PARADIES 3000. Herbert W. Franke

PARADIES 3000 - Herbert W. Franke


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wie die andere.

      Ich grüble. Ich denke nach, ich hoffe, ich fürchte … Was war? Was wird sein? Nichts anderes war zu erwarten gewesen. Solange er normal denken konnte, war es gut. Sein Zustand war vorausberechnet. Sein Zustand war normal. Noch gab es Gelegenheit zur Beschäftigung. Noch war seine eingeengte Welt nicht selbstverständlich. Noch gab es Gelegenheit zur Überraschung, zum Staunen. Noch konnte er sich am Widersinn der Gegenwart reiben. Noch hatte er Stoff zur Auseinandersetzung. Noch konnte er sich selbst beobachten, seine Situation konstatieren, reflektieren, evaluieren. Noch gab es Fragmente aufgeschwemmter Emotionen auszukosten. Und da war ja auch noch seine Aufgabe. Alles, was er gelernt hatte, würde sich daran bewähren müssen. Es würde sich zeigen, ob man ihm das Richtige beigebracht hatte. Es würde sich herausstellen, ob er fähig war, sich des Vertrauens würdig zu erweisen. Noch nie war ein offizieller Botschafter der Erde in diese Gegend gekommen. Vielleicht ein paar Forschungsschiffe, Wissenschaftler, eine Besatzung, die eher aus Abenteurern bestand … Erstaunlich genug, dass man Verbindung aufnehmen wollte. Eines der Verbindungsglieder war er. Das andere … Irgendwann, auf der Mitte des Flugs, würde eine Kapsel an ihm vorbeirasen – so schnell, dass er nichts davon merken würde, selbst wenn die Sicht frei gewesen wäre, und in dieser Kapsel würde der Vertreter dieser fremden Welt sitzen oder liegen oder stehen, schlafend oder wachend oder in irgendeinem anderen Zustand, den fremde Intelligenzen dieser Art benutzen, um lange Zeiten zu überbrücken.

      Botschafteraustausch über Welten hinweg, über Zeit und Raum. Eigentlich ein tolles Abenteuer, eigentlich unfassbar, eigentlich so irreal, dass es bereits wieder banal wurde. Er hätte genauso gut in einem Bunker sitzen können, eingesperrt, abgeschnitten von der Umgebung, Monate und Jahre hindurch. Hier gab es keine Abwechslung, hier gab es keine Signale, keine Information von außen, keinen Austausch von Worten oder Gedanken, und deshalb war es schließlich gleichgültig, wo er sich befand, ob er sich bewegte oder ob er stilllag. War das überhaupt zu unterscheiden? Denn im Weltraum, Lichtjahre von jeder stabilen Massenansammlung getrennt, gab es keine Begriffe wie Ruhe oder Bewegung, und es war nicht einmal gewiss, ob es so etwas wie eine Zeit gab, ob es so etwas gab wie menschliches Leben, Denken, Wünschen, ob es Gefühle gab, und ob es, wenn es sie gab, dieselben Gefühle waren, wie man sie inmitten einer am Alltag orientierten Menschenmasse empfand.

      Aber immer noch gab es das Ziel: Botschafter auf einem fremden Stern. Verhandlungen mit hochgestellten Persönlichkeiten, Gespräche auf diplomatischer Ebene. Ehre, Macht, Immunität, extraterritoriale Rechte. Weltpolitik. Entscheidungen, Entschlüsse, Meilensteine historischer Entwicklungen. Freundschaft zwischen Andersartigen. Friede im Kosmos.

      Aber würde es so sein? Sicher nicht. Sie waren Fremde. Sie waren mehr als fremd. Es gab keine Persönlichkeiten, es gab keine Gespräche. Und was ist Ehre – inmitten körperloser Wesen, in eine fremde Welt verpflanzt, für immer ohne Wiederkehr, ohne Anerkennung, ohne Lohn, ohne Hoffnung, ohne Erwartung – seine Pflicht zu erfüllen, das war alles. War es genug? War es ausreichend? War es sinnvoll? Ist man dann bereit, alles zu geben, ist man dazu fähig? Wie kann man sich um einen solchen Posten bewerben? Wer bewirbt sich dafür? Kann es ein normaler Mensch sein? War nicht schon der Entschluss ein signifikantes Zeichen für eine entwurzelte Persönlichkeit, Hinweis auf einen pathologischen Fall? Konnte es nicht nur die Folge von Verzweiflung sein? Von Ausweglosigkeit? Reaktion einer labilen Gemütsverfassung?

      Und da war sie wieder, die Vergangenheit, seine ganz private Hölle. Nicht die Hölle des klassischen Altertums, nicht die Hölle des Teufels. Nicht die Hölle des Wahnsinns. Eine ganz banale Hölle, die Hölle der Trostlosigkeit, die Hölle der Resignation, die Hölle der Langeweile. Lächerlich, es auszusprechen, lächerlich, daran zu denken … er hatte nicht daran denken wollen! Doch nun war sie wieder da, die Vergangenheit, und sie quälte ihn, obwohl er ihr schon entronnen war, und sie griff noch einmal nach ihm, und es war wieder da, das Zweifeln, das Grübeln. Obwohl alles in einem Abgrund der Endgültigkeit abgetaucht war, stiegen die zermürbenden Gedanken wieder an die Oberfläche, die Rechtfertigungen, die Entschuldigungen, die Ausreden, die Argumente … Du interessierst dich ja nur noch für den Beruf. Ich bedeute dir nichts. Seit drei Wochen sind wir nicht mehr ausgegangen. Du hörst mir ja gar nicht zu, wenn ich dir etwas erzähle. Auch den tropfenden Wasserhahn hast du nicht repariert. Warum hast du Bessy erlaubt, bis Mitternacht auszubleiben? Warum borgst du Ted das Motorboot? Warum hast du gegen mich Partei ergriffen? Es ist dir gleich, ob du mich lächerlich machst … Aber ja, du hast ja recht, Liebling. Gewiss, ich hätte anders reagieren sollen … Nein, sicher liegt es ganz an mir. Aber könntest du nicht … gewiss, ich werde nach dem Wasserhahn sehen. Und ich werde mich einmal mit deiner Mutter unterhalten. Ja: Ich habe zugehört. Es war ein Missverständnis; ich wollte dich nicht kränken …

      Pflichten der Familie gegenüber. Pflichten der Menschheit gegenüber. Er ließ sich zu den Sternen schießen. Und das war – so hatte man ihm gesagt – von außerordentlicher Wichtigkeit. Es war so wichtig, dass man dafür Familien trennen durfte, den Kreis der Angehörigen verlassen, sich von der Erde entfernen und seine eigene Existenz aufgeben. Aber wer tat das? Die ihn geprüft hatten … Hielten sie ihn für normal? Fragten sie sich nicht, wieso er dazu kam … Interessierte sie das nicht?

      Gibst du Ted schon wieder Taschengeld? – Er kauft sich doch nur Zigaretten dafür. Es ist eine Brüskierung, wie du mich vor den Kindern behandelst. Wenn ich das vorher gewusst hätte? Ja – vor zehn Jahren, da habe ich dir noch viel bedeutet. Da hast du mir das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Heute bist du nicht einmal bereit, das Geschirr in den Wandschrank zu räumen. Es ist nur eine bescheidene Bitte, aber du hast sie ignoriert. Ein kleines Geschenk, ein paar Blumen – nein, nein, du brauchst mir nichts zu schenken. Ich wüsste ja, dass es nicht von Herzen kommt. Lass mich: Ich besorge meine Geschenke selbst. Aber für Bessy hast du immer etwas übrig. Und Ted verwöhnst du geradezu. Glaubst du, man kann Liebe durch Geld ersetzen? Wann hast du schon für uns Zeit! Kein Wochenende, kein Urlaub. Dein Fotoapparat interessiert dich mehr als wir. Dabei habe ich dir nie Grund gegeben … Was habe ich nicht alles getan – bis wir so weit waren. Niemand hat gefragt, woher ich die Kraft nehme. Der Haushalt, die Kinder, der Beruf. Gewiss, du hast auch gearbeitet, aber ich weiß doch, dass dir das Freude macht. Du hast es für dich selbst getan. Du vergräbst dich in deine Pflichten. Aber ich bin nicht bereit, mir das länger bieten zu lassen …

      Vielleicht hatte er sich davor am meisten gefürchtet: dass ihn die Gespenster der Vergangenheit ereilen würden. Aber schon trennte ihn der lange Tunnel, der nur in einer Richtung zu durchmessen war, und nichts würde ihm wiederbegegnen, es sei denn, er trüge es selbst mit sich. Es ist vorbei, es ist vorbei. Er sagte es sich immer wieder, bemühte sich, an die Zukunft zu denken. Aber die Zukunft – was war das schon! Die Zukunft war ein unbeschriebenes Blatt. Die Zukunft entzog sich jeder Vorstellung. Aber nein – man hatte ihm jede Information gegeben, die er gewünscht hatte. Man hatte ihn mit den Leuten konfrontiert, die den Kontakt geknüpft hatten, und er hatte sich stundenlang mit ihnen unterhalten. Wer sind sie? Wie ist es dort? Wie verständigt man sich? Wie empfindet man dort? Und er hatte Antworten erhalten – eine ganze Menge. Aber was war schon Konkretes dabei? Was war verständlich? Sie hatten ihn beruhigt: eine fortgeschrittene Kultur, Intelligenzen, so fremdartig auch immer, so doch voller Verständnis für die anderen. Es würde ihm an nichts fehlen. Gewiss – er würde sich nicht im üblichen Zustand befinden, sein Körper würde nicht derselbe Körper sein, seine Hand nicht dieselbe Hand, sein Gehirn nicht dasselbe Gehirn. Transformation der Lebensform. Neue materielle Grundlagen. Ein neuer Metabolismus. Und doch würde er existieren, seine Persönlichkeit würde erhalten bleiben, er würde keinen Mangel leiden, man würde ihm die Wünsche von den Augen ablesen – nein, nicht von den Augen: Sie hatten die Möglichkeiten, Bilder aus dem Gehirn zu holen. Sie würden für ihn sorgen. Er würde betreut werden wie noch kein Mensch zuvor. Nein, nein, sie waren nicht aus Fleisch und Blut, und auch er würde diese Existenzform aufgeben, unwiederbringlich … aber wie war es dann zu verstehen …? Er konnte doch nicht in einem ständigen Zustand der Betäubung leben. Er konnte doch nicht einen endlosen Traum durchmessen! Sie konnten ihn doch nicht in ständiger Halluzination halten! Wie konnten sie überhaupt verstehen, was er wünschte, und was nicht? Was wussten sie von Empfindungen und Gefühlen? Sie kannten keine menschlichen Wertmaßstäbe – wie konnte es anders sein? Darüber durfte er sich nicht täuschen lassen. Er hatte es gewusst, und er war damit einverstanden gewesen. Aber wie


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