Europas kleine Tiger. Christine Sonvilla
Ich weiß nur zu gut, wie zermürbend es manchmal sein kann, auf ein Foto hinzuarbeiten und sich Monat für Monat nur mit der Fehlerbewältigung herumzuschlagen. Mal fällt die Technik aus, mal setzt der Regen die Blitzgeräte unter Wasser, ein andermal gibt der Akku der Kamera w. o. oder der Bewegungsauslöser feuert wegen eines Sturms auf Dauerschleife und füllt die Speicherkarte gleich in einer Nacht. Jetzt kommt noch hinzu, dass Südslowenien, von meiner steirischen Wahlheimat Mürzzuschlag aus gesehen, nicht gerade ums Eck liegt und Kontrollen der Ausrüstung maximal im Monatsrhythmus möglich sind.
Wir folgen Klemen mit unserem Auto, lassen die 16 000-Einwohner-Stadt Kočevje hinter uns und sind schon nach wenigen Minuten umgeben von Buchenwäldern. Die schmäler werdende Straße schraubt sich über mehrere Kehren ein paar Höhenmeter nach oben, genug, um im Rückspiegel das sich ausbreitende Waldmeer der Region zu erspähen. Gleichzeitig entfaltet sich in meinem Kopf die Landkarte, die mir Urša Fležar Anfang des Jahres geschickt hat. Als Klemen unvorhersehbar von der Schotterstraße – auf der wir mittlerweile unterwegs sind – in eine hochstehende Wiese abbiegt, ist mir klar, dass der schwarze Kartenpunkt schon recht nahe sein muss. Mit unserem Jeep schlurfen wir langsam hinterher, bis uns ein Feld voll mannshoher Farne stoppt.
»Am besten, ihr nehmt gleich alles mit, es geht steil bergauf«, rät uns Klemen. Wir schultern die ganze Ausrüstung, inklusive Hammer, Machete und Holzpflöcke – man muss für jede Eventualität gerüstet sein – und stapfen hinterher, vorbei an knorrigen Rotbuchen, über umgestürzte Stämme, durch raschelndes Laub, immer bergauf, bis wir den karstdurchfurchten Kamm erreichen. Mit unzähligen Spalten, kleinen Höhlen und Überhängen bietet sich hier nicht nur der Wildkatze eine verschwenderische Auswahl an Unterschlüpfen.
Normalerweise hat Klemen seine Wildkameras an diesem Platz positioniert. »Zu manchen Zeiten waren schon drei Stück parallel im Einsatz, um alle möglichen Winkel einzusehen«, erzählt er uns und fährt fort: »Hier geht kein Mensch, das sind alles Tierpfade.« Überall dort, wo sich Erde und Laub zwischen den Karstfurchen verdichtet haben, verlaufen Miniaturautobahnen für Hirsche, Füchse, Bären und natürlich Wildkatzen. »Im Winter, während der Paarungszeit, ist mehr los, aber es kann immer klappen«, macht uns Klemen Mut. 30 bis 40 Mal im Jahr würde die Wildkatze bei seinen Kameras vorbeilaufen, im Winter sogar mehrmals im Monat. »Und was ist deine Erfahrung im Sommer?«, wollen wir wissen. »Da bekomme ich sie im Schnitt nur einmal monatlich zu sehen«, antwortet Klemen. Wir wissen, der Juli ist alles andere als optimal. Egal, einen Versuch ist es immer wert, also legen wir los.
Die Zeiten ändern sich
Frank Bohlem aus Nordrhein-Westfalen ist hauptberuflich Industriekaufmann. Seine Freizeit verbringt er aber am liebsten in der Natur, als Jäger: »Ich habe 2010 meinen Jagdschein gemacht«, erzählt er mir. Die Motivation dafür war die Wildkatze. »Wie sollte ich die scheuen Tiere denn sonst zu sehen bekommen?«, erklärt er die Logik. Wenn er nachts zum Ansitz fahre, begegne er ihr öfters, achtmal habe er im letzten Jahr Glück gehabt. »Es ist spannend zu beobachten, wie vorsichtig sie sich bewegt, ganz ähnlich wie das Rotwild.«
Ob Freizeit- oder Berufsjäger, die Wildkatze ist für viele mittlerweile mehr Faszination als Schrecken, das bestätigt auch Miroslav Vodnansky, der am Mitteleuropäischen Institut für Wildtierökologie in Wien forscht. »Viele Jäger, die einen breiteren Blickwinkel haben, sind sehr angetan von der Art, finden sie faszinierend oder zumindest interessant. Die meisten aber stehen ihr einfach neutral gegenüber.« So tönt es auch von Christopher Böck: »Sie ist eine Randwildart, die für uns kein großes Thema ist.« Die Hauskatze sei dagegen ein anderes Kaliber. Der Chef der oberösterreichischen Jäger steht mit dieser Einschätzung nicht allein da. Die IUCN listet die Hauskatze unter den 100 Worst Invasive Species, also den schlimmsten invasiven Arten99, die weltweit eine Bedrohung für viele andere Tierarten darstellen. Dass Jäger in manchen (Bundes-)Ländern gesetzlich dazu berechtigt sind, streunende Katzen, die sich mehr als 300 Meter vom nächsten bewohnten Haus entfernt haben, abzuschießen, wird an diesem Umstand allerdings nicht viel ändern.100 Ganz abgesehen davon, dass der massive Rückgang von Singvögeln, Reptilien oder Amphibien wohl kaum allein den Hauskatzen in die Schuhe geschoben werden kann, wenn gleichzeitig rasenrobotergepflegte Gärten und ausgeräumte Kulturlandschaften dominieren.101
Den Waidmännern selbst geht es auch viel eher um den Schutz des freilebenden Wildes, für das Hauskatzen eine Gefahr darstellen würden.102 Diese in Österreich, der Schweiz oder Bayern103 übliche Abschusspraxis ist aber vor allem auch eine Gefahr für die Wildkatze, die sich von einer getigerten Hauskatze nur schwer unterscheiden lässt, insbesondere im Dämmerlicht. Böck betont: »Wir versuchen, unsere Jäger für die Wildkatze, ihr Verhalten und ihre Lebensweise zu sensibilisieren, und appellieren an alle, nicht von dem Gesetz Gebrauch zu machen, wenn ihr Revier in einem dezidierten Wildkatzengebiet liegt.« Aber reicht das aus? Aktuell ist die Wildkatze quer durch Mitteleuropa, auch in Österreich, in Ausbreitung begriffen. Wo sie als Nächstes auftaucht, lässt sich nur ungefähr prognostizieren. Versehentliche Abschüsse könnten Neubesiedlungen einen gravierenden Dämpfer verpassen.
Während sich die Jägerschaft in vorsichtiger Toleranz übt, tun sich viele Förster von Haus aus leichter damit, der Wildkatze unvoreingenommen entgegenzutreten. Markus Wunsch ist trotzdem ein bemerkenswerter Vertreter seiner Zunft. »Ich versuche so naturverträglich wie möglich zu arbeiten, damit alle Tiere, nicht nur die Wildkatze, einen Lebensraum haben.« Für ihn lassen sich Ökologie und Ökonomie verbinden, zur gleichen Zeit und auf derselben Fläche. »Ich mache gelegentlich Femelhiebe, d. h. ich fälle alle 100 Meter zehn Bäume, damit wieder mehr Licht auf den Boden kommt«, sagt Wunsch. Das Holz kann er verkaufen, viele Waldtiere profitieren von der entstandenen Lichtung und der Wald verjüngt sich. 4800 Hektar Wald betreut er südlich des Nationalparks Eifel im deutsch-belgischen Grenzgebiet, dort, wo die Wildkatze selbst in der Zeit der größten Verfolgung nie ganz verschwunden war. Mindestens vier verschiedene Wildkatzen, die er zum Teil auch regelmäßig sieht, streifen durch sein Revier. Damit das so bleibt, schafft er nicht nur Lichtlöcher im ansonsten dunklen Wald, sondern legt auch Reisighaufen oder dauerhafte Holzstapel an, die sich genauso gut als Verstecke eignen wie umgestürzte Wurzelteller, vermodernde Baumstämme oder verbuschte Waldränder voller Hartriegel, Schlehen, Berberitzen und Haselnüsse. Manche Ecken dürfen sich sogar weitgehend selbstbestimmt entwickeln.
Markus Wunsch lässt aber auch für sich arbeiten. »Fuchs und Wildkatze sind meine Mitarbeiter, sie fangen Mäuse, die sonst überhandnehmen und sämtliche Samen und damit Bäume wegfressen würden. Wenn die beiden da sind, brauche ich keine Chemie!«
Erkenntnisse wie diese teilt er glücklicherweise nicht nur mit mir, sondern auch mit vielen anderen. Er ist einer von rund 100 Wildkatzenbotschaftern, die seit 2014 auf Impuls des BUND, des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland, quer durchs Land aktiv sind.104 Warum er dafür bzw. überhaupt als Naturbotschafter die ideale Besetzung ist, lässt sich erahnen, als er mir eine Antwort auf die Frage gibt, inwiefern Wildkatzen, auch unabhängig von der Ökologie, wichtig für uns sind: »Wenn ein kleines Kind die Wahl hat, eine Maus oder einen Löwen als Spielfigur auszusuchen, nimmt es zu 99 Prozent den Löwen. Raubtiere sind größer, anmutig und ein Stück weit identitätsstiftend, für unsere Wälder und für uns selbst.« Ohne die Raubtiere, die großen wie die kleinen, fehlt etwas. Dieses Gefühl kenne ich nur allzu gut. Der Wald erscheint ohne sie leer. Doch die meisten Menschen, sobald sie dem Spielzeugalter entwachsen sind, sehnen sich heutzutage vor allem nach einem: Sicherheit. Raubtiere passen schlecht in dieses Schema.
Darüber hinaus fungieren Tiere ja nicht nur als Dekogegenstände. »Nehmen wir den menschlichen Körper als Beispiel. Wenn wir zu wenig trinken, dehydrieren wir, bis irgendwann unsere Organe versagen. Wenn ich Tiere aus dem Wald nehme, dem Wald sinnbildlich sein Wasser entziehe, verhält es sich ganz ähnlich«, gibt Förster Wunsch zu bedenken. Unser Handeln zieht jeden Tag Konsequenzen nach sich. Sichtbar werden diese aber oft erst zeitversetzt, sodass wir die Folgeerscheinungen gar nicht mehr mit unseren ursprünglichen Handlungen in Verbindung bringen. Stichwort Klima- und Biodiversitätskrise. »Wenn die Tiere fehlen, wissen wir nicht, was mit dem Ökosystem Wald passiert, wie es sich weiterentwickelt«,