Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock


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Gegenteil ganz allein kümmert und sorgt. Das fromme Mädchen, oft als Waise oder Halbwaise ganz auf sich allein und die Gnade Gottes gestellt, ist ein bekannter Märchentopos. Das arme von aller Welt verlassene Waisenmädchen im GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm’schen Märchen Die Sterntaler erfährt diese Gnade Gottes in Form eines Goldregens, nachdem es buchstäblich sein letztes Hemd weggegeben hat. Auch Aschenputtel ist fromm und fleißig, ebenso wie Schneeweißchen und Rosenrot und wie Goldmarie, die ihren goldenen Lohn für ihre Tugendhaftigkeit von Frau Holle erhält. Viele dieser fleißig-frommen Märchenmädchen haben in einer anderen Frauenfigur ihre Kontrahentin: der bösen Stiefmutter.1 Benjamines angeheiratete Tante, die Frau ihres Onkels Isaak, lässt sich, wenn man der Spur der Märchen folgt, als Figur der bösen Stiefmutter lesen. Philip Moses zeigt Mitleid mit Benjamine, als er sagt: „Det er haardt nok, du er fader- og moderløs og dine christne Mosteres Tjenerinde [Es ist schwer genug, dass du ohne Vater und Mutter bist und die Dienerin Deiner christlichen Tante]“ (Ingemann 2007: 106). In ihrem Haus muss Benjamine von früh bis spät arbeiten, lebt in kargen Verhältnissen, bleibt dabei stets still, freundlich und bescheiden und ist der Hausherrin, „som vel ofte før havde givet hende haarde Irettesættelser [die sie wohl schon oft zuvor hart zurechtgewiesen hat]“ (Ingemann 2007: 109) doch lästig. Dieses Muster ist ebenfalls ein Motiv in verschiedenen Märchen wie Aschenputtel und Frau Holle.

      Auch das Grab eines geliebten Menschen als magischer Ort ist ein Märchenmotiv. Aschenputtel erhält am Grab ihrer Mutter drei Gewänder, in die sie sich kleidet, um schließlich die Frau eines Prinzen werden zu können. Für Benjamine erfüllt sich am Grab ihres Großvaters dessen Prophezeiung und sie begegnet ihrem Retter, der mit einem beinahe überirdisch leuchtenden Kreuz auf sie zutritt. Nach Ablauf eines Jahres steht das jungvermählte Paar am Grab des alten Rabbiners, während unter ihren Füßen das Wunder seiner Auferstehung geschieht.

      Sogar ein (volks-)märchentypischer Dreischritt lässt sich in der Novelle finden, wenn man die Ein- und Ausschlussmechanismen betrachtet, denen Benjamine und ihr Großvater ausgesetzt sind: Zuerst halten sie sich im Haus des reichen und materialistischen Samuel auf, suchen dann im Haus des assimilierten Isaak Unterkunft, um schließlich im Hause Veits und seines Vaters den Heiligen Geist zu erkennen und selbst erkannt (= gemalt) und somit erlöst zu werden.

      Im Gegensatz zum populären Topos des Märchenprinzen, der aktiv in das Geschehen eingreift, womöglich auf einem Schimmel daher geritten kommt, um das arme Mädchen aus seinem Elend zu befreien und durch die Hochzeit in den Adelsstand zu erheben, verhalten sich die Prinzen in etlichen Märchen bei genauerer Lektüre verblüffend passiv. Aschenputtels Prinz erkennt seine Geliebte nur an ihren kleinen Füßen und bittet zunächst zwei falsche Bräute auf sein Schloss. Die Prinzessin auf der Erbse muss eine grausame Nacht auf einer harten Hülsenfrucht verbringen, bevor der Prinz sie als würdig erkennt, ihn zu heiraten. Schneewittchen wird eher zufällig erlöst, weil ein Diener des Prinzen mit dem schweren Sarg auf den Schultern stolpert und der scheintoten Prinzessin dadurch das vergiftete Apfelstück aus dem Hals rutscht. Der junge König in Brüderchen und Schwesterchen lässt sich durch einen Zauber täuschen und legt sich zur Tochter der bösen Stiefmutter ins Bett. Einen ähnlichen Trick durchschaut auch der Prinz in AndersensAndersen, Hans Christian Märchen Den Lille Havfrue [Die kleine Meerfrau; 1837] (1990b) nicht und nimmt daraufhin die falsche Prinzessin zur Frau. Mitunter muss der Prinz selbst von der Prinzessin erlöst werden, wie es Rapunzel tut, als sie ihrem Prinzen Tränen in seine blinden Augen fallen lässt und ihn wieder sehend macht. Die spätere Frau des Froschkönigs wirft die zudringliche Amphibie sogar beherzt an die Wand und erlöst dadurch den Prinzen von seinem Fluch. Selbst Dornröschens Retter denkt mehr an seinen eigenen Vorteil – nämlich die Ehe mit einer schönen Königstochter – als an die gute Tat, als er sich durchs Dornengestrüpp arbeitet und die Schlafende wachküsst, was ihm auch nur deshalb gelingt, weil der Zauber just zu dieser Stunde aufgehoben ist. Die Figur des Retters in Form eines Prinzen ist also nur scheinbar ein ungebrochener Märchentopos. Dennoch ist das Glück – und Unglück – der jungen Frauen in allen diesen Beispielen an einen adligen Mann und potenziellen Ehegatten gebunden. Der junge Künstler Veit stellt die Idealfigur dieses Retters dar, indem er Benjamines Innerstes erkennt und ihr (und somit implizit auch ihrem Großvater) dadurch Erlösung im allumfassenden Sinne bringt. Benjamines Glück ist – wie das Glück der Frauenfiguren im Märchen – an die Figur eines heilbringenden Mannes gebunden. Er unterscheidet sich aber nicht durch den Adelsstand von den anderen Figuren, sondern durch seine göttliche Begabung. Die Figur der Sara in Andersens Märchen Jødepigen hingegen hat keinen irdischen Retter, und so ist ihr auch kein irdisches Glück beschieden.2 Es lohnt die Überlegung, ob es nicht gerade der Religionsunterschied zwischen Jüdin und Christ ist, der die Darstellung einer solch ungebrochenen und idealisierten Erlöserfigur, wie Veit sie darstellt, überhaupt erst ermöglicht. Denn die ideale männliche Erlöserfigur ist in IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle nur im Zusammenspiel mit der Jüdin Benjamine erzählbar. Erst durch den Christen Veit findet Benjamine zu ihrem Glück. Erst durch die Jüdin Benjamine kann Veit als Erlöserfigur erzählt werden. Die Figur des alten Juden Philip Moses dient hierbei der weiteren Idealisierung des jungen Christen, denn je widriger die Bedingungen für Veit sind, unter denen er dem Rabbiner seinen Respekt entgegenbringt, desto edler und idealisierter lässt ihn dies erscheinen. Der edle Retter ist kein schlaffer Prinz, wie ihn die Märchen anzubieten haben, sondern ein Künstler, der gottbegnadet in der Lage ist, zum Erlöser Benjamines, zum Erlöser der Juden und zum Erlöser einer säkularisierten christlichen Gesellschaft zu werden. Durch seine Fähigkeit zum Erkennen und zum Erschaffen ist er in der Lage, Religion mit neuem, tiefen Sinn zu füllen und somit in die Nachfolge Christi zu treten.

      Wenn man nun also den Blick erneut auf AndersensAndersen, Hans Christian Märchen Jødepigen richtet, wird plausibel, warum diese Erzählung als Märchen veröffentlicht werden konnte. Offenbar lassen sich märchenhafte Strukturen auf jüdische Figuren übertragen oder anders gesagt: Die jüdischen Figuren eröffnen Assoziationsräume zu märchenhaften Topoi. Diese wiederum sind, wie ich in den folgenden beiden Kapiteln 2.7 und 2.8 anhand des Ahasverusmotivs zeigen werde, anschlussfähig an das (volks)religiöse Genre der Legende (vgl. Rosenfeld 1982: 5–17). In beiden Textsorten, dem Märchen und der Legende, geschehen Wunder, und „[d]urch Wunder kommt es zur Begegnung zwischen dem Göttlichen und der Welt der Menschen“ (Burdorf/Fasbender/Moennighoff/Schweikle, G./Schweikle, I. 2007: 424). Das Märchen Jødepigen3 ist aufgrund der wundersamen Bekehrung der Jüdin zum Christentum märchenhaft genug, um keine weiteren märchenhaften oder phantastischen Elemente hinzufügen zu müssen. Zum Topos der ‚schönen Jüdin‘ gehört diese innere Zuwendung zum Christentum, die entweder im Scheitern der Figur, oftmals sogar in ihrem Tod endet oder in die Konversion samt Ehe mündet.4 Die religiöse Erleuchtung ist also Teil des Topos, die märchenhafte Begegnung mit dem Heiligen Geist ist in der Figur der ‚schönen Jüdin‘ angelegt, die ‚schöne Jüdin‘ ist somit selbst ein Märchen.

      Die Novelle Den gamle Rabbin wird strukturiert durch Aus- und Einschlussprozesse einerseits, erzählt anhand der drei Haushalte, in denen Benjamine und Philip Moses Zuflucht suchen, und durch das Motiv der Mobilität und Rastlosigkeit andererseits, wenn die beiden Figuren sich von einem Haus zum nächsten und damit jeweils in eine ungewisse Zukunft aufmachen. Damit schreiben sich die Figuren Benjamine und Philip Moses in einen weiteren Topos ein: den des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus. 1602 tauchte dieser erstmals in der pseudonym verfassten Ahasveruslegende Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden/mit Namen Ahaßverus auf (vgl. Körte 2006: 43). Die Figur steht, obwohl selbst eben gerade kein Heiliger, durch ihren legendenhaften Charakter in einem heilsgeschichtlichen, christlichen Kontext (vgl. Körte 2000: 11 [Fußnote 1]; Rosenfeld 1982: 1–2, 15–19).1 Dabei ist Ahasverus nicht als Individuum gestaltet, sondern fungiert als „Protagonist einer L.[egende] v.a. als exemplarische Projektionsfläche bestimmter Ideen“ (Burdorf/Fasbender/Moennighoff/Schweikle, G./Schweikle, I. 2007: 425; vgl hierzu Körte 2006: 44–46). Als geistiges Kind der Reformation verbreitete er sich in den folgenden zwei Jahrhunderten soweit in der Literatur Europas, dass er schließlich


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