PARADIES 3000. Herbert W. Franke

PARADIES 3000 - Herbert W. Franke


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nichts Ungewöhnliches – bei keiner Autofahrt, bei keinem Flug, bei keinem Schritt aus dem Haus war das anders … Aber er würde ja nie wieder … oder doch?

      Nach einer Weile wurde er müde und schlief ein. Und dann erwachte er wieder, und wieder kamen die Gedanken … Sie sind völlig anders als wir … Sie werden alles für dich tun … Sie haben alles vorbereitet … Es wird dir an nichts fehlen … Und alles würde vorbei sein, was er nicht mehr zu ertragen geglaubt hatte, alles, was ihm den Rücken gestärkt hatte, um sieben Jahre Vorbereitungen zu ertragen … Bei unserer letzten Gesellschaft hast du dich einfach unmöglich benommen … Warum ziehst du die Straßenschuhe nicht aus – es ist wirklich eine Rücksichtslosigkeit … Je weiter er flog, umso unwirklicher wurde seine Existenz, umso fragwürdiger, umso absurder. Sein Lager, die Kapsel. Er konnte sich nicht bewegen. Was war außerhalb? Was war davor, was war danach? Was war wahr, was bildete er sich nur ein? Wer war er? Wer würde er sein?

      Er schlief ein, und er erwachte, und er schlief ein, und er erwachte … und er schlief ein …

      Als er wieder erwachte, fühlte er gleich, dass es diesmal etwas anderes war. Er spürte einen sanften Druck an seinem Rücken – Schwerkraft oder Beschleunigung … Das konnte nur eins bedeuten: Er war dem Ziel nahe.

      Wie weggewischt die langen Monate und Jahre seines Flugs, die Gespenster der Vergangenheit begraben. Er merkte es deutlich: Wenn er diese Kapsel verließ, hatte er alles hinter sich. Das war der Schritt, um den es ihm gegangen war. Der Schritt über die Grenze. Dann gab es nur noch eins: die Zukunft! Und was auch immer sie bringen würde, er würde es dankbar auf sich nehmen. Mit Ungeduld erwartete er die Konfrontation mit den Fremden. Und wirklich war es so, wie man es ihm beschrieben hatte – und doch wieder anders. Eines jedoch stimmte: Es war nicht zu beschreiben. Plötzlich waren sie da, körperlos. Wodurch er ihre Anwesenheit bemerkte? … Es ließ sich nicht beantworten. Wie er sich verständigte? Er hörte sie, er sprach mit ihnen, aber wie … er hätte es nicht sagen können. Er fühlte sanfte Versuche, mit ihm bekannt zu werden, und er tat sein Bestes, sich diesen Bemühungen zu erschließen. Aber er brauchte Zeit dafür. So lange hatte er sich eingekapselt, dass es ihm unmöglich war, sein Innerstes plötzlich zu entblößen. Erst allmählich gelang es ihm, Vertrauen zu ihnen zu fassen, sie seine Gedanken lesen zu lassen, ihnen zu zeigen, woran er dachte, was ihn bewegte. Er fühlte, wie sie seine inneren Bilder aufsogen. Er fühlte, dass sie es gut mit ihm meinten. Er fühlte, wie sehr sie sich für ihn und seine Heimat interessierten. Alles schien für sie wichtig zu sein: Wie er gelebt hatte, wie die Erde aussah, wie die Menschen waren, ihre Häuser, ihre Wohnungen …

      Aber was verstanden sie wirklich davon? Überblickten sie wirklich die Zusammenhänge, den Sinn? Was wussten sie von Einstellungen, von Gefühlen? Wussten sie, was schön war und was böse? Was gut war, und was schlecht?

      Auf einer Spiralbahn näherten sie sich dem Planeten. War es hier dunkel, war es hell? War es warm, war es kalt? Es gab ganz andere Eigenschaften hier, und er konnte sie fühlen, wenn auch nicht beschreiben. Sie landeten, und man begrüßte ihn. Auf einem Aerodrom, einer Raketenbasis, einem Hafen? In dieser Welt gab es keine Luft, kein Licht, keine Schwerkraft. Er hatte eine kurze Unterredung, und als sie vorbei war, fühlte er, dass er gut reagiert hatte, die richtigen Worte gefunden – oder das, was hier anstelle der Worte trat.

      Würde es immer so bleiben? Würde er weiterhin im Ungewissen schweben? Würde er in einer Wolke leben müssen? Es war eine räumliche Wolke, in der er sich befand, und er hätte nichts dagegen gehabt, für immer hier zu bleiben. Doch sie meinten es gut mit ihm, und sie brachten ihn in sein neues Domizil.

      Und als er dann ankam, lichtete sich plötzlich die diffuse Masse um ihn herum, und die fremden Wesenheiten blieben zurück, und er verließ den Wagen oder das Flugzeug oder was auch immer es war, und er stand auf dem mit Steinen ausgelegten Weg, und er ging am weißgestrichenen Zaun vorbei, und vor ihm öffnete sich die Tür, und seine Frau trat heraus und sagte: Hättest du nicht ein wenig früher kommen können … Jetzt muss ich das Essen aufwärmen … Du musst noch die Mülltonne hinaustragen … Aber mach die Tür hinter dir zu – es zieht … und beeil dich … aber vergiss nicht … aber vergiss nicht … aber vergiss nicht …

      Endwert Null

      Die erste Meldung über eine Kette höchst merkwürdiger Ereignisse hörte sich ganz harmlos an: »Am 8. Juli 2080 fand zu Ehren der Emeritierung von Professor Dr. Dr. h. c. Erik Koenig im Institut für Advanced Studies eine kleine Feier statt. Aus der Hand des Ministers für Forschung und Technik nahm der Wissenschaftler die Goldene Verdienstmedaille in Empfang, die bisher nur an vierundzwanzig verdiente Persönlichkeiten verliehen wurde. Er beendete damit eine nahezu dreißigjährige ununterbrochene Tätigkeit als Forscher und Lehrer. Sein Spezialgebiet war die maschinelle Intelligenz. Einige seiner adaptiven Programme werden längst in Fabrikation und Verwaltung eingesetzt. Der Gelehrte, der kurz vorher in voller Gesundheit seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert hat, wird nach eigenen Angaben eine Erholungsreise in die Karibik antreten.« Was damals noch niemand wissen konnte, doch dieser Meldung eine besondere Nuance gibt: Professor Koenig ist von dieser Reise nicht zurückgekehrt. Das letzte Mal wurde er bei seiner Ankunft auf den Bahamas gesehen, doch seither fehlt von ihm jede Spur. Ob die Ermittlungen mit vollem Nachdruck geführt wurden, lässt sich von hier aus nicht beurteilen. Tatsache ist, dass Professor Koenig bis heute verschollen blieb.

      Mit dem Schicksal von Professor Koenig begann man sich aber erst verhältnismäßig spät zu beschäftigen – als der kommissarische Leiter des Instituts, der die Zeit bis zur Berufung eines neuen Chefs überbrücken sollte, mit einer Art Bilanz begann. Zu seinem Erstaunen fand er nämlich nur die Unterlagen über einige relativ unwichtige Nebenprojekte vor. Vom Lebenswerk des ausgeschiedenen Institutsleiters dagegen fehlte jede Spur. Des Rätsels Lösung erbrachte erst ein Brief an das zuständige Ministerium, den Professor Koenig am Tag seines Ausscheidens abgesandt hatte und der durch ein Versehen vierzehn Tage auf einem Schreibtisch liegen geblieben war. Wir geben ihn hier ungekürzt wieder.

      Brief von Professor Dr. Dr. E. Koenig an das Ministerium für Forschung und Technik:

      Sehr geehrter Herr Minister!

      Wie Ihnen durch diverse Zwischenberichte bekannt ist, habe ich seit acht Jahren an einem Programm mit dem Namen DECISION gearbeitet. Es handelte sich um ein adaptives Softwarepaket, mit dem erstmalig die seinerzeit von John von Neumann stammende Idee der Selbstentwicklung eines Computers verwirklicht werden sollte. Ich darf Ihnen mitteilen, dass über dieses Projekt keine Unterlagen vorliegen. Das liegt nicht vielleicht in Schwierigkeiten oder Misserfolgen, sondern am Gegenteil: Nachdem es mir gelungen war, eine neue, rückgekoppelte Logik zu entwickeln – im Zusammenhang mit den Problemen der Selbstreparatur und -organisation – kam ich verhältnismäßig schnell zum Ziel. Und das Ergebnis übertraf alle meine Erwartungen. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass die Menschheit durch das Programm DECISION auf völlig neue Wege geführt werden würde. Die Ziele sind nicht abzusehen, und somit ist auch eine Beurteilung der Konsequenzen nicht möglich. Ich habe schon oft in der Öffentlichkeit die Meinung vertreten, dass der Mensch, und insbesondere der Wissenschaftler und Techniker, nicht alles realisieren muss oder darf, was realisierbar ist. Ein solcher Fall ist nun eingetreten. Da das Programm DECISION gefährliche Entwicklungen einleiten könnte, habe ich es vernichtet. Ich hoffe, dass Sie meine Entscheidung respektieren.

      Mit vorzüglicher Hochachtung

      E. Koenig

      Auszug aus einem Hearing des Ministers für Forschung und Technik:

      Minister Meine Herren, ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Über den Grund habe ich Sie informiert – es handelt sich um die Vernichtung des Programms DECISION durch Professor Koenig. Ich muss gestehen, dass ich etwas ratlos bin. Zunächst wäre ich Ihnen dankbar, wenn mir jemand eine verständliche Erklärung geben könnte: Was hat es mit dem Programm DECISION auf sich?

      Professor Pazzini (räuspert sich) Nun, Sie wissen, dass sich Kollege Koenig mit maschineller Intelligenz beschäftigt hat. Allem Anschein nach ist er wesentlich weitergekommen, als wir alle angenommen haben.

      Minister Sie meinen – Roboter?


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