Europas kleine Tiger. Christine Sonvilla
annähernd gleich viele Menschen, rund 45 Prozent, Zeit in unbezahlte Arbeit, vor allem Sportvereine stehen hoch im Kurs.11 Beim Umwelt-, Natur- und Tierschutz ist mit 3,5 Prozent Beteiligung in der Bevölkerung noch Luft nach oben.12
Für mich selbst stellt sich die Frage nach dem Wert gar nicht, einfach deshalb, weil mich jede Tierart, mit der ich mich intensiver beschäftige, fasziniert. Die Wildkatze bildet da keine Ausnahme. Sie ist aber auch unabhängig von meiner wohlwollenden Voreingenommenheit deshalb spannend, weil sie sich mancherorts in Europa wieder ausbreitet, Lebensräume in Anspruch nimmt, bei denen man das nicht für möglich gehalten hätte, und sie trägt in ihrem Namen jenes Prädikat, das in Europa seit einigen Jahren immer mehr Gewicht bekommt: die Rückkehr des Wilden. Auf keinem anderen Kontinent erleben wir aktuell ein vergleichbares Comeback der Wildtiere. Wisente, Wildpferde, Bären, Wölfe, Luchse oder Vielfraße, sie alle werden entweder aktiv gefördert oder wandern von selbst wieder ein. Fast alle Länder Festlandeuropas verfügen über zumindest eine große Beutegreiferart, die sich fortpflanzt und dauerhaft ansässig ist.13 Die Europäische Wildkatze – wenn auch ein kleines Raubtier – ist eine strahlkräftige Botschafterin für das Wiedererstarken des Wilden in unserer Mitte. Vielleicht kann sie sogar als Vermittlerin für ihre großen, teils noch sehr unbeliebten »Kollegen« agieren.
Die Wildkatze taucht in unseren Breiten unstet, aber immer wieder einmal in Tageszeitungen, TV und Rundfunk auf. Sie fungiert als Protagonistin in Kinderbüchern, in Bildbänden; unlängst erschien sogar ein mehrfach ausgezeichneter Film über die Rückkehr der Wildkatze nach Thüringen14. Die Fülle an wissenschaftlicher Literatur – seit der Monografie von Rudolf Piechocki – ist sowieso überbordend, und skurrilerweise begegnet einem das aparte Tier – wenn auch in anderer Gestalt – sogar in Dreigroschenromanen. Zu den Klassikern zählen wohl der »Der Highlander und die Wildkatze«, »Der Pirat und die Wildkatze« oder mein Favorit »Die Zähmung der Wildkatze«. Dann mal viel Glück beim Zähmen …
Ein umfassender Blick auf diese charismatische Art, von den schottischen Highlands bis hin zum Kaukasus, vom Ätna bis hin zu den Karpaten, fehlt aber bis dato und das ist der Ansporn für dieses Buch. Freilich komme auch ich nicht drum herum, Mitteleuropa und speziell Deutschland verstärkt ins Visier zu nehmen, aber ich gelobe, immer wieder über den Tellerrand unserer unmittelbaren Nachbarschaft hinauszulinsen, um so tief wie möglich in die Faszination Wildkatze einzutauchen.
Nach wie vor sind viele Menschen quer durch Europa der Meinung, dass die Wildkatze nichts anderes sei als eine verwilderte Hauskatze. Im Griechischen gibt es nicht einmal einen Unterschied zwischen den beiden Wörtern: »Wildkatze und Streunerkatze klingen bei uns genau gleich«, erzählt mir die Forscherin Despina Migli.
Dabei haben wir es mit einer eigenständigen Art zu tun, die in Europa vor ungefähr 450 000 bis 200 000 Jahren erstmals aufgetaucht ist15 und aktuell in 34 Ländern unseres Kontinents vorkommt. Konkret sind das Großbritannien mit Schottland, Portugal, Spanien, Andorra, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, die Schweiz, Deutschland, Österreich, Italien, die Slowakei, Tschechien, Polen, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Albanien, Bulgarien, Rumänien, der Kosovo, Nordmazedonien, Griechenland, die Türkei, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Russland, Moldawien und die Ukraine.16 Vollständigkeit muss sein.
Die für Wildkatzen geeigneten Lebensräume quer durch Europa sind aber keineswegs vollständig besetzt. Die Art lebt in größeren und kleineren Populationen, die ein zum Teil stark voneinander isoliertes Dasein fristen. Das bedeutendste geschlossene Wildkatzenvorkommen Mitteleuropas erstreckt sich derzeit von der Eifel im Westen Deutschlands, über die französischen Vogesen bis hin zu den Ardennen Belgiens und Luxemburgs.17 Allein im Pfälzerwald, der im rheinland-pfälzischen Teil der Eifel liegt, werden 3000 Wildkatzen vermutet.18
Mit genauen Zahlen ist das aber so eine Sache. Kaum ein Wissenschaftler, ich korrigiere, kein Wissenschaftler freut sich, danach gefragt zu werden. Die genaue Anzahl durch unsere Länder streifender Wildkatzen ist einfach viel zu schwer abzuschätzen. Einzig für Deutschland existieren gegenwärtig verlässlichere Angaben, die auf intensiven Erhebungen mithilfe der Lockstöcke und auf der Zusammenarbeit mit dem Senckenberg Forschungsinstitut fußen, das in puncto Wildkatzengenetik europaweit führend ist.
Da aber die Systematik der Felidae, der Familie der Katzen, 2017 komplett überarbeitet wurde, findet gerade eine Neubewertung von Status und Gefährdungsgrad der Europäischen Wildkatze statt, inklusive des Versuchs, ihr zahlenmäßig beizukommen. »Vernünftige Zahlen fehlen europaweit, aber mithilfe der vorhandenen Dichteangaben arbeitet die IUCN, die Weltnaturschutzunion, gerade intensiv daran, Schätzungen zu generieren, freilich mit gewissen Schwankungsbreiten«, erzählt mir dazu Peter Gerngross. Der in Wien ansässige Wildkatzenexperte ist Teil der IUCN Cat Specialist Group, die für die Neubewertung verantwortlich ist. Dichteangaben sind in der Tat das Einzige, was einem entgegenspringt, wenn man auf der Suche nach Zahlen in der Literatur stöbert. Im Schnitt rechnen die Experten in geeigneten Landschaften Mitteleuropas mit einer Dichte von zwei bis fünf erwachsenen Wildkatzen pro zehn Quadratkilometern.19 Auf der Fläche des bayerischen Chiemsees würden also statistisch gesehen 16 bis 40 Wildkatzen Platz finden.
Mancherorts in Europa sind die heimlich lebenden Katzen auf dem Vormarsch, etwa in der Schweiz, wo sie sich ausgehend vom Jurabogen über das teils flache, teils hügelige Mittelland in Richtung Alpen auszubreiten scheinen. In Deutschland sorgte ein im Straßenverkehr verunglücktes Tier, das im Herbst 2018 nur 25 Kilometer südlich von Berlin entdeckt wurde, für Furore.20 Damit gab es erstmals einen Hinweis auf Wildkatzen in Brandenburg. Auch in der Lüneburger Heide Niedersachsens, an der Pforte zu Hamburg und damit so weit nördlich wie noch nie zuvor, haben Wildkatzen schon Lebenszeichen von sich gegeben. Anders präsentiert sich die Lage dagegen rund 1800 Kilometer Luftlinie weiter südwestlich in Europa. Während es florierende Populationen im Norden der Iberischen Halbinsel gibt – vom Kantabrischen Gebirge bis hin zu den Pyrenäen im spanisch-französischen Grenzgebiet –, steht es um jene weiter südlich deutlich schlechter. Vom gesamten Balkan hört man keine Wehklagen, dafür kämpfen die schottischen Wildkatzen ums pure Überleben.
Abgesehen von Schottland gibt es inselbewohnende Wildkatzen nur auf Sizilien und möglicherweise auf Kreta. An das Vorkommen auf der griechischen Insel ist allerdings ein großes Fragezeichen geheftet. »Wenn es sich tatsächlich um Felis silvestris handeln sollte, dann müssen die Tiere ursprünglich von Menschen eingeführt worden sein. Anders ist es nicht nachvollziehbar, wie die Katzen auf das weit vom Festland entfernte Kreta hätten gelangen sollen«, erklärt Peter Gerngross. Es wäre aber auch denkbar, dass es sich bei der vermeintlichen Europäerin überhaupt um eine andere Art, nämlich um die Afrikanische Falbkatze (Felis lybica) handelt. Im »schlimmsten Fall« könnten es schlicht und ergreifend verwilderte Hauskatzen sein. Vom Aussehen her, meint die Griechin Despina Migli, besäßen die auf Kreta beheimateten Tiere Merkmale von beiden Arten, den schlanken Körper hätten sie von Felis lybica, den buschigen Schwanz mit der schwarzen Spitze von Felis silvestris. Eine Untersuchung soll bald Licht in die Angelegenheit bringen. Für die Kreter, die sehr stolz auf ihre mutmaßlichen Europäerinnen sind, bleibt zu hoffen, dass das Ergebnis keine bittere Pille wird.
Auf Sizilien ist die Lage dagegen eindeutig. Aber auch hier fällt die Europäische Wildkatze durch eine Eigenart auf. Im Vergleich zu ihren Artgenossen am Festland findet sich viel mehr Schwarz in ihrer Fellfärbung. Die Unterschiede sind aber meist so fein, dass sie nur den Kennern ins Auge springen, denn im Prinzip schauen die Tiere einander sehr ähnlich, gleich ob sie hierzulande oder an der türkischen Schwarzmeerküste ihrer Wege ziehen. Ihre ockergelbe Fellfarbe erinnert an trockenes Gras und ist durchsetzt von verwischt-schwarzen Tigerstreifen.21 Würde man jedoch den Blick von West- nach Osteuropa schweifen lassen, fiele auf, dass es im Kollektiv gesehen eine leichte Variation gibt, nämlich eine Abnahme der Fellzeichnung – von kontrastreich in Richtung immer verwaschener. Am äußersten Rand der Verbreitung, im Südosten der Türkei und am Südrand des Kaukasus, endet schließlich das Hoheitsgebiet der Europäischen Wildkatze und überlappt mit jenem der Asiatischen Wildkatze (Felis