Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock


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bei, ist also selbst Legende, wenn auch eine „Antilegende“ (Jolles 1968: 51). Ahasverus soll ein Schuhmacher in Jerusalem zur Zeit Jesu gewesen sein, der dem Heiland auf seinem Weg nach Golgatha die Rast vor seinem Haus verweigert hat. Zur Strafe soll er dazu verdammt worden sein, bis in alle Ewigkeit auf Erden umherzuwandern, ohne sterben zu können oder jemals zur Ruhe zu kommen (vgl. Körte 2000: 27–48; für den dänischen Kontext vgl. Dal 1965; Edelmann 1965). Gesehen zu werden ist sein einziger Zweck. „Kein Wunder wäre es gewesen, wenn dieser Mann wie andere Sünder, wie sogar Judas selbst, für sein Unrecht in der Hölle hätte büßen müssen; Wunder ist, daß er nicht stirbt, daß er ewig lebend, allen sichtbar umherwandelt“ (Jolles 1968: 52). Auf diesen Topos spielt die Novelle nicht nur mit ihrer Struktur und der Rastlosigkeit ihrer Figuren an. Auch die Figurenrede verweist auf Ahasverus, wenn Philip Moses, als er das Haus seines zweiten Sohnes Isaak verlässt, zu Benjamine sagt: „Lad mig gaae, mit Barn! og græd ikke fordi jeg vandrer saa ene! jeg vil heller gaae huusvild paa Jorden, end laane Tag i Forargelsens Bolig [Lass mich gehen, mein Kind! und weine nicht, weil ich so einsam wandere! ich will lieber heimatlos auf Erden wandern, als Schutz in der Wohnstätte des Ärgernisses zu suchen]“ und Benjamine ihm antwortet: „Nu vel, saa bliver jeg hos dig [Nun gut, dann bleibe ich bei dir]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 108). Benjamine und ihr Großvater sind ebenfalls rastlos, heimatlos, selbst innerhalb ihrer eigenen Familie und Gemeinde sind sie Fremde und Nicht-Zugehörige. Für alle sind sie sichtbar: für Christ*innen und Jüd*innen, für die Figuren und die Leser*innen. Erst mit der Hinwendung zum Christentum werden beide jüdischen Figuren von ihrer ewigen erzwungenen Wanderschaft erlöst. Damit deutet sich ein weiteres Mal die Nähe zu Ahasverus an, denn in der Literatur ist er stets dadurch gekennzeichnet, dass entweder „der Ewige Jude […] keine Entwicklung hat“ (Körte 2006: 47) oder die einzig mögliche Entwicklung ihn direkt ins Christentum führt. Philip Moses repräsentiert durch seine Sprache, seinen greisen Körper und schließlich seinen todesähnlichen Krankheitszustand eben jene Entwicklungslosigkeit, die auch Ahasverus verkörpert. In seinem Bann ist Benjamine ebenfalls dem Schicksal des Ahasverus ausgeliefert. Für Philip Moses fällt die Entwicklung zum Christentum mit dem Moment des Todes zusammen, seine Geschichte ist hier also auserzählt. In der Figur der Benjamine findet ebenfalls allein durch ihre Bekehrung zum Christentum eine Entwicklung statt, denn in diesem Schritt kann Benjamine sich aus der starren Perspektivlosigkeit, an der ihr Großvater festhält, lösen. Sie erlebt also als junge Frau ihre Erlösung noch zu Lebzeiten. Doch damit ist auch ihre Geschichte als Jüdin auserzählt und die Novelle endet.

      Der ‚ewige Jude‘ Ahasverus wird IngemannIngemann, Bernhard Severin noch einmal beschäftigen. 1833 erscheint sein umfangreicher (immerhin 237 Seiten umfassender) Gedichtzyklus Blade af Jerusalems Skomagers Lommebog [Seiten aus dem Notizbuch des Schuhmachers von Jerusalem] als eine Art lyrisches Reisetagebuch des ‚ewigen Juden‘. Als Unzugehöriger, der durch alle Länder und die Jahrhunderte wandert, wird er in der Rezeption des Zyklus als Verkörperung des autoreigenen „Fremmedfølelsen [Fremdheitsgefühls]“ (Akhøj Nielsen 2001–2017) in seiner Gegenwart begriffen. „Et karakteristisk udtryk for denne stemning […] er hans identifikation med Ahasverus i digtkredsen [Ein charakteristischer Ausdruck dieser Stimmung ist seine Identifikation mit Ahasverus im Gedichtzyklus]“ (Minke 2008). Wie Ahasverus als Identifikationsfigur nicht nur für Ingemann, sondern für den suchenden Dichter generell literarisch fruchtbar gemacht werden konnte, soll im folgenden Exkurs anhand eines weiteren Textes von AndersenAndersen, Hans Christian dargestellt werden (vgl. auch Thing 2001: 123–162).

      Nur kurze Zeit nach der Veröffentlichung von IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle erschien Hans Christian AndersensAndersen, Hans Christian (1986) Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 [Fußreise vom Holmenkanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829], kurz Fodreise. Der junge Dichter, aus dessen Perspektive der Roman erzählt ist, begibt sich auf einer „Fußreise“ auf die Suche nach literarischem Stoff. Voller Witz und Ironie verwebt Andersen eine schier unüberschaubare Zahl literarischer Motive zu einem Spaziergang durch die Silvesternacht 1828 auf 1829.1 Dabei promeniert der Erzähler nicht nur vom Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager – was ein durchaus überschaubarer und unspektakulärer Fußmarsch von nur knapp 3km Länge ist (vgl. Kramer 2013: 39) –, sondern er spaziert vielmehr durch die gesamte „deutsche Literatur um 1800, sei sie stürmerisch und drängerisch, klassisch oder romantisch – oder trivial“ (Øhrgaard 2010: 92).2 Als eine von vielen bekannten Figuren der Literaturgeschichte begegnet dem Erzähler auf seinem Spaziergang durch eine Silvesternacht auch Ahasverus. Dieser ist mit seinen Hundertmeilenstiefeln unterwegs durch die Welt und überlässt dem Erzähler für einen kleinen Kurztrip durch Europa seine Wunderschuhe. In der Begegnung mit Ahasverus und dessen Schuhwerk lässt sich als literarisches Vorbild unverhüllt Adelbert von ChamissosChamisso, Adelbert Peter Schlehmils wundersame Geschichte [1814] (2010) erkennen, denn, so erzählt Ahasverus seinem jungen Zuhörer, als er die alten Stiefel einmal zu Reparatur gegeben habe, „blev de forbyttede og før jeg mærkede Feiltagelsen var de allerede solgt til en Peter Schlemil [sic!], hvis ‚vundersame Geschichte‘ Chamisso har meddeelt Læseverdenen [wurden sie vertauscht, und ehe ich den Fehler bemerkte, waren sie bereits an Peter Schlehmil verkauft, dessen ‚wundersame Geschichte‘ Chamisso der Lesewelt mitgeteilt hat]“ (Andersen 1986: 69). Erst kürzlich habe er sie zurückerhalten. Damit zeigt sich die Verwandtschaft des Ahasverus auch mit phantastischen Motiven. Die Schuhe, die, ob nun sieben oder 100 Meilen, jedenfalls eine enorme Stecke mit einem einzigen Schritt überbrücken können, sind beispielsweise auch in Wilhelm HauffsHauff, Wilhelm Märchen Die Geschichte vom kleinen Muck [1826] (2011) ein Motiv.3 GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Mephisto nutzt einige Jahre später in Faust II [1832] (2008) ebenfalls die magischen Stiefel zur schnellen Fortbewegung. So fügt die Ahasverus-Episode in Andersens Fodreise dem ohnehin schon legendären Motiv des ewig umherwandernden Juden durch die Hundertmeilenstiefel noch eine zusätzliche magische Komponente hinzu, die außerdem eine Verbindung zum Teufel andeutet und daher auch die Gefahr von Fluch und Verdammnis in sich birgt. Der junge Dichter seufzt, dass der literarische Stoff ihm ausgehe und freut sich über die unverhoffte Begegnung mit Ahasverus und dessen reichen Vorrat an Erzählungen, denn

      „Satan, som nu er saadan en allerkjæreste person i et Eventyr, har været meer end nok i Verden, selv hans Papirer ere udkomne. Faust har baade GoetheGoethe, Johann Wolfgang von, LessingLessing, Gotthold Ephraim, Mahler Müller og Klinger havt Fingre paa, saa jeg veed ingen heldigere Person end Dem. Ak! hvo der dog havde Deres Erfaring […].“ (AndersenAndersen, Hans Christian 1986: 68)

      „Satan, der nun so eine allerliebste Person in einem Märchen ist, war mehr als genug in der Welt, selbst seine Schriften sind erschienen: GoetheGoethe, Johann Wolfgang von, LessingLessing, Gotthold Ephraim, Mahler Müller und Klinger hatten alle ihre Finger am Faust, ich kenne also keine besser geeignete Person als Euch. Ach! wer doch Eure Erfahrung hätte.“

      Ahasverus jedoch hat keine Freude an seinem Erfahrungsschatz, denn er hat keine Aussicht auf Erlösung, und somit hat seine Rastlosigkeit auch kein Ziel. Er muss, so Körte, „wandern, muss passiv seine Mission erfüllen und ist durch sein wahllos bewahrendes Gedächtnis allwissend und daher ohne Neugier“ (Körte 2006: 45). Nun jedoch, in AndersensAndersen, Hans Christian phantastischem Roman über die literarische Suche eines jungen Dichters, bilden der alte Ahasverus und der junge Dichter für einen Moment eine Gemeinschaft der Ruhelosen.4 Ahasverus, der so viel schon gesehen hat, wird für den Moment zum literarischen Vorbild, zur Identifikationsfigur des suchenden Poeten und stellt dabei einen „Stimulus im Sinne einer (die Vorstellung von Entwicklung) beunruhigenden und gleichzeitig anregenden Instanz“ dar (Körte 2000: 321). Seine Stiefel will der junge Dichter leihen, „blot een Time vilde jeg laane dem for i denne med store Skridt at vandre gjennem Verden og samle Stof til det interessanteste Capitel i hele min Fodreise [nur eine Stunde wollte ich sie leihen, um in ihnen mit großen Schritten durch die Welt zu wandern und Stoff für das interessanteste Kapitel in meiner ganzen Fußreise zu sammeln]“ (Andersen 1986: 69). Und da nicht nur Ahasverus für den Dichter interessant ist, sondern auch umgekehrt der


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