Europas kleine Tiger. Christine Sonvilla
Abschüsse des sogenannten »Nutzwildes«, also von Rehen oder Hirschen, erzielen.38 Dass Beutegreifer für die Stabilität, Balance und Gesunderhaltung der Ökosysteme, in denen sie leben, von fundamentaler Bedeutung sind, war damals noch niemandem bewusst. Man freute sich eher darüber, Prämien für erlegtes Raubwild ausgezahlt zu bekommen. Der Ritter von Kobell gibt in seinen bayerischen Jagdgeschichten einen Einblick, in welcher Höhe diese ausfielen. Für den Umkreis des Tegernsees spricht er von einem »Schußgeld« von 1 Florint in den Jahren 1606 und 1750. Allerdings sei die Wildkatze nur einmal im Verrechnungszeitraum zwischen 1734 und 1786 aufgeschienen, was wohl an der Seltenheit der Tiere in Bayern liege.39 Ein Florint entspricht einem Reichsgulden, der wiederum 60 Kreuzer wert war. 1741 erhielt ein Maurer einen Tageslohn von 24 bis 40 Kreuzern, als Hofstuckateur um 1770 gab es dagegen schon ein bis zwei Gulden pro Tag.40 Das Erlegen Wildkatze wurde offenbar nicht schlecht bezahlt.
Fang- und Abschussprämien für verschiedene Raubtiere waren in vielen Ländern Mitteleuropas bis zum Ersten Weltkrieg üblich, teils auch darüber hinaus.41 In Frankreich flossen sogar bis in die 1970er-Jahre Prämien für Wildkatzen.42 Befeuert wurde die Verfolgung indirekt durch die fortschreitende Rodung und Umwandlung der letzten Urwälder in monotone Forste. Damit verschwanden nicht nur zahlreiche Unterschlüpfe und damit wertvoller Lebensraum, sondern die Prämienritter hatten in den ausgeräumten Wäldern dazu noch leichteres Spiel, mit dem verhassten »Raubzeug« fertigzuwerden.43
Der Vernichtungsfeldzug zeigt Wirkung
Das einst ausgedehnte Verbreitungsgebiet der Europäischen Wildkatze, das sich abgesehen von Skandinavien über ganz Europa und Teile Vorderasiens erstreckte44, musste der aggressiven Verfolgung zusehends Tribut zollen. Ab dem 19. Jahrhundert ging es rapide bergab. In Deutschland dürfte es um die 1850er-Jahre zwar noch ganz gut um die Wildkatzenbestände bestellt gewesen sein, doch bis in die 1930er schrumpfte ihr Hoheitsgebiet auf wenige Refugien im Pfälzerwald, in der Eifel und im Harz.45 In der Schweiz galten die Samtpfoten für rund 25 Jahre überhaupt als ausgestorben,46 bis 1972 ein Silberstreifen am Horizont erschien. Michel Fernex, ein naturbegeisterter Medizinprofessor aus Genf, entdeckte am Glaserberg, unmittelbar nördlich der Schweizer Grenze im französischen Jura, eine Wildkatzenfährte.47 Tatsächlich verbarg sich dahinter eine kleine lokale Reliktpopulation, die auf einer Fläche von rund 30 Quadratkilometern überdauert hatte und vermutlich davon profitierte, dass das Gebiet während des Zweiten Weltkrieges evakuiert worden war und mit der Zeit sukzessive verwilderte. Von dort aus breitete sich die Art wieder aus und um 1986 ließen sich die ersten verräterischen Pfotenabdrücke auch im schweizerischen Jura wieder ausfindig machen.48 Ob die Wildkatze wirklich ganz ausgerottet war oder doch in einem versteckten Winkel zu überdauern vermochte, bleibt für immer ein Rätsel. Ähnliches trifft auch für Österreich zu, allerdings mit einer noch ausgeprägteren Durststrecke. Im Süden, im Kärntner Rosental und in der Steiermark, hielt die Wildkatze am längsten durch, bis etwa 1952.49 Danach herrschte für rund 50 Jahre Funkstille, ehe ein Jäger versehentlich einen Wildkatzenkater am Rand eines Maisfeldes im Klagenfurter Becken erlegte. Das war 1996. Zehn Jahre später das nächste »Lebenszeichen«, im Gailtal wurde ein junges Männchen überfahren.50 Der Weg zurück ist zäh.
Fell, Fleisch und Fett im Visier
Man möchte nicht glauben, wie viele Praktiken unsere Ahnen ausgeschöpft haben, um dem vermeintlich gefräßigen Treiben von Felis silvestris Einhalt zu gebieten. Alfred Brehm, der fast als Fürsprecher für die Tiere in die Bresche gesprungen ist, beschreibt in seinem ersten Band über »eine allgemeine Kunde des Thierreichs« lapidar: »Bei uns zu Lande erlegt man sie gewöhnlich auf Treibjagden.«51 Die Katzen versuchten dabei, sich vor den Hunden der Jäger auf die Bäume zu retten, tappten so in die Sackgasse und wurden einfach heruntergeschossen.52 Ein Zeitgenosse von Brehm empfahl acht verschiedene Fangapparate, um der Tiere habhaft zu werden.53 »Man […] läßt sie durch Hunde aus ihrer unterirdischen Wohnung herausholen, räuchert oder haut sie aus den hohlen Bäumen heraus, fängt sie wie den Marder in Schlagbäumen54, zieht sie durch den nachgemachten Laut eines Häschens oder einer Maus herbei oder lockt sie ins Tellereisen oder in den Schwanenhals durch einen frischen Vogel, den man mit Katzenkraut gerieben hat.«55
Ein solcherart präparierter Vogel baumelte als Köder vom Baum, direkt über einem Fangeisen, das darauf wartete zuzuschnappen. Zu »bethören und ans Eisen zu bringen« wären sie auch »durch eine Witterung aus Mäuseholzschale, Fenchel- und Katzenkraut, Violenwurzel«, die man in Fett oder Butter abdämpfen könne.56
Hätte es damals schon YouTube-Videos gegeben, hätte die Suchanfrage »Wildkatzen effizient ausmerzen« wohl Tausende Videos mit unzähligen Kommentaren und Likes ausgespuckt. Vielleicht wären auch gleich Anleitungen für die weitere Verwertung vorgeschlagen worden, nach dem Motto: Leuten, denen dieses Video gefällt, gefällt auch Folgendes. Foodblogger aus Frankreich und manchen Gegenden Deutschlands hätten Rezepte geteilt, wie das »gesunde, wohlschmeckende Fleisch« punktgenau zuzubereiten sei.57 Selbsternannte Alternativmediziner hätten ihren Followern geraten, das Wildkatzenfleisch »weich gesotten und warm aufgelegt« bei Gichtbeschwerden einzusetzen58 oder das Fett gegen »allerley Glieder-Kranckheiten« aufzutragen.59 Die Influencer der Heimwerkerabteilung wären nicht müde geworden zu betonen, wie ergiebig das Wildkatzenfett in Lampen brennen würde, »länger und heller als Lein- und Rüböl«.60 Und die Fashion-Welt wäre aus dem Schwärmen ob der mannigfaltigen Qualitäten des Fells gar nicht mehr herausgekommen. Denn in der Tat war das Fell, auch wenn es als nicht so langlebig galt, begehrt wegen seiner schönen Zeichnung61, aber auch wegen der gleichzeitigen heilenden Wirkung. »Wassersüchtige und korpulent geschwollene Leute« sollten das Fell »mit den Haaren auf bloßer Haut tragen«.62 Für die Modebewussten bot sich das Elsass an, wo Kürschner besonders warme Westen fertigten, die als »Wildkatzenbrustduoch« beliebt waren.63
Im Gegensatz zum verderblichen Fleisch und Fett ließ sich mit dem Fell auch gut Handel treiben, »vorzüglich in Polen«64 oder auch auf dem Balkan. Vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts stand es dort hoch im Kurs. »In Bulgarien«, erzählt mir die ansässige Biologin Diana Zlatanova, »erfreuten sich Wintermäntel aus Wildkatzenfell sogar bis in die 1970er-Jahre großer Beliebtheit, bis sie schließlich in den 1990ern langsam aus der Mode kamen.« Die Biologin besitzt außerdem ein antiquarisches Buch, das mir einen kleinen Einblick verleiht, wie viele Felle einst kursierten.65 Zu verdanken sind diese Aufzeichnungen den damaligen Hygienemaßnahmen. Alle Händler, die im 18. Jahrhundert in Dubrovnik einreisen wollten, mussten für eine gewisse Zeit in Quarantäne, um die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten zu unterbinden. Das war offenbar schon damals kein unbedeutendes Thema. Ihre Waren – Kleider, Lebensmittel, Felle und vieles mehr – wurden einstweilen in einem Lager untergebracht. Um die deponierten Habseligkeiten später wieder entgegennehmen zu können, bekam jeder Händler eine Quittung ausgestellt. Diese uralten Schriftstücke vom Hafen in Dubrovnik verraten uns heute etwa, dass Stanisha Sharovich am 4. April 1732 90 Wildkatzenfelle kurzfristig abgeben musste. Manche Händler hatten auch nur ein halbes Dutzend im Gepäck, Simon Budmani dagegen reiste im März 1750 mit 81 Wildkatzen- und Dachsfellen und Mitar Stepanovic, der aus Widin, einer Stadt im äußersten Nordwesten Bulgariens gekommen war, führte im Mai 1766 zwei Stapel Felle mit sich, ebenfalls von Wildkatze und Dachs. Wie viel in einen Stapel passte, das verrät die Quittung allerdings nicht. »Die hier gehandelten Felle stammten mit Sicherheit nicht nur aus Bulgarien, sondern aus verschiedensten Regionen des Balkans. Einige der Händler waren auch in Bosnien und Albanien unterwegs«, erklärt mir Wildkatzenforscherin Zlatanova. Ob in so manchen Kellern und Dachböden noch heute Überbleibsel davon lagern? Wer weiß.
Wildkatzen in Rage
Was wir schon eher wissen, ist, dass es den Jägern offenbar jedes Quäntchen Heldenmut, das in ihren Adern floss, abverlangte, an die begehrten Felle zu gelangen. Denn immerhin nahmen sie es mit dem kolportierten »Ozelot der