Standort Deutschland. Volker Meyer-Guckel

Standort Deutschland - Volker Meyer-Guckel


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zeigt, wie sehr ihm die Regionalisierung seiner Handels- und Produktionsnetzwerke, die Digitalisierung und seine Nähe zum Konsumenten unter Corona-Bedingungen genutzt hat. Besagtes Unternehmen hatte bereits zuvor in eine transparentere Lieferkette investiert. Davon profitierte sein Vertrieb in der Krise enorm, weil die Kanäle in China schnell und flexibel angepasst werden konnten. Im Detail: Dank der RFID-Etiketten auf allen Produkten konnte das Unternehmen lückenlos die Produktion in den vollständig ausgelagerten Fertigungsbetrieben an über 500 Standorten und in über 40 Ländern nachverfolgen und optimieren. Ein eigenes »Expressspur«-Fertigungssystem steigerte Geschwindigkeit und Flexibilität innerhalb ausgelagerter Fertigungsvorgänge. Mit vorausschauenden Nachfrageanalysen und einem integrierten digitalem Ökosystem konnte das Unternehmen schnell auf die Auswirkungen von Ladenschließungen reagieren. Zugleich wurden Lagerbeständen aus Shops zu digitalen Verkaufskanälen umgeleitet, in digitales Marketing investiert und drohender, überschüssiger Lagerbestand rechtzeitig identifiziert. Dieser Kraftakt führte dazu, dass der Umsatz des Sportartikelherstellers im 1. Quartal 2020 nur um fünf Prozent fiel – bei den wichtigsten Konkurrenten in China waren es 45 Prozent.

      Über die Zukunftsfähigkeit einer Lieferkette entscheiden aber nicht nur technische Kriterien, sondern auch Organisationsstrukturen und Managementpraktiken. McKinsey befragte 56 globale Unternehmen, welche Faktoren mit dem EBITDA-Erfolg ihres Unternehmens korrelieren. Die ehrliche Antwort: Der viel diskutierte formale Aufbau der Supply-Chain-Organisation hat weitaus weniger Einfluss als weichere Faktoren wie End-to-End-Koordination, definierte Prozesse, klare Verantwortlichkeiten und funktionsübergreifende Zielgrößen. Und auf die Mitarbeiter kommt es an: auf deren berufliche Mobilität, deren Aufbau neuer Kompetenzen und ihr sozialer Zusammenhalt über Partikularinteressen, Abteilungen und Landesgrenzen hinweg.

      Covid-19 war ein Schock, aber auch ein Wegweiser. Die Krise macht unmissverständlich klar, wovon Unternehmenserfolg heute abhängt. Von Resilienz und Wettbewerbsfähigkeit, von schnell zu realisierenden Innovationen, vom Grad der Automation und der Loyalität der Belegschaft. Nur wer jetzt alle digitalen Werkzeuge – sei es in der Produktion oder beim agilen Arbeiten – nutzt, kann auf die nächste böse Überraschung widerstandsfähig reagieren. Unabhängig davon, wo, wie und wann sie eintritt. Ein einziges schwerwiegendes Ereignis, das die Produktion für 100 Tage unterbricht – etwas, das tatsächlich im Durchschnitt alle fünf bis sieben Jahre passiert – könnte in einigen Branchen fast den Jahresgewinn kosten.

      Wer diesem Wandel jetzt nicht Produktion, Lieferkette und auch Unternehmenskultur anpasst, der muss mit zunehmenden Schäden durch die Unterbrechung seiner Wertschöpfungskette rechnen. Oder nach Zahlen des McKinsey Global Institutes: In jedem Jahrzehnt verlieren solche Unternehmen mehr als 40 Prozent der Gewinne eines Jahres. Oder: Sie haben ein halbes Jahr umsonst gearbeitet.

      2.3 Ob remote oder agil: Die resilientere Zukunft der Arbeit

      Die Pandemie hat Unternehmen auf der ganzen Welt nicht nur gezwungen, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter besser zu schützen. Sie mussten auch auf neue Arbeitsweisen ausweichen.

      Neue Verantwortlichkeiten, neue Motivation

      Remote-Technologien wurden binnen Tagen eingeführt statt über Jahre pilotiert. Statt als Pyramide mit einem CEO samt dessen endloser To-do-Listen an der Spitze sorgen jetzt viele kleine Teams für schnelle und positive Kundenerfahrungen end-to-end. Sie arbeiten in Sprints und werden dabei je nach aktueller Aufgabe von gut ausgestatteten Inhouse-Experten unterstützt. Zugleich übernehmen die Teams mehr Verantwortung, z. B. für die Rentabilität ihrer Vertriebsideen. Auch Gruppen wachsen an ihren Aufgaben. Prioritäten werden top-down gesetzt, aber cross-funktionale Teams entscheiden, wie sie umgesetzt werden – und handeln sofort. Planungen erfolgen quartalsweise mit einem wöchentlichen Check zum Stand der Dinge. Die Erfahrung zeigt: Ein klarer Fokus, flexibel besetzte Führungsrollen und weniger Abstimmungsberechtigte führen zu enormen Veränderungen. Um nicht zu sagen: Fortschritten.

      Wie bei der Neuausrichtung einer erfolgreichen europäischen Direktbank: Sie schnurrte sechs Hierarchieebenen auf drei zusammen und löste Silos durchsetzungsstark auf. Sie forderte eine Ergebnis- statt einer Meeting-Kultur ein und nutzte dafür alle agilen Arbeits- und Teammethoden. Ihre IT setzte die Bank modularer auf. Binnen eines Jahres und trotz aller Turbulenzen eines solchen Umbaus stieg die Kundenzufriedenheit signifikant, die Mitarbeiterzufriedenheit um 20 Prozent, die Effizienz um 30 Prozent und das Unternehmen eroberte Platz1 im Arbeitgeber-Ranking seines Heimatlandes.

      Auch die deutschen Führungskräfte haben ihre Corona-Lektionen in Sachen Arbeitsorganisation gelernt. In einer Umfrage gaben 20 Prozent von ihnen an, dass mindestens ein Zehntel ihrer Mitarbeiter künftig zwei oder mehr Tage pro Woche aus der Ferne arbeiten könnten. Zum Vergleich: In China sind es nur noch 4 Prozent der Befragten. Aber der Remote-Boom hat seinen Preis. Um eine effiziente und sichere Kommunikation sicherzustellen, muss parallel in Technik und Datensicherheit investiert werden. Auch das Thema Online-(Weiter-)Bildung dürfe einen Aufschwung erleben, der zu technischen Innovationen wie zur dauerhaften Verfügbarkeit von remotefähigen, erschwinglichen und qualitativ hochwertigen Bildungsangeboten führen könnte. Wer nicht daheim, sondern im Büro oder in der Produktion arbeitet, wird ebenfalls auf Veränderungen stoßen. Da das Distanzgebot in vielen Bereichen andauern wird und Unternehmen nur vorsichtig zu einer Büropräsenz zurückkehren, müssen Organisationen Arbeit und Büros neu definieren. Flexible Zonen müssen sowohl der niedrigeren Auslastung als auch den Mitarbeitern, die zu wechselnden Zeiten ins Büro kommen, gerecht werden. Die Art der Arbeitsorganisation muss sich ebenfalls weiterentwickeln. Nur zu oft – und das ist nicht zwingend eine Frage des Unternehmensalters – behindern überholte Abstimmungsprozesse und Hierarchien schnelle Entscheidungen und demotivieren engagierte Mitarbeiter.

      Doch Vorsicht vor turmhohen Erwartungen in allen Bereichen. Viele Organisationen hoffen, dass sie dank weniger Standortbeschränkungen auf neue Talentpools zugreifen können. Zugleich wollen sie innovative Prozesse zur Produktivitätssteigerung einführen, eine stärkere Unternehmenskultur schaffen und noch dazu die Immobilienkosten deutlich senken können. Bester Remote-Kundenservice steht selbstredend auch auf der Wunschliste. Doch das neue Ideal vom Arbeiten remote und/oder agile lässt sich nur verwirklichen, wenn Entscheidungen transparenter fallen und Mitarbeiter eigenständiger regeln können, wann und wo sie arbeiten.

      Dynamik des Wandels nutzen

      Wie schön wäre eine Patentlösung für Branchen oder Unternehmen! Es gibt keine. Alles hängt an individuellen Fragen. Welche Talente werden jetzt benötigt und welche internen Funktionen werden jetzt wichtiger? Wie viel interdisziplinäre Kooperation ist intern und extern für Spitzenleistungen erforderlich? Sogar innerhalb einer Organisation kann die Antwort je nach Geografie, Unternehmen und Funktionen unterschiedlich aussehen. Wer sich auf Veränderungen einlässt, erstellt sich auch beim Thema Arbeitsorganisation ein langes Pflichtenheft. Zunächst steht die detaillierte Analyse an, wie die Arbeit tatsächlich – unabhängig von einstigen Planungen – geleistet werden soll. Wer auf verstärktes Remote-Arbeiten setzt, muss definieren, wie viel Arbeit kann nach Covid-19 aus der Ferne erledigt werden und was ist dafür erforderlich? Nicht nur technisch: Eine erfolgreiche Verlagerung berücksichtigt die Bedürfnisse von Mitarbeitern, Teams und der Organisation als Ganzes. Jetzt muss die Dynamik des Wandels genutzt werden, um weiterhin neue Arbeitsweisen, Agilität, Standardisierung und Digitalisierung von Kernprozessen und eine flexible Personalzuweisung umzusetzen. Automatisierung und Digitalisierung der Frontend- und Backend-Operationen sorgen gegenüber dem Kunden für schnelle und zuverlässige Leistungen – auch im Krisenfall.

      Eine ehrliche Bestandsaufnahme bei der Qualifikation der Mitarbeiter und Führungskräfte tut ebenfalls Not. Unternehmen müssen lernen, nicht nur die digitale, sondern auch die kompetenzbasierte Transformation voranzutreiben. Kritische Qualifikationslücken müssen durch groß angelegte Programme geschlossen und massiv in die kontinuierliche Fortbildung motivierter Mitarbeiter investiert werden.

      Auch Führungskräfte sind gefordert. Ihre Persönlichkeit muss als Vorbild dienen, die Digitalisierung und neue Arbeitsweisen voranzutreiben. Nicht zuletzt müssen sie in der Lage sein, selbst große Teams aus der Distanz motivieren und leiten


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