Grundriss Schopenhauer. Peter Welsen
der Philosophie ab. Schopenhauer entgegnete: »Das Leben ist eine mißliche Sache, ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.« (Gespr 22) Daraufhin änderte Wieland seine Einschätzung und empfahl ihm, doch bei der Philosophie zu bleiben.
1811 wechselte Schopenhauer an die neugegründete »Universität zu Berlin«, nicht zuletzt, um den auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stehenden Johann Gottlieb Fichte zu hören, von dessen Vorlesungen (»Thatsachen des Bewußtseins« im Wintersemester 1811/12, »Wissenschaftslehre« im Sommersemester 1812) er jedoch so wenig angetan war, daß er sie immer wieder bissig kommentierte. Ferner nahm Schopenhauer an Vorlesungen der Philologen Boeckh und Wolf sowie von F. D. E. Schleiermacher teil. Dazu kamen gelegentliche Besuche an der Charité, an welcher der junge Philosoph zwei psychisch kranken Patienten regelmäßig Besuche abstattete, auf die seine späteren Überlegungen zum »Wahnsinn« aufbauen konnten. Insgesamt fühlte sich Schopenhauer in Berlin eher nur mäßig wohl. Davon zeugt, daß er die Stadt als »physisch und moralisch ein vermaledeites Nest« (GBr 338) beschrieb. Nichtsdestoweniger waren seine Überlegungen, die einige Jahre später in Die Welt als Wille und Vorstellung eine feste Gestalt annehmen sollten, so weit gediehen, daß er gegen Ende seines Aufenthaltes notieren konnte: »Unter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Metaphysik in Einem sein soll […]. Das Werk wächst, concrescirt allmählig und langsam wie das Kind im Mutterleibe« (HN I 55). Aufgrund der unsicheren militärischen Situation – nach der Schlacht von Lützen fühlte man sich in Berlin durch die napoleonischen Truppen bedroht – verließ Schopenhauer die Stadt im Mai 1813 in Richtung Weimar. Von dort zog er sich, um seine Dissertation zum Abschluß zu bringen, nach Rudolstadt zurück. Er reichte die Arbeit (Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde), in der er die erkenntnistheoretischen Grundlagen seines Ansatzes darlegt, an der Universität Jena ein und wurde dort im Oktober desselben Jahres in absentia mit der Note magna cum laude promoviert.
In die Zeit, die Schopenhauer anschließend in Weimar verbrachte, fielen zwei wichtige Ereignisse: der Bruch mit der Mutter, der durch den Einzug des Freundes Müller von Gerstenbergk in deren Haus begünstigt wurde, sowie eine Reihe intensiver Begegnungen mit Goethe, in deren Mittelpunkt die Diskussion der Farbenlehre stand. Zwar waren sich beide Denker in der Ablehnung von Newtons einschlägiger Theorie einig, doch Schopenhauer betonte den subjektiven Aspekt der Wahrnehmung der Farben stärker als Goethe und versuchte, diesen von der Überlegenheit seines eigenen Ansatzes mit einiger Vehemenz zu überzeugen. Freilich ließ sich Goethe nicht belehren und brach den Austausch im Frühjahr 1814 ab. Er drückte seine Erfahrung mit dem jungen Philosophen wie folgt aus: »Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden, wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden.«1 Wenig später – im Jahr 1816 – veröffentlichte Schopenhauer seine Theorie unter dem Titel Ueber das Sehn und die Farben. Ebenfalls während des Aufenthalts in Weimar wurde er vom Orientalisten Majer erstmals auf die indische Philosophie – in Gestalt einer von Anquetil-Duperron angefertigten französischen Übersetzung einer persischen Übersetzung einer Auswahl von Texten aus den Upanischaden, die 1801/02 unter dem Titel Oupnekhat erschienen war – aufmerksam gemacht, die ähnlich großen Einfluß wie Platon und Kant auf ihn ausüben sollte: »Ich gestehe übrigens daß ich nicht glaube daß meine Lehre je hätte entstehn können, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in des Menschen Geist werfen konnten.« (HN I 422)
Im Mai 1814 zog Schopenhauer nach Dresden um. Dort verbrachte er in den folgenden Jahren die vielleicht glücklichste, sicher aber die produktivste Zeit seines Lebens, in der es ihm gelang, seinen eigenen metaphysischen Ansatz zu elaborieren und zur Niederschrift zu bringen. Lag seine Erkenntnistheorie bereits mit der Dissertation vor, so entstanden nun die Metaphysik der Natur, die Ästhetik und die Ethik, in deren Zentrum die Lehre vom Willen als dem Ding an sich steht. In dem des Sanskrit mächtigen K. C. F. Krause, der später vor allem in Spanien und Lateinamerika rezipiert werden sollte, fand Schopenhauer einen Gesprächspartner, mit dem er sich über das indische Denken austauschen konnte. Das im Entstehen begriffene Werk enthält nach Auffassung des Autors einen einzigen Gedanken: »Meine ganze Ph[ilosophie] läßt sich zusammenfassen in dem einen Ausdruck: die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens.« (HN I 462) Im Dezember 1818 wurde der – auf 1819 – vordatierte Text unter dem Titel Die Welt als Wille und Vorstellung bei Brockhaus veröffentlicht.
Schon vorher war Schopenhauer zu einer Bildungsreise nach Italien aufgebrochen, die ihn unter anderem nach Venedig, Florenz, Rom und Neapel führen sollte. Als er sich im Juni 1819 in Mailand aufhielt, erreichte ihn die Nachricht von der Insolvenz des Danziger Bankiers Muhl, bei dem Mutter und Schwester ihr gesamtes Vermögen und er selbst ein Drittel des seinen angelegt hatten. Darauf kehrte er nach Deutschland zurück. Anders als seine Mutter und Schwester, die einen wenig günstigen Vergleich akzeptierten, gelang es ihm, sein Kapital vollständig zu erhalten. Als Schopenhauer es vom – inzwischen wieder zahlungsfähigen – Muhl einforderte, konstatierte er diesem gegenüber: »Sie sehn, daß man wohl ein Philosoph seyn kann, ohne deshalb ein Narr zu seyn.« (GBr 69)
Im gleichen Jahr faßte Schopenhauer den Entschluß, sich in Berlin zu habilitieren. Anläßlich der Probevorlesung im März 1820 kam es zu einem Disput mit Hegel, in dem Schopenhauer sachlich recht behielt. Freilich war seine Vorlesungstätigkeit nicht von Erfolg gekrönt. Da er seine Veranstaltung zur gleichen Zeit wie Hegel abhielt, der sich gerade auf dem Gipfel seines Ruhmes befand, stellten sich im ersten Semester seiner Privatdozentur nur wenige Hörer und danach gar keine mehr bei ihm ein, so daß die angekündigten Vorlesungen nicht mehr stattfanden. Dazu kam, daß Die Welt als Wille und Vorstellung nicht die erhoffte Aufmerksamkeit hervorrief. Das Werk verkaufte sich mäßig, und die spärlichen Rezensionen fielen eher negativ aus. Anerkennend äußerte sich lediglich Jean Paul Friedrich Richter, als er das Werk 1824 besprach.
Zum beruflichen Mißerfolg gesellten sich private Probleme. Schopenhauer hatte sich 1820 oder 1821 mit der Chorsängerin Caroline Richter liiert, die sich nach dem Vater ihres ersten Sohnes Medon nannte. Zwar hielt die Beziehung – mit Unterbrechungen – bis 1831, doch war sie von Krisen und Spannungen geprägt. So brachte Richter zehn Monate nach Schopenhauers Aufbruch zu einer zweiten Italienreise (1822–1823) einen Sohn zur Welt, der aus einer anderen Affäre hervorging und von Schopenhauer nicht akzeptiert wurde. Eine tatsächlich auf Schopenhauer zurückgehende Schwangerschaft Richters endete 1826 mit einer Fehlgeburt. Ein durch eine Begebenheit im Jahre 1821 ausgelöster Konflikt wirkte sich ebenfalls belastend aus. Schopenhauer hatte seine Nachbarin Caroline Marquet, die sich widerrechtlich im Vorraum seiner Wohnung aufhielt und sich weigerte, diesen zu verlassen, unter Einsatz physischer Kräfte zur Türe hinausbefördert. Dabei war sie zu Fall gekommen und hatte sich – nach eigener Aussage – mit bleibenden Folgen verletzt. Die von ihr angestrengte Klage führte nach einigem Hin und Her 1827 dazu, daß ihr Schopenhauer bis zu zum Lebensende ein Schmerzensgeld in Höhe von fünf Talern pro Monat entrichten mußte. Ihr Ableben (1841) kommentierte der Philosoph mit den Worten: »Obit anus, abit onus.«2
Auf der Rückreise aus Italien wurde Schopenhauer durch eine Krankheit gezwungen, ein Jahr – d. h. bis Mai 1824 – in München zu bleiben. Die von ihm beschriebenen Symptome deuten auf eine schwere, von psychosomatischen Beschwerden begleitete Depression hin. So notierte er: »Hämorrhoiden mit Fistel, Gicht, Nervenübel succedirten sich […]: dabei ist das rechte Ohr ganz taub.« (GBr 92) Den darauffolgenden Winter verbrachte Schopenhauer in Dresden. Er hatte vor, eine Reihe fremdsprachiger Texte (Bruno: De la causa, principio et uno, Hume: Dialogues Concerning Natural Religion und The Natural History of Religion sowie Sterne: Tristram Shandy) ins Deutsche zu übertragen, doch diese Pläne zerschlugen sich letztlich. Eine Begegnung mit Ludwig Tieck endete mit einem Streit, dessen Gegenstand die Religion war. Schopenhauer hatte sich über Tieck mit den Worten »Was? Sie brauchen einen Gott?« (Gespr 53) lustig gemacht.
Im Frühjahr 1825 traf der Philosoph wieder in Berlin ein und kündigte weiterhin, ohne ein Publikum für sich zu gewinnen, Vorlesungen an. Bemühungen, sich an anderen Universitäten (Würzburg, Heidelberg) zu etablieren, blieben ebenso erfolglos wie der Versuch, seine deutsche Übersetzung des Hand-Orakels von Baltasar Gracián bei Brockhaus zu veröffentlichen. Die einzige Übersetzung, die realisiert wurde und zur Publikation gelangte, war die seiner