YOLO. Paul Sanker
nur braune, speckige Lederhosen und Wämser trugen.
Das war der Magier. Er starrte Shiva unentwegt an und rührte sich nicht.
Hard2drive: Livingdead, dein Auftritt! Schick deine magersüchtigen Freunde zu dem Bürschchen rüber. Und du, Sorc, heiz' den übrigen Typen ein bisschen ein!
Plötzlich schien die Erde zu beben und zu brodeln. Aus immer breiter werdenden Rissen zu Füßen der Gildenmitglieder erhoben sich wie aus Gräbern fünf Skelette und schritten mit Messern bewaffnet auf den Magiertroll zu. Donnergott schloss sich ihnen an.
Währenddessen ergoss sich ein Regen aus glühender Lava auf die fünf Trolle, die auf Shiva einschlugen. Erschreckt versuchten sie, zu fliehen. Der Paladin stürmte zwischen sie und schlug zweien von ihnen die Köpfe ab. Die Übrigen machten sich Richtung Dorf davon.
Inzwischen hatten die Skelette den Trollmagier erreicht. Diesem gelang es, mit dem Schwert zwei der Gerippe zu zerschlagen, doch dann wurde er von Donnergotts Keule mit einem einzigen Hieb ins Jenseits befördert.
Shiva-Warrior hatte sich aus seiner Erstarrung gelöst und torkelte benommen auf seine Gefährten zu. Ohne Wisemans Heilungszauber hätte er den heimtückischen Überfall der Trolle nicht überlebt.
In der Ferne war zu erkennen, dass sich etwa sechzig Trolle im Dorf um das Lagerfeuer versammelt hatten und die Kämpfer mit lautem Heulen und Kreischen erwarteten.
Hard2drive: Also los! Showtime, Freunde! Sorc, mach sie fertig! Alles Weitere erledigen wir.
Der Himmel über dem Dorf verdunkelte sich und ein tosender Sturm entlud sich über den Köpfen der Ungeheuer. Ein Feuerregen prasselte auf sie herab. Im Nu brannten die Hütten nieder. In Panik versuchten die Trolle zu entkommen, sofern sie nicht lebendigen Leibes verbrannten.
Doch nun setzten sich die Gildenmitglieder in Begleitung von zwanzig Skelettkriegern in Bewegung, um den Feind endgültig zu vernichten. Minuten später war das Gemetzel vorbei.
Nicht nur die Waffen der Gildenmitglieder waren danach blutbesudelt, sondern auch deren Rüstungen und die Kleidung. Die Quest war beendet.
Um Hard2drives Rüstung bildete sich eine gleißende, goldgelbe Aureole als Zeichen dafür, dass er das nächste Level erreicht hatte – Level fünfundneunzig. Zufrieden stieß er das blutige Schwert in den Boden.
Die Schatztruhe mit den verzauberten Gegenständen fanden sie in der niedergebrannten Hütte des Magiertrolls. Für jeden Spielcharakter war ein passendes Item dabei.
Deadlysorc bekam einen Ring, durch dessen Zauberkraft Feinde die Orientierung verloren und hilflos umherirrten. Donnergott erhielt ein Amulett, das ihn für zehn Sekunden unsichtbar machte. Wiseman passte ein Paar Stiefel, mit dem er doppelt so schnell laufen konnte wie gewöhnlich. Livingdead nahm sich einen Umhang, der ihn vor Fernangriffen mit Pfeilen und Speeren schützte. Für Shiva-Warrior erwies sich ein Wams als geeignet, das die Angriffsgeschwindigkeit des Schurken verdoppelte.
Schließlich blieb ein schwerer, edelsteinbesetzter schwarzer Armreif aus einem unbekannten Metall übrig. Die Gefährten betrachteten ehrfürchtig den seltsamen Gegenstand.
Donnergott: Da ist was eingraviert. Was steht da?
Wiseman: Es ist schwer zu entziffern. Die eingravierte Schrift ist ziemlich verschnörkelt und fast verblasst. Aber … Augenblick. Gleich hab ich's! Da steht: Armreif des schwarzen Schattenmagiers.
Livingdead: Wer ist denn der schwarze Schattenmagier?
Hard2drive: Völlig egal, wer der Kerl ist oder war. Jetzt gehört das Ding mir.
Damit nahm der Paladin Wiseman den Armreif aus der Hand und streifte ihn sich übers Handgelenk.
Donnergott: Was kann das Teil denn?
Deadlysorc: Ja, genau. Welche Eigenschaften hat es? Feuerzauber? Blitze? Naturzauber?
Wiseman: Oder gibt das Item einen Schutzzauber?
Hard2drive betrachtete den Armreif nachdenklich und schüttelte den Kopf. Keine Ahnung. Aber ich werde schon rauskriegen, was damit los ist.
Die Gruppe säuberte ihre Waffen und machte sich bereit für den Abmarsch.
Hard2drive: So, Feierabend für heute. Ich muss jetzt weg und noch ein paar Videos zurückbringen. Macht's gut, Leute.
Sie verabschiedeten sich voneinander.
Save game und Log-out.
Henrik Wanker fühlte sich todmüde. Ihm war übel – vermutlich von der zu hastig verschlungenen Pizza. Und Kopfschmerzen hatte er auch. Er ging ins Bad, um sich vielleicht doch die Zähne zu putzen und den schlechten Geschmack loszuwerden.
Als er in den Spiegel sah, stieß er ein erstauntes Hä? hervor. An seiner linken Wange klebte ein dünner Streifen angetrockneten Blutes. Hatte er sich beim Rasieren geschnitten? Doch ihm fiel ein, dass er das schon seit zwei Tagen nicht mehr getan hatte. Er wischte sich das Zeug aus dem Gesicht. Da zeigte sich, dass die Haut darunter unversehrt war. Es handelte sich also eindeutig nicht um sein eigenes Blut. Aber wo sollte es sonst hergekommen sein? Seltsam.
Doch dann wurde Henrik vollends von seiner Erschöpfung überwältigt, sodass er die Sache schnell wieder vergaß. Wie er war, noch in Jeans und T-Shirt, torkelte er in sein ungemachtes Bett und schlief auf der Stelle ein.
2 | Der geheimnisvolle Fremde
Am anderen Morgen schlief Henrik Wanker erst mal richtig aus. Er wurde am Samstag dem zwölften Juni, elf Uhr dreißig, von der herrlichen Frühlingssonne geweckt, die in sein Schlafzimmer schien.
Nicht nur wegen des fabelhaften Wetters war er gut gelaunt, sondern weil er sich heute die neue Grafikkarte für seinen Computer kaufen wollte. Die Bildqualität von KoF würde sich deutlich verbessern und das Spiel noch mehr Spaß machen.
Vor zwei Jahren hatte sich Henrik einen neuen Computer angeschafft. In Anbetracht des Fortschreitens der technischen Entwicklung entsprach dieser Zeitraum einer kleinen Ewigkeit. Er hatte damals das Geld dafür seiner Mutter abknöpfen können, weil er ihr vorgeschwindelt hatte, dass er den PC für ein Fernstudium brauche.
In Wahrheit hatte sich seine Mutter nie richtig dafür interessiert, welche Leistungen und Noten Henrik in der Schule erzielte. Hauptsache, sie wurde nicht durch irgendwelche blauen Briefe, die ins Haus flatterten, oder durch sonstigen Ärger belästigt. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass seine Mutter jemals einen Elternsprechtag wahrgenommen hatte. Es war ihr nicht nötig erschienen, weil sie die Ansicht vertrat, dass Lernen Henriks Angelegenheit sei und nicht die ihre. Außerdem habe sie viel zu wenig Zeit für so blödes Gequatsche wie: Wo soll der nächste Schulausflug hingehen und wer kann beim nächsten Martinslaternen-Basteln helfen? Dafür sei ihr die Zeit zu kostbar, hatte sie behauptet.
Womit seine Mutter jedoch damals ihre Tage verbracht hatte, wusste Henrik bis heute nicht. Auf seine Nachfragen hatte sie nur geantwortet, dass sie geschäftlich auf Reisen sei und er sowieso nicht verstünde, was sie Bedeutungsvolles zu erledigen habe. Später beschränkte sie sich darauf, ihn von oben herab anzufahren, dass es ihn nichts anginge, was sie mache. Er solle lieber froh sein, dass er Geld von ihr zugesteckt bekomme. Also hörte er auf, Fragen zu stellen.
Er hatte die Gesamtschule als kaum mittelmäßiger Schüler durchlaufen, sich aber dennoch dazu entschlossen, das Abitur zu machen. Nicht etwa, weil ihn der Ehrgeiz gepackt hatte, sondern weil sein Eintritt ins Arbeitsleben dadurch um drei Jahre aufgeschoben wurde.
Vom Wehrdienst war er verschont geblieben, weil er extrem kurzsichtig war und Senkfüße hatte.
Mit neunzehn Jahren machte Henrik sein Abitur mit einem Notendurchschnitt von drei Komma vier. Damit war klar, dass eine glanzvolle Karriere als Arzt oder Anwalt schwierig sein würde, und er selbst bezweifelte, mit Afrikanistik oder dem Studium marokkanischer Volkstänze rasch viel Geld verdienen zu können.
Sein Vorschlag, daher erst mal ein oder zwei Jährchen zu Hause in Ruhe darüber nachzudenken, wie er seine sicher glanzvolle Karriere