Predigen. Timothy Keller
obwohl sich seine Weisheit in der ganzen Schöpfung zeigt, hat ihn die Welt mit ihrer Weisheit nicht erkannt. Deshalb hat er beschlossen, eine scheinbar unsinnige Botschaft verkünden zu lassen, um die zu retten, die daran glauben. Die Juden wollen Wunder sehen, die Griechen fordern kluge Argumente. Wir jedoch verkünden Christus, den gekreuzigten Messias. Für die Juden ist diese Botschaft eine Gotteslästerung und für die anderen Völker völliger Unsinn. Für die hingegen, die Gott berufen hat, Juden wie Nichtjuden, erweist sich Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. (1. Korinther 1,21-24)
Für den Theologen Don Carson beschreibt Paulus hier die „fundamentalen Götzendienste [seiner] Zeit“25. Paulus gibt eine gekonnte Zusammenfassung der Unterschiede zwischen der griechischen und der jüdischen Kultur. Jede Gesellschaft hat ein Weltbild oder eine „Weltgeschichte“ bzw. ein „kulturelles Narrativ“, das die Identität und den Glauben der Menschen in ihr prägt. Die Griechen schätzten im Allgemeinen Philosophie, Kunst und intellektuelle Leistungen, während die Juden sich eher von Macht und praktischen Fertigkeiten beeindrucken ließen. Paulus hält beiden Weltsichten das Kreuz Jesu entgegen. Eine Erlösung, die nicht durch hohe Gedankenflüge und Philosophie kam, sondern durch einen gekreuzigten Erlöser, war für die Griechen das Gegenteil von Weisheit – Unfug und Torheit. Und für die Juden war eine Erlösung, die durch einen gekreuzigten Erlöser kam und nicht durch einen Befreier, der die Römer aus dem Land jagte, das Gegenteil von Macht – Schwäche. Paulus benutzt das Evangelium, um jede dieser Kulturen mit dem letztlich abgöttischen Wesen ihrer Werte und Sicherheiten zu konfrontieren.
Doch nach dieser Konfrontation geht Paulus noch weiter; er benennt und bejaht die Grundsehnsüchte der beiden Kulturen. Den Griechen sagt er: „Ihr wollt Weisheit. Gut, schaut euch das Kreuz an, das es Gott ermöglicht hat, beides zu sein: gerecht und der, der die Glaubenden gerecht spricht. Ist das nicht Weisheit in ihrer höchsten Form?“ Und den Juden sagt er: „Ihr wollt Macht. Gut, schaut euch das Kreuz an und wie es Gott ermöglicht hat, unsere mächtigsten Feinde – die Sünde, die Schuld, ja den Tod – zu besiegen, ohne uns dabei zu vernichten. Ist dies nicht die höchste denkbare Macht?“
Paulus benennt also das Weltbild jeder dieser Kulturen und konfrontiert sodann die jeweils in ihm steckende Abgötterei – die intellektuelle Hybris der Griechen und die Werkgerechtigkeit der Juden – und zeigt auf, dass die Art, wie sie ihrem höchsten Gut nachjagen, ebenso sündig wie aussichtslos ist. Aber dies ist keine bloße intellektuelle Übung oder clevere rhetorische Strategie, sondern ein Akt der Nächstenliebe. Wir sind soziokulturelle Wesen, und das, was wir im Innersten wollen und wünschen, ist zutiefst geprägt von der menschlichen Gesellschaft, zu der wir gehören. Der christliche Prediger, der einen Bibeltext auslegt und erklärt, sollte daher die Botschaft der Bibel immer in Bezug setzen zu den Grundannahmen und Glaubenssätzen der Kultur seiner Hörer (die ihnen selber gewöhnlich nicht bewusst sind), um ihnen zu helfen, sich selber besser zu verstehen. Wenn dies auf die richtige Art geschieht, führt es dazu, dass die Menschen sich sagen: „Ach so, DARUM denke und fühle ich immer wieder so.“ Und das kann einer der befreiendsten und folgenreichsten Schritte auf der Reise eines Menschen hin zu einem lebendigen Glauben an Christus sein.
Um seine Zuhörer wirklich zu erreichen, muss der Prediger die „Geschichte“, die ihr Weltbild prägt, an strategischen Punkten konfrontieren und sie anschließend gleichsam neu erzählen, auf eine Art, die ihnen zeigt, wie ihre tiefsten Sehnsüchte allein in Christus gestillt werden können. Wie Paulus müssen wir die Menschen über die Schlüsselsehnsüchte und -werte ihrer Kultur erreichen und einladen – einladen zu Christus, der wahren Weisheit, Gerechtigkeit, Macht und Schönheit.
Das Wort lieben – die Hörer lieben
Was ist also eine gute Predigt? Lassen Sie mich das bisher Gesagte zu einer Definition zusammenfassen.
Predigen heißt „das Geheimnis zu verkünden, das Gott uns enthüllt hat“ (1. Korinther 2,1). Es heißt biblisch predigen, in der Auseinandersetzung mit dem Text des Wortes Gottes. Dies bedeutet, dass ich meinen Zuhörern das Wort Gottes zu bringen habe und nicht meine persönliche Meinung. Der Prediger redet im Auftrag Gottes und gibt Gottes Worte weiter (1. Petrus 4,11). Er muss herausarbeiten, was der Text in seinem Kontext bedeutet – sowohl in seinem historischen Kontext als auch im Gesamtkontext der Bibel. Dieser Teil des Dienstes am Wort Gottes ist die Auslegung. Der Prediger erläutert, treu und gewissenhaft, was die Botschaft dieses Textes ist, wobei er stets den Rest der biblischen Lehre mit im Hinterkopf hat; er darf nicht „eine Schriftstelle so erklären, dass sie einer anderen widerspricht“26.
Predigen heißt weiter, Gottes Wort „Juden wie Nichtjuden“ zu verkünden (1. Korinther 1,24). Es geht darum, die Herzen und die Kultur der Hörer zu erreichen – nicht nur ihre grauen Zellen zu informieren, sondern auch ihr Herz, ihre Interessen und Gefühle anzusprechen und sie zur Buße und einem neuen Denken und Verhalten zu bewegen. Eine gute Predigt ist nicht ein Knüppel, der den Willen bricht, sondern ein Schwert, das bis ins Innerste des Herzens dringt (Apostelgeschichte 2,37) und uns schonungslos zeigt, wie und wer wir wirklich sind (Hebräer 4,12). Sie nimmt den Text und seine Auslegung und trägt ihn in die Situation des Hörers hinein, denn wir haben einen Bibeltext erst dann wirklich verstanden, wenn wir begreifen, was er mit uns und unserem Leben zu tun hat. Dies ist die zweite Aufgabe des Predigers – die Anwendung der Aussagen des Textes auf die Hörer –, und sie ist wesentlich komplizierter, als man meistens denkt. Die Herzen und die Kultur ansprechen – beides ist, wie gesagt, miteinander verbunden, denn das Weltbild und die kulturellen Narrativen hinterlassen tiefe Spuren in der Identität, dem Gewissen und dem Realitätsverständnis des Einzelnen. Ein guter Prediger setzt sich nicht mit der Kultur seiner Hörer auseinander, um „relevant“ und „aktuell“ zu sein, sondern um die tiefen Lebensfundamente seiner Hörer freizulegen.
Der Prediger Alec Motyer schreibt, dass der Prediger nicht einer, sondern zwei Instanzen verantwortlich ist:
Erstens der Wahrheit und zweitens diesen Menschen, vor denen er steht. Wie können sie die Wahrheit am besten hören? Wie können wir ihr so Ausdruck verleihen, dass sie sie verdauen können, dass sie aufmerksam zuhören und … nicht unnötig verletzt werden?27
Dies sind die beiden Aufgaben der Predigt und der große Schlüssel zu beiden heißt: Christus predigen. Nein, dies ist nicht eine dritte Aufgabe der Predigt, sondern die Art, wie man die beiden Aufgaben der Auslegung und Anwendung richtig erfüllt. Wir erinnern uns: Für Paulus sind Treue zur Bibel und Christuszentriertheit ein und dasselbe. Ich kann nur dann „richtig“ über einen Text predigen und ihn korrekt in den Gesamtkontext der Bibel einordnen, wenn ich aufzeige, wie seine Themen und Aussagen ihre letzte Erfüllung in der Person Jesu Christi finden. Und ähnlich kann ich die Herzen meiner Zuhörer nicht wirklich erreichen und verändern, wenn ich ihnen nicht über die Worte des Textes hinaus die Schönheit der Person Jesu aufzeige und ihnen begreiflich mache, dass die spezielle Aussage dieses Textes nur durch das Vertrauen auf das Werk Christi geltend gemacht werden kann.
Kathy sagte mir einmal, dass die ersten Abschnitte meiner Predigten gut als Sonntagsschullektionen taugten, aber dass in dem Augenblick, wo ich „zu Christus kam“, der Vortrag zu einer Predigt wurde. Sie haben möglicherweise nichts dagegen, wenn Ihre Zuhörer bei Ihren Predigten fleißig mitschreiben, aber wenn Sie zum Thema „Jesus“ kommen, möchten Sie nicht so sehr, dass sie mitschreiben, sondern dass sie das Mitgeschriebene am eigenen Leib erfahren.
Der berühmte britische Prediger Charles Haddon Spurgeon wurde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass jede Predigt den Zuhörern Jesus groß machen muss. Er klagte über Predigten, die „sehr klug … und schön und prächtig“ waren, aber in denen es immer nur um moralische Wahrheiten und rechtes Verhalten und hohe Ideen ging, „aber kein Wort über Christus“. Solche Predigten erinnerten ihn an die Worte Maria Magdalenas: „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Ich hörte nichts über Christus!“28 Spurgeon hat recht. Solange wir nicht Jesus predigen, sondern „die Moral von der Geschichte“ oder zeitlose Wahrheiten oder ein bisschen Lebenshilfe, werden die Menschen nie dazu kommen, dass sie das Wort Gottes verstehen, lieben und ihm gehorchen. Was Spurgeon forderte, ist schwieriger, als es klingt,