhalb des Sees ein Gasthof mit Gewölbegang, davor zwei Liegestühle auf fetter Wiese, in einem, das Gesicht verdeckt, ein Kind mit Sonnenhut, im anderen die noch junge Mutter, tagelang seine Allmächtige. Der Hut gehört ihr, das Kind trägt ihn samt der Idee, ihn zu tragen, wie es auch, ganz kleingeduldiger Kavalier schon, die Badetasche trägt, wenn es zum See geht. Fiebrige Tage sind das, eins fließt ins andere, das Himmelsblau ins dunkle Wasser, tanzender Heustaub im Hausgewölbe in das Wirken einer Spinne, der Glanz ihrer Fäden in den Schimmer der Mutterbeine. Sie sonnt sich in Shorts, welch ein Wort aus ihrem Mund. Beim Aufbruch zu dem Gasthof war sie noch im Wollrock trotz der Hitze am späten Vormittag, als alles Sichtbare schon etwas Vollendetes hatte, der Wald, die Wiesen, die Almen, darüber das Geröll, der Fels – Herrgott, ist das schön!, ihr verzückter Ausruf oder die denkbare Zeile unter einem Foto von Mutter und Sohn, Frühsommer zweiundfünfzig.

      Die junge Mutter präsentiert sich, Hände an den Hüften, der Kamera, darin ein Rollfilm, sechs mal neun, schwarzweiß, während das Kind, blinzelnd blicklos, am Rand eines Feldweges auf dem gemeinsamen Koffer sitzt – eine Abschiedsszene, aber Abschied von wem? Das Foto zeigt nur, wo die Szene stattfand, in der Umgebung von Kitzbühel, mit dem Wilden Kaiser im Hintergrund. Die Erinnerung reicht jedoch über das Bild hinaus, sie hat auch eine Tonspur, und da gibt es noch einen zweiten Ausruf, ein Abschiedswort als Stoßgebet, wie es nur von der Wiener Mutter der Mutter gekommen sein kann: Gott beschütz dich und die Mammi! Das saß. Lange vor der Schule, dem Alphabet, zerlegte der so Beschützte die Wörter, die ihn umschwirrten, Mammi, Kitzbühel, Gott; kein Ich ohne Sprachtheater, und das leichteste Spiel hatten die Selbstlaute, das A, das I, das Ü, das O. Erst will man den klangvollsten Buchstaben, später das letzte Wort – als der, der sich hier erinnert, längst Vater der Frau mit Kind und Koffer hätte sein können, erschien ihm die Anrede Mutter als einzig schlüssige, wann immer er die besuchte, deren Sommerkavalier er einst war. Nur gab es noch ein späteres Wort, das aber nicht dem gehörte, der es aussprach – wenn ich leise stockend am Telefon Mütterchen sagte, Mütterchen, wie geht es dir heute?

      Die junge Frau auf dem Abschiedsfoto ist Schauspielerin, Ende des Sommers wird sie in Hamburg wieder auf einer Bühne stehen. Ihr Fach: die flattrige Schöne, die dem Helden den Kopf verdreht, die noch verpuppte Dame, auch dafür hat der kleine Sohn schon Augen, sie sind ihm früh geöffnet worden, Schau, das bin ich, die rauchende Dame auf dem Zeitungsbild! Dazu kommt noch eigener Eindruck, wenn er im Souffleusenkasten des Deutschen Schauspielhauses sitzen darf; dort hört er die vertraute und doch andere Stimme von der Bühne und sieht die Beine der Dame Mammi – zwei Wörter, zusammengeschnürt ein treffliches Wort, Damemammi. Ihre Beine verlieren sich in einem Dunkel unter dem Rock, das für den Dreijährigen schon kein Dunkel mehr ist, weil er auch dabei sein darf, wenn die Mutter massiert wird, entblößt auf dem Bett, mal in Bauch-, mal in Rückenlage. Es ist ein Zuschauen mit großen Augen, Wonneaugen genannt, Augen, denen nichts anderes übrig bleibt, als wieder und wieder hinzuschauen, bis das Erspähte, Geschaute, zur inneren Welt wird, so gültig wie die Sommertage mit Damemammi oberhalb des Moorsees.

      Der schönste aller Kitzbüheler Sommer, hieß es mit leisem Seufzen, wann immer das Aufbruchfoto später von Hand zu Hand ging. Erst seufzte die Wiener Großmutter (bis zu ihrer Hochzeit mit einem deutschen Offizier Mitte der zwanziger Jahre Primadonna an der Volksoper in Wien), dann seufzte ihre Tochter, die junge Schauspielerin, und zuletzt der, der sich auf dem Koffer sitzen sah, um sich mit dem Seufzer auch schon erinnerungsselig zu geben: Ja, dieser Sommer, die Tage in dem Gasthof bei Kitzbühel, der Aufbruch dorthin! Mutter und Sohn sind sichtlich zu zweit, mit nur einem Koffer, die Person, die das Foto macht, kommt nicht mit – hätte das auch der Vater sein können? Auf keinen Fall; er ist nicht nur in der Szene abwesend, er ist überhaupt ein Abwesender während der Sommerfrische, wie die Urlaubszeit in der noch wienerischen Welt der Großmutter heißt. Nein, der Vater ist in Hamburg, er versucht dort finanziell auf das Bein zu kommen, das ihm nach dem Krieg geblieben ist; die beiden Frauen, Mutter und Tochter, und der knapp Vierjährige sind ohne ihn mit dem Nachtzug nach Kitzbühel gereist. Erst verbringt man ein paar gemeinsame Tage im Gasthof Vordergrub unterhalb des Kitzbüheler Horns, dann separiert sich die junge Schauspielerin mit ihrem kleinen Kavalier, und bei dem Aufbruch sitzt er in kurzer Lederhose auf dem Koffer, die Hände im Schoß gekreuzt. Zu der Lederhose trägt er ein helles Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, seine Füße stecken in Söckchen und Halbschuhen, die nicht ganz den Boden erreichen, obwohl er auf einem Koffer von nur mittlerer Größe sitzt, in praller Sonne, daher das blicklose Blinzeln; der Koffer wirft kaum einen Schatten, es ist ein Mittag Anfang Juli, um seinen Geburtstag herum. Und dann geht es ein Stück über den Feldweg bis zur nächsten Straße, wo ein mondgelber Postbus für die zwei Fahrgäste anhält. Der Bus fährt nach Kitzbühel hinein, und die Mutter grüßt fremde Leute, die zusteigen. Der dort ist ein Herr, sagt sie dem Kind ins Ohr, und die da ist eine Frau, keine Dame, siehst du’s? Und das Kind nickt und sieht aus dem Fenster. Die Fahrt geht auf ein Tor zu, gleich daneben ist ein Kino mit Schrift über dem Eingang – Lichtspiele, spricht die Mutter mit Theaterstimme. Nach dem Tor geht es bald aus dem Ort hinaus, auf einer Landstraße zum nahen Schwarzsee. Dort verlassen sie den Bus bei einer Badeanstalt, und die Mutter sieht schon den alten Gasthof mit Holzbalkonen und überdachtem Glöckchen auf dem Giebel. Schau, das ist das Glöckchen, das zum Essen läutet, sagt sie. Aber auch läutet, wenn ein Gewitter droht. Und wehe, man ist dann nicht rechtzeitig im Haus, hörst du? Und das Kind lauert von da an auf das Läuten.

      Der Gasthof liegt an einem flachen Hang, unten eine Weide für Kühe mit prallem Euter, weiter oben eine Wiese für plustrige Hühner, und durch beides führt ein schmaler Weg. Damemammi trägt den Koffer, aber ihr Begleiter hilft, zwei Hände um einen Griff. Erst vor dem Gartenbereich des Gasthofs wird der Weg breiter und führt an Sträuchern entlang, kleine rote Beeren glänzen in der Sonne, und die Mutter schenkt dem Kind ein Wort, Ribiseln. Sie pflückt zwei der Beeren, nimmt eine in den Mund, kaut sie und schüttelt sich leicht und gibt die andere dem Kind, und es zerbeißt sie und schüttelt sich auch. Und wieder tragen sie beide den Koffer, es geht an Beeten vorbei, darin rote, grüne und blaue Kugeln auf Stöcken, ein buntes Gefunkel. Gegen die Vögel, sagt die Mutter, aber überall zwitschern Vögel, und Schwalben schießen unter dem Dach des Gasthofs hervor. Eine Frau tritt ihnen entgegen, Die Frau Wirtin, heißt es, und die Frau Wirtin begrüßt sie mit einem wie in Nase und Rachen erzeugten Singsang, den die Angekommene sofort nachahmt, ja übertrifft. Als Nächstes erscheint ein Knecht, so wird es dem Kind leise gesagt: Schau, das ist der Knecht vom Haus. Er bittet um den Koffer, damit er ihn aufs Zimmer bringt, so kann es gleich zum Mittagessen gehen, durch den Gewölbegang in die Wirtsstube, wo es nach Fett und Schnittlauch riecht. Sie haben einen Ecktisch, den besten am Fenster, auf dem Tisch ein Glasständer mit einer Vertiefung für Salz und einer für Pfeffer und in der Mitte einem Hals, aus dem Zahnstocher ragen; und die Teller mit dem Essen, das schon gebracht wird, haben ebenfalls drei Abteilungen, für das Schnitzel, für die Erdäpfel, für den Gurkensalat. Zu trinken gibt es ein Kracherl in der Farbe der Ribiseln, so


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