Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock
Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung
Zweifellos wohnt der Literatur die Möglichkeit inne, Stimmen marginalisierter Personengruppen zu Gehör zu bringen und Identifikation mit ihnen zu stiften. So stellte beispielsweise Martin Sexl 1996 in seinem Aufsatz Was ist Literatur und warum brauchen wir sie? vor allem die Fähigkeit der Literatur heraus „die Bedeutung von Erfahrung(en) zugänglich zu machen“ (1996: 185). Literatur werde durch ihre „Eigenschaft als implizites Wissen […] zu einer Stellvertretererfahrung und dadurch auch zu einer Basis gesellschaftlichen Lebens (d.h. ethischen Könnens): Denn Kunst ist ein Sensibilisierungsprozeß für unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen in der ‚realen Welt‘“ (Sexl 1996: 192). Diese Perspektive steht auch für Ulrike Koch im Vordergrund, deren Beitrag 2017 in der Anthologie Vom Eigenwert der Literatur. Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte (Bartl/Famula 2017) erschien. Sie betont besonders die Möglichkeit „der Darstellung von Ideen und Problemen aus der Perspektive von marginalisierten Positionen“ (Koch 2017: 282). Außerdem mache Literatur „durch das Ausloten von Grenzen […] den Konstruktionscharakter von Realitäten sichtbar“ (Koch 2017: 283). Außer Zweifel steht allerdings auch, dass Literatur ebenso das Gegenteil bewirken und Vorannahmen festigen kann. So hält Florian Krobb fest: „Die Literatur greift […] in die außerliterarische Realität ein, indem sie zum Beispiel Bewertungsmuster bereitstellt oder Klischeevorstellungen begründen und verfestigen hilft“ (Krobb 1993: 13). In letzter Konsequenz bedeutet dies, mit einer Formulierung der Literaturwissenschaftlerin Catherine Belsey, dass Literatur dazu beiträgt, „die Kultur, die sie hervorgebracht hat, erst einmal selbst zu bilden“ (Belsey 2000: 51–52). Im Schreiben über Juden und Jüdinnen zeigt sich dieses Spannungsfeld in beispielhafter Weise. Doch erst in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich diesen Texten widmen, signifikant gestiegen. Noch 2007 beklagten die Herausgeber der Anthologie Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz in ihrem Vorwort, dass die Literaturwissenschaft als Disziplin innerhalb der Antisemitismusforschung „bislang eher randständig blieb“ (Bogdal/Holz/Lorenz 2007: VII). Mit dieser Anthologie wurde also selbst ein wichtiger Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung geleistet, und sie beinhaltet, anders als der Titel suggeriert, auch einige Beiträge, die sich der Judenfeindschaft in der Literatur vor Auschwitz widmen. Seitdem sind etliche Arbeiten hinzugekommen, die aus unterschiedlichen Perspektiven literarische Texte auf ihre Darstellung von jüdischen Figuren befragen. Die Auswahl der untersuchten Texte erstreckt sich mittlerweile von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Nike Thurn (2015) untersucht in ihrer Monografie »Falsche Juden«. Performative Identitäten von LessingLessing, Gotthold Ephraim bis Walser Figuren, deren vermeintlich jüdische Identität sich im Handlungsverlauf als Irrtum oder Täuschung herausstellt. Victoria Gutsche richtet in ihrer Arbeit Zwischen Abgrenzung und Annäherung. Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des 17.Jahrhunderts den Blick auf die frühe Neuzeit und stellt dabei die Frage, ob „‚positive Juden‘ in der Literatur des Barock möglich“ waren (Gutsche 2014: 38). Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass jüdische Figuren zwar ganz unterschiedliche Funktionen wahrnehmen können und eben nicht zwangsläufig der Diffamierung des Judentums dienen, die meisten der hier untersuchten Texte jedoch eine eindeutig antijüdische Stoßrichtung verfolgen“ (Gutsche 2014: 388). Paula Wojcik (2013) fokussiert in ihrer Dissertation Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur auf Metaphernkonzepte zum Entwurf von Selbst- und Fremdbildern. Mithilfe metapherntheoretischer Zugänge stellt sie dar, wie in deutsch-, polnisch-, und englischsprachigen literarischen Texten der Gegenwart die Dekonstruktion antisemitischer Stereotype gelingen kann. In allen drei, im Abstand von nur jeweils einem Jahr erschienenen Dissertationen geben die Autorinnen einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung und die Schwerpunkte der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung (Wojcik 2013: 13–30; Gutsche 2014: 15–23; Thurn 2015: 61–68), so dass ich mich hier weitestgehend auf die Darstellung der jüngeren Entwicklung beschränke. Gutsche konstatiert zusammenfassend zwei Strömungen innerhalb der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung:
zum einen eine historisch-soziologisch argumentierende Stereotypforschung und zum anderen eine auf das System Literatur bezogene Motivforschung. Während erstere meist dazu neigt, Stereotype auf ihren Realitätsgehalt hin zu untersuchen, um so deren ‚fiktiven‘ Charakter zu konstatieren, beschränkt sich die Motivforschung häufig darauf, Figurendarstellungen als ‚stereotyp‘ auszuweisen. Damit wird zugleich ein unveränderlicher Charakter eines solchen Bildinventars suggeriert und durch die Literaturwissenschaft perpetuiert. (Gutsche 2014: 23)
Gutsche selbst betont die „spezifische Literarizität“ (2014: 23) von literarischen Texten und bemängelt an den bislang meist verfolgten Ansätzen der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung:
Literatur wird so zur bloßen Quelle, die jedem einzelnen Text spezifischen Codierungen und Eigengesetzlichkeiten sowie Gattungsdynamiken bleiben weitgehend unberücksichtigt. So kommt es meist zu einer Einebnung von Spannungen und Ambivalenzen, mögliche Gegenmodulationen zur Bildlichkeit werden kaum sichtbar. (Gutsche 2014: 25)
Sie schließt damit an eine Kritik an, wie sie bereits in ähnlicher Weise um die Jahrtausendwende von Franka Marquardt (2003: 23) und Mona Körte (1998: 148, 2007: 63) aufgeworfen wurde. Gutsche kritisiert außerdem, der Begriff ‚Literarischer Antisemitismus‘ sei zu eng gefasst. Untersuchungen, die unter diesem Oberbegriff durchgeführt werden, „konzentrieren sich vornehmlich auf die Literatur ab dem neunzehnten Jahrhundert, insbesondere aber nach 1945.“ Mit der Verwendung des Begriffs ‚Literarischer Antisemitismus‘ werde
für die Erforschung literarischer Judenfeindschaft eine systematische (Eingrenzung auf einen bestimmten Zeitraum) und eine qualitative (Antisemitismus als Forschungsgegenstand) Vorentscheidung getroffen, die den Untersuchungsgegenstand erheblich begrenzen und so entscheidende Facetten ausblenden. (Gutsche 2014: 27)
Erfreulicherweise hat sich, nicht erst mit diesen jüngeren Publikationen, der Blick auf das Forschungsfeld geweitet, sowohl hinsichtlich des erforschten Zeitraums als auch des Forschungsgegenstands. Es geht inzwischen zunehmend darum, die Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten literarischer Darstellungen von jüdischen Figuren sichtbar zu machen. 2013 erschien Eva Lezzis Habilitationsschrift „Liebe ist meine Religion!“ Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19.Jahrhunderts. Lezzi untersucht in ihrer Studie, „inwiefern die prägenden zeitgenössischen Diskurse zu Liebe, Ehe, Familie und Sexualität eine Alterität zwischen Juden und Christen konstruieren – gerade auch dann, wenn diese Alterität im Begehren zugleich überwunden werden soll“ (Lezzi 2013: 8). Mona Körte stellte bereits im Jahr 2000 in ihrer Monografie Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der ewige Jude in der literarischen Phantastik anhand der Untersuchung des Ahasverus-Topos die Flexibilität und Ambivalenz einer um 1600 entstandenen und bis in die Gegenwart vitalen literarischen Figur dar. Auf die Sichtbarmachung von Mehrdeutigkeiten und scheinbaren Widersprüchen legt es auch Franziska Schößler in ihrer 2009 erschienenen Untersuchung Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola an, denn gerade „[d]iese Ambivalenzen, die jegliche Projektionsstruktur prägen, ermöglichen die flexible Adaption an historische Zustände sowie diskursive Vernetzungen“ (Schößler 2009: 34). Die Herausforderung innerhalb der literaturwissenschaftlichen Analyse besteht also gerade darin, dem Impuls zu widerstehen, diese Ambivalenzen in der Analyse zu vereindeutigen und zu glätten. Hierzu, so Körte, „bedarf es des genauen Lesers und der genauen Leserin, die nicht finden, was sie suchen, sondern sich auf die Bewegung und die Widersprüchlichkeit von Sinnangeboten einlassen“ (Körte 2007: 66). Doch wie kann eine solche genaue Lesart vonstattengehen, ohne von den eigenen Erwartungen und Vorannahmen korrumpiert zu werden?
1.5.2 Kulturpoetik und Zirkulation
Eine Anregung zur aufmerksamen und neugierigen Annäherung an Literatur bietet Stephen Greenblatt mit seinem freimütigen Geständnis, seine eigene Forschung zur Renaissance sei vor allem von dem Wunsch angetrieben, „mit den Toten zu sprechen“, ein Wunsch, der, „obzwar unausgesprochen, vielen literaturwissenschaftlichen Studien zugrunde liegt“ (Greenblatt 1988: