Predigen. Timothy Keller

Predigen - Timothy Keller


Скачать книгу
Arten Aufmerksamkeit wecken und beibehalten und Aussagen betonen und gewichten.

      Das sah Calvin nicht anders. In seinem Kommentar zu 1. Korinther 1,17, wo Paulus sagt, dass er bei der Predigt des Evangeliums auf „kluge Worte“ verzichtet, fragt Calvin: „Aber steht die Beredsamkeit in unversöhnlichem Widerspruch zum Evangelium? Ist eine Predigt schon verfälscht, wenn sie in schönen Worten gehalten wird?“ Und er antwortet: „Damit verdammt Paulus nicht allgemein jede [rhetorische] Wissenschaft und Bildung als christusfeindlich …“16 Paulus warnt lediglich vor einem Missbrauch der Rhetorik, bei dem diese zum Selbstzweck wird und mit ihrem unterhaltsamen Zierrat die Schlichtheit der biblischen Botschaft mit „Wortglanz und Prunk“ überlagert.17 Lange Geschichten, eine blumige Ausdrucksweise und dramatische Gesten können die Aufmerksamkeit der Zuhörer fesseln, während die Botschaft des Textes untergeht.

      Calvin fährt fort, dass wir weder die schlichte noch die rhetorisch gekonnte Darbietung der Wahrheit verachten dürfen, solange beide im Dienste des Bibeltextes stehen. „Damit ist nicht jede Redekunst in der Predigt verworfen; sie ist gut, wenn sie … unter Beweis stellt, dass sie dem Evangelium den ersten Platz einräumt und ohne Selbstgefälligkeit dem Herrn zu dienen bereit ist.“18 Eine Predigt sollte weder eine menschliche Show sein, die bloß unterhaltsam ist, noch ein trockenes Auflisten von Sätzen und Wahrheiten. Echte, geistliche Beredsamkeit hat aus der leidenschaftlichen Liebe des Predigers zur Wahrheit des Evangeliums zu entspringen sowie aus der Liebe zu den Menschen vor ihm, deren ewige Seligkeit davon abhängt, ob sie diese Wahrheit annehmen oder nicht.

      Letztlich ist der Prediger immer zwei Hauptinstanzen verantwortlich: dem Wort Gottes und dem menschlichen Hörer. Es genügt nicht, den Weizen zu ernten; wir müssen ihn auch so zubereiten, dass er essbar wird, sonst kann er die Menschen nicht satt machen. Eine gute Predigt entspringt aus einer doppelten Liebe – der Liebe zum Wort Gottes und der Liebe zu den Menschen, die den Wunsch in uns weckt, ihnen Gottes wunderbare Gnade zu zeigen. Und so gilt: Allein Gott kann Herzen öffnen, aber die Menschen, die sein Wort weitergeben, haben die Aufgabe, es treu und genau darzulegen und für die Herzen und das Leben der Zuhörer aufzuschließen.

      Christus predigen

      Die möglicherweise wichtigste Bibelstelle über die Predigt ist 1. Korinther 1,18–2,5.19

      Als ich zu euch kam, Geschwister, um euch das Geheimnis zu verkünden, das Gott uns enthüllt hat, versuchte ich nicht, euch mit geschliffener Rhetorik und scharfsinnigen Argumenten zu beeindrucken. Nein, ich hatte mir vorgenommen, eure Aufmerksamkeit einzig und allein auf Jesus Christus zu lenken – auf Jesus Christus, den Gekreuzigten. Außerdem fühlte ich mich schwach; ich war ängstlich und sehr unsicher, als ich zu euch sprach. Was meine Verkündigung kennzeichnete, waren nicht Überredungskunst und kluge Worte; es war das machtvolle Wirken von Gottes Geist. Denn euer Glaube sollte sich nicht auf Menschenweisheit gründen, sondern auf Gottes Kraft. (1. Korinther 2,1-5)

      Der Vers 2 lautet in der Elberfelder Übersetzung: „Denn ich nahm mir vor, nichts anderes unter euch zu wissen als nur Jesus Christus, und ihn als gekreuzigt.“ Als Paulus dies schrieb, bestand die Bibel lediglich aus dem, was wir heute das Alte Testament nennen, doch wenn Paulus über diese Texte predigte, „wusste“ er „nichts anderes … als nur Jesus Christus“ – der im ganzen Alten Testament nirgends mit Namen erscheint. Wie das? Nun, Paulus hatte begriffen, dass die ganze Heilige Schrift ein einziger Wegweiser hin zu Jesus und der von ihm gebrachten Erlösung ist; jeder Prophet, Priester und König in ihr deutet voraus auf den, der der große, endgültige Prophet, Priester und König ist. Die „ganze Heilige Schrift“ zu predigen heißt für Paulus, Christus zu predigen – als das große Hauptthema und den innersten Kern ihrer Botschaft.

      Die antike Rhetorik erlaubte dem Redner die inventio – die Wahl eines Themas, die Gliederung dieses Themas in seine verschiedenen Teile sowie diverse, ausgeklügelte Methoden der argumentativen Stützung dessen, was er seinen Zuhörern sagen wollte. Doch für Paulus gibt es immer nur ein Thema: Jesus. Wo wir auch hingehen in der Bibel, ist Jesus das Hauptthema. Und auch die Untergliederung des Themas ist nicht menschlichem Gutdünken überlassen, sondern wir haben die Unterthemen und Punkte darzustellen, die der Bibeltext selber uns gibt. Wir müssen uns auf Jesus beschränken – aber nach meiner nunmehr über vierzigjährigen Erfahrung als Prediger kann ich Ihnen versichern, dass die Geschichte dieser einen Person niemals langweilig wird, ist in ihr doch die Geschichte des ganzen Universums und der ganzen Menschheit enthalten und sie ist der große und einzige Generalschlüssel zur Geschichte unseres eigenen Lebens.20

      Für Paulus gilt also, dass er nur dann über einen biblischen Text gepredigt hat, wenn er über Jesus gepredigt hat – und zwar Jesus nicht nur als nachahmenswertes Beispiel, sondern als Erlöser der Welt: „Denn Christus ist unsere Gerechtigkeit, durch Christus gehören wir zu Gottes heiligem Volk, und durch Christus sind wir erlöst“ (1. Korinther 1,30).

      Paulus sieht Christus als den Schlüssel zum rechten Verständnis jedes biblischen Textes (der erste Aspekt einer guten Predigt) wie auch zum Erreichen und Überzeugen der Herzen der Hörer (der zweite Aspekt). Er schreibt: „Als ich zu euch kam, Geschwister, um euch das Geheimnis zu verkünden, das Gott uns enthüllt hat, versuchte ich nicht, euch mit geschliffener Rhetorik und scharfsinnigen Argumenten zu beeindrucken.“ Dies sieht auf den ersten Blick wie ein Plädoyer gegen jede Art von Kunstfertigkeit beim Predigen aus, aber (wie Calvin aufzeigt) der Rest des Neuen Testaments zeigt, dass Paulus in seinen Predigten sehr wohl Gebrauch von Argumenten, Logik, Rhetorik, Bildung und Wissen machte. In der Apostelgeschichte etwa benutzt Paulus, wie wir noch sehen werden, für verschiedene Zuhörergruppen gekonnt unterschiedliche Argumentationsweisen, und in 2. Korinther 5,11 sagt er, dass er sich bemüht, die Menschen zu „überzeugen“; es kann also nicht sein, dass er keinerlei Strategien zur Erreichung seiner Zuhörer verfolgte.21 Der Neutestamentler Anthony Thiselton versucht, anhand neuerer Ergebnisse der Erforschung der antiken Rhetorik zu verdeutlichen, was Paulus in 1. Korinther 2 mit „geschliffener Rhetorik“ und „Überredungskunst und klugen Worten“ meint. Paulus verwirft jedes verbale Drängeln und Drücken, das den anderen mit der schieren Kraft der eigenen Persönlichkeit und Schlagfertigkeit überfährt und kleinmacht, jedes Haschen nach Beifall, das die Vorurteile, den Stolz und die Ängste der Zuhörer ausnutzt, und jegliches Manipulieren durch gekonnt eingesetzte Geschichten oder Techniken, die den Redner als den großen Sprachvirtuosen und Alleswisser darstellen.22

      All diesen Formen des rhetorischen Missbrauchs stellt Paulus die Botschaft von „Jesus Christus, dem Gekreuzigten“ entgegen, aber man beachte, wie er diese Gegenüberstellung meint. Paulus will durchaus die Herzen seiner Zuhörer von Grund auf verändern; er will erreichen, dass sie etwas anderes zum Ziel ihrer tiefsten Liebe, ihrer tiefsten Hoffnung und ihres tiefsten Glaubens machen. Doch diese Veränderung darf nicht durch menschliche Kunstgriffe kommen, sondern nur durch „das machtvolle Wirken von Gottes Geist“ (1. Korinther 2,4), also (wie man auch übersetzen könnte) „durch ein einleuchtendes, kräftiges Überführtwerden, das vom Heiligen Geist selber kommt“23. Was bedeutet das? Thiselton wirft einen Blick auf die weiteren Ausführungen des Paulus und schreibt: „Wie aus 1. Korinther 2,16–3,4 erhellt, ist ‚Geist‘ christologisch zu verstehen.“ In diesem Abschnitt redet Paulus von dem „sich selbst zurücknehmenden Geist, der über sich selbst hinaus auf das Werk Gottes in Christus zeigt“24. Paulus vergleicht sich mit dem Heiligen Geist, der die Aufgabe hat, wie ein starker Scheinwerfer nicht auf sich selber zu zeigen, sondern uns die Herrlichkeit und Schönheit Christi hell zu machen (vgl. Johannes 16,12-15).

      Hierin also liegt die Kraft des christlichen Predigers. So hält man nicht einen klugen Vortrag, sondern eine Leben verändernde Predigt. Es geht darum, nicht nur über Christus zu reden, sondern ihn den Menschen zu zeigen, seine Größe sichtbar zu machen, ihn als den zu zeigen, der allen Lobes und aller Anbetung wert ist. Wenn wir dies tun, wird der Heilige Geist uns helfen, denn dies ist sein großer Auftrag in der Welt.

      Das Herz der Kultur erreichen

      Wir haben die reiche Theologie der Predigt, die wir am Anfang des 1. Korintherbriefes finden, noch


Скачать книгу