Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Reinhard Mohr
REINHARD MOHR
Deutschland
zwischen
Größenwahn
und Selbstverleugnung
Warum es keine Mitte
mehr gibt
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1. eBook-Ausgabe 2021
© 2021 Europa Verlag in der Europa Verlage GmbH München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Redaktion: Franz Leipold
Layout & Satz: Buchhaus Robert Gigler, München
Gesetzt aus der Minion Pro und der Bauer Bodoni
Konvertierung: Bookwire
eISBN 978-3-95890-400-2
Alle Rechte vorbehalten.
INHALT
DAS DEUTSCHE SELBSTBILD – ZERRISSEN WIE EH UND JE
Eine kleine Typologie des »Deutschlandgefühls«
DEUTSCHLAND PEINLICH VATERLAND
Über den ewigen Selbstverdacht
WARUM DER POLITISCHE ZEITGEIST KEINE MITTE MEHR KENNT
Struktureller Moralismus als Ersatzreligion
IST EIN NEUER REALISMUS MÖGLICH?
Ausblick auf die Bundestagswahl
»Sie sind wirklich die nettesten Leute mit einem großartigen Sinn für Humor und versuchen immer zu helfen. Nur zwei Stereotypen sind wahr: Die Deutschen lieben Pünktlichkeit und Regeln.«
Alexej Nawalny, 2021
»Was wird bloß aus unsern Träumen
In diesem zerrissnen Land
Die Wunden wollen nicht zugehn
Unter dem Dreckverband
Und was wird mit unseren Freunden
Und was noch aus dir, aus mir –
Ich möchte am liebsten weg sein
Und bleibe am liebsten hier
am liebsten hier.«
Wolf Biermann, 1976
VORWORT
Die Suche der Deutschen nach sich selbst, nach ihrer Identität, nach dem Woher und Wohin ist notorisch, geradezu sprichwörtlich.
In seinem Buch »Lauter letzte Tage« stellte der Autor Friedrich Sieburg, einst selbst vor extremistischen Anfechtungen nicht gefeit, 1961 fest, Deutschland schwanke stets »zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Not und Überfluss, zwischen Übermut und Reue« – »Hochmut und Zerknirschung« –, »oft beiden Extremen zur gleichen Zeit hingegeben«. So lebe »es seit eh und je, niemals zu einer natürlichen Klarheit über sich selbst gelangend …«
Englands legendärer Premierminister Winston Churchill sah die Deutschen entweder »an der Gurgel« ihrer Feinde oder zu ihren Füßen. Unterwürfigkeit und Heldenmut, Kleingeistigkeit und Großmachtstreben, philosophische Grübelei und mörderische Effizienz – es gibt viele Aspekte jener deutschen Zerrissenheit, unter der schon Heinrich Heine und Kurt Tucholsky litten. »Deutschland, aber wo liegt es?«, fragte Friedrich Schiller 1796 in seinen »Xenien«. »Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf.« Damals bestand das, was man im weitesten Sinne Deutschland nennen konnte, aus etwa 300 Königreichen, Fürstentümern, Kleinstaaten und Grafschaften, die lose miteinander verbunden waren, aber jeweils eigene Zölle erhoben und teils eigene Währungen hatten. Ein irrer Flickenteppich.
Die faustische Frage, was die Deutschen im Innersten zusammenhält, ist weltberühmt, aber bis heute unbeantwortet. Berüchtigt jene »Innerlichkeit«, für die es keine Übersetzung in andere Sprachen gibt. Begriffe wie Gemüt, wahre Empfindung und innere Natur gehören ebenso zu ihr wie der Luther’sche Protestantismus der einsamen Gewissenserforschung, der deutsche Idealismus, der mit seinem freien Ich eine ganze Welt erschaffen wollte, und das In-sich-gekehrt-Sein des romantischen Wanderers durch den dunklen Wald. »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«, dichtete Heine, der doch eigentlich längst zum Pariser Weltbürger geworden war.
Immer noch und immer wieder kommt es zum letztlich ergebnislosen Streit über Begriffe wie Nation, Heimat und Leitkultur. Allenfalls dienen sie zur politischen Denunziation: Wer von Heimatgefühlen und deutscher Kulturgeschichte spricht, landet stracks im rechten Abseits. Und wer den Amtseid im Bundestag – »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde« – auch auf die Beschaffung möglichst vieler Impfdosen bezieht, ist rasch ein »Impf-Nationalist«, wenn nicht gleich ein »Impf-Nazi«.
Es ist ein Phänomen: Trotz aller historischen Veränderungen, nach zwei Weltkriegen, deutscher Teilung, Europäischer Union, Mauerfall und Wiedervereinigung ist das Selbstbewusstsein der Deutschen, unter denen inzwischen ein gutes Viertel nichtdeutscher Herkunft lebt, immer noch von Extremen geprägt: einerseits diffus und unsicher, andererseits radikal und ideologisch. Die Corona-Krise hat diese Ausprägungen noch deutlicher hervortreten lassen. Die Talkshowgestützte Daueraufgeregtheit ist pandemisch geworden. Eine einigermaßen realistische Selbstwahrnehmung im globalen Kontext hat es erst recht umso schwerer in Zeiten, da die Skandalisierungs- und Empörungskultur des Internets und der Sozialen Medien, verstärkt durch »Cancel Culture«, »safe spaces« und politische Korrektheit, einseitige, vermeintlich einzig wahre Sichtweisen bis hin zu Verschwörungstheorien zu bestätigen scheinen. Vor lauter Rassismus, Sexismus, Rechtsextremismus und Nationalismus, inmitten all der »Lügenpresse«-Rufe und »Volkstod«-Prophezeiungen erkennt manch braver Bürger sein eigenes Land nicht wieder, die gute alte Bundesrepublik.
Linksaußen warnt die »Nie-wieder-Deutschland«-Fraktion vor dem ewigen Faschismus, rechtsaußen kämpfen »Reichsbürger« und Neonazis gegen »Volksverräter«, während die grüne Moralisten-Vereinigung überzeugt ist, dass »gerade wir« als geläuterte Deutsche berufen