Existenzanalyse und Logotherapie. Alfried Längle
entstammt das intentionale Gerichtetsein des Menschen auf Welt (auf »Alterität«, also auf etwas oder jemanden, der nicht »Ich« ist, sondern ein »anderer«) und zugleich auf sich selbst (Selbstsein). So gesehen kann man auch sagen, dass der Mensch durch seine Veranlagung einerseits (Personsein) und durch das konstitutive Eingebundensein in Welt andererseits ein lebenslanges Verlangen nach Antworten auf die Welt hat (man kann dies auch als »Ur-Intentionalität« bezeichnen). Die unaufhebbare, auf Dialog angelegte Beziehung zur Welt und zu sich selbst wird in der EA als Ursprung der Dynamik des personalen Ichs angesehen. Sie ist die zentrale theoretische Basis psychotherapeutischen Arbeitens.
In einem solchen Verständnis von Existenz ist Freiheit das zentrale Theorem, auf deren Entwicklung und deren Einsatz die ganze Arbeit in der EA ausgerichtet ist. Damit stehen die Selbstpositionierung und Entschiedenheit des Menschen im Mittelpunkt. Dank ihrer kann der Mensch sich als Gestalter seines Daseins erleben. Durch ihren stimmigen Einsatz kann er sich mit seinem Dasein identifizieren und sein Handeln verantworten. Im täglichen Lebensvollzug wird der Einsatz der Freiheit in Form der emotional empfundenen Zustimmung zu dem, was man tut oder lässt, vollzogen (
Durch das starke Einbeziehen der Phänomenologie in die psychotherapeutische Praxis entstand eine eigenständige Vorgehensweise (Längle 2014a). Damit hat sich die EA weit entfernt von einem appellativen Prozedere, wie Frankl (1982a, S. 143) es für die LT vorgab, nämlich an die »bewusst gewordene Freiheit zu appellieren« und so den Menschen in seine Verantwortung zu führen. Die phänomenologische Haltung brachte auch eine eigenständige Emotionslehre hervor und führte zum stärkeren Einbezug der Gefühle als Drehscheibe in der Praxis. Als phänomenologische Psychotherapie setzt die EA am subjektiven Erleben der Klienten3 bzw. Patienten sowie der Therapeuten an und bringt diese Wahrnehmungsformen in einen partnerschaftlichen Dialog. Beides – die Phänomenologie und der hohe Stellenwert der Emotionalität – führte zur Entwicklung einer spezifischen Vorgehensweise, der Personalen Existenzanalyse (PEA) (Längle 2000a) und zur Implementierung biografischen Arbeitens (Kolbe 1994), was Frankl als der LT widersprechend abgelehnt hatte (Längle 1991). Um die notwendige Epoché (d. h. die »Einklammerung« des Vorwissens und der eigenen, »privaten« Interessen und Dynamiken) erreichen zu können, wurde in der Ausbildung ein erhöhtes Maß an Selbsterfahrung (die Frankl ebenso strikt abgelehnt hatte) erforderlich (Längle 1989; 1996).
Diese Entwicklungen, verbunden mit einem knappen Dutzend von methodischen Anwendungen, macht die EA bei allen psychischen, psychosomatischen und psychosozialen Erlebnis- und Verhaltensstörungen anwendbar und verleiht ihr eine empirisch überprüfbare Effizienz.
1 In der Tradition V. Frankls wird die Schreibweise »existentiell« mit t beibehalten, die früher auch als eine offizielle Schreibweise galt.
2 Vgl. https://www.univie.ac.at/logotherapy/institute_wwD.html (12.09.2019) und Bücher von Frankl: https://www.univie.ac.at/logotherapy/buecher_von_vf.html.
3 Der leichteren Lesbarkeit halber wird das generische Maskulinum für die Bezeichnung aller Geschlechter verwendet.
2 Verwandtschaft mit anderen Verfahren
2.1 Humanistische Psychotherapierichtungen
Die EA ist auf Person und Existenz fokussiert. Dies sind genuin humanistische Themen. Die EA wird daher im Allgemeinen den humanistischen Psychotherapierichtungen zugerechnet (Kriz 2014a; Bühler und Allen 1983; Hutterer 1998). Sie stellt mit ihrer existentiellen Ausrichtung aber eine eigene Strömung innerhalb des humanistischen Paradigmas dar. Die humanistischen Richtungen eint vor allem die Gemeinsamkeiten in der Anthropologie: der mündige Mensch, der frei ist im Erleben und Entscheiden und so seine Existenz aktiv gestaltet. Dabei erlebt er, dass ihn sein Handeln sowohl in die Welt einbindet als auch ihn zugleich an sich zurückbindet durch seine Urheberschaft der Wirkung auf andere. Dies stellt den Menschen in seiner Freiheit unabdingbar in eine Verantwortlichkeit für sein Handeln. Dieses Menschenbild ist ganzheitlich: »In der Humanistischen Psychotherapie wird der Mensch holistisch gesehen, also in seiner […] Ganzheit, in seiner Geschichtlichkeit, also seiner Vergangenheits- und Zukunftsorientiertheit, sowie in seiner Fähigkeit zur Introspektion und zu reflexivem Denken.« (Eberwein 2012, S. 505) Darüber hinaus sind diese Richtungen auch durch ähnliche philosophische Wurzeln verbunden, durch den gemeinsamen historischen Hintergrund und ihre Ablehnung deterministischer sowie reduktionistischer Erklärungsmodelle in der Psychotherapie (Kriz 2014a, S. 185–192; Stumm 2000). Hier finden sich große Übereinstimmungen der EA mit anderen humanistischen Verfahren wie der Gesprächspsychotherapie, der Gestalttherapie oder dem Psychodrama.
Merke
Die Existenzanalyse ist eine existentielle Richtung der humanistischen Psychotherapie.
Jedoch gibt es auch Unterschiede: Die Akzentuierung der EA liegt mehr auf dem freien Willen, der Entschiedenheit und Weltoffenheit sowie einer dialogischen Abstimmung mit der Welt (Verantwortlichkeit) als es in den humanistischen Verfahren zumeist üblich ist. Damit sieht sie den Menschen – vor dem Hintergrund der unaufhebbaren Eingebundenheit in seine Welt – stärker auf die Welt bezogen als manche andere humanistischen Verfahren. Denn das innere Wachstumspotential, das in der humanistischen Psychologie im Vordergrund steht, ist in der existentiellen Sicht im Hintergrund. Die Aufgabe des Menschen wird darin gesehen, sich für die Aufgaben und Angebote der Welt offen zu halten und auf sie einzugehen, um so zur Wirkung zu kommen – und weniger in der selbstorganisierten Entfaltung von Potentialen (Selbstverwirklichung, Aktualisierungstendenz) (Rogers 1981, S. 65; Kriz 2006a; Revenstorf 2003). Der Dialog und die Begegnung sind in der EA sowohl für das gesunde psychisch-geistige Leben als auch für die Heilung von Störungen die Grundlage. Die Durchführung des Dialogs wird in der EA als gemeinsames Suchen verstanden. Das bedeutet, dass auch die Therapeuten im Verlauf des Gesprächs ihre eigene Sicht und Stimmigkeit den Klienten mitteilen. Da dem dialogischen Basistheorem der EA (
2.2 Tiefenpsychologisch fundierte Richtungen
Die Tiefenpsychologie fokussiert besonders die Psychodynamik, also jene Triebkräfte und Bedürfnisse, die zum größten Teil ihre Wirkung am Bewusstsein vorbei und daher unbewusst entfalten. Der Psychodynamik wird in der EA nicht jener hohe, gerade durch die Unbewusstheit so dominierende Stellenwert für die Gestaltung der Existenz zugesprochen wie in den tiefenpsychologischen Konzeptionen. Daher wird ihr in der EA nicht systematisch nachgegangen, sondern jeweils nur, wo sie den existentiellen Vollzug behindert. Dann wird die Psychodynamik auch ein bedeutsamer Aspekt der therapeutischen Arbeit (im Unterschied zur Logotherapie, wo sie in die Behandlung