Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock


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man einen Nagel ins Holz schlägt, so bietet das Holz unterschiedlich Widerstand, je nachdem, an welcher Stelle man ihn ansetzt: man sagt, das Holz ist nicht isotrop: die Ränder, die Kluft sind unvorhersehbar. Ebenso wie sich die (gegenwärtige) Physik dem nicht-isotropen Charakter bestimmter Milieus, bestimmter Universa anpassen muss, ebenso muß die strukturale Analyse (die Semiologie) die geringsten Widerstände des Textes, die unregelmäßigen Zeichnungen seiner Venen erkennen. (BarthesBarthes, Roland 1974: 55)

      BarthesBarthes, Roland verwendet unterschiedliche Metaphern, um diese Widerstände im Text zu beschreiben. Er nennt sie Hindernisse (1974: 43), Unregelmäßigkeiten (1974: 55), Widersprüche (1974: 8), Schatten (1974: 49), Klüfte, Brüche und Risse (1974: 13–14), Zwischenräume (1974: 20) und identifiziert sie als Quellen der Lust beziehungsweise der Wollust beim Lesen.1 Wollust und Begehren sind zentrale Kategorien im Denken Barthes’, er versteht sie als Grundlage des Forschens überhaupt und fordert: „Die Arbeit (Forschungsarbeit) muss dem Begehren abgewonnen werden“ (Barthes 2006: 92). Das Begehren wiederum stellt sich überall dort ein, wo sich Widerstände in einem Text zeigen und wo die Freiheit besteht, diesen Widerständen nachzugehen. Dieses ausdrückliche Begehren nach ihren Forschungsgegenständen – oder vielleicht mehr noch ihr ausdrückliches Bekenntnis zu diesem Begehren – verbindet Greenblatt und Barthes, ebenso wie die Akzeptanz der Zufälligkeit, mit der sich im geisteswissenschaftlichen Arbeiten Dinge anordnen und so neues Wissen generiert werden kann. In Barthes’ Fragmente einer Sprache der Liebe (2014) finden sich am seitlichen Rand neben den einzelnen Fragmenten Verweise auf andere Werke, auf Musik, Literatur, Autoren und weitere Quellen. In seiner Einleitung erklärt er diese Verweise:

      Die Quellen, die damit bezeichnet werden, sind nicht die der Autorität, sondern die der Freundschaft: ich berufe mich nicht auf Garantien, ich gedenke, mit einer Art im Vorbeigehen erstatteten Grußes, lediglich dessen, was verführt, was überzeugt, was einen Augenblick lang die Wollust des Verstehens (die des Verstandenwerdens?) geschenkt hat. (BarthesBarthes, Roland 2014: 22)

      In meinen Textanalysen begebe ich mich auf die Suche nach Rissen und Unebenheiten, nach Textstellen, Passagen, Zitaten, einzelnen Wörtern, auch nach Figuren, die mit eben jenen Metaphern der Widerstände und Zwischenräume beschrieben werden können: Schatten und Hindernisse, Rauheit und Knirschen. Dabei verfolge ich stets die Frage, was diese Widerstände mit den jüdischen Figuren im Text zu tun haben. Sofern sie bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage hilfreich sind, werden neben den Quellen der Autorität hin und wieder auch, um mit BarthesBarthes, Roland zu sprechen, „Quellen der Freundschaft“ aufgeführt, die nicht unerwähnt sein sollen, da sie mir für einen Moment beim Stolpern über die Widerstände des Textes diese „Wollust des Verstehens“ geschenkt haben. Denn wenn ich zum Beispiel im 21.Jahrhundert in einem Museum in Berlin niederländische Landschaftsbilder aus dem 17.Jahrhundert betrachte und sich dabei ganz plötzlich das Verständnis für eine dänische Novelle aus dem 19.Jahrhundert einstellt, muss ein solcher Faden unbedingt aufgenommen und als Beteiligter am Erkenntnisprozess sichtbar gemacht werden (vgl. Kapitel 3.8).

      Im Begriff ‚Philosemitismus‘ schwingt viel Ambivalenz mit. Gibt es so etwas wie Philosemitismus überhaupt, und wenn ja, was ist damit gemeint? Ist er nicht immer an Bedingungen und Erwartungen geknüpft, wie Juden und Jüdinnen zu sein, sich zu verhalten und sich zu entwickeln haben? Und ist Philosemitismus nicht immer mit Fremdzuschreibungen verbunden und stellt somit auch eine Form der Diskriminierung und Ausgrenzung dar? Zumindest die letzten beiden Fragen sind leicht zu beantworten: Ja. In der Tat kommt bereits DohmsDohm, Christian Wilhelm von emanzipationsbefürwortende und mithin als philosemitisch zu bezeichnende Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden nicht ohne die explizit formulierte Erwartung aus, dass die Juden sich, sofern sie erst einmal bürgerlich bessergestellt wären, auch moralisch verbessern würden. Der Begriff der Verbesserung bezieht sich also gleichermaßen auf die rechtliche Situation der Juden wie auf ihren vermeintlichen moralischen Zustand, der ganz selbstverständlich als verbesserungswürdig behauptet wird (vgl. Detering 2002b). Wie sehr Philo- und Antisemitismus Hand in Hand gehen und wie leicht sie von einem ins andere Extrem umschlagen können, hat erstmals Frank Stern in seiner Studie Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg gezeigt. Stern stellt dar, dass der Wechsel zwischen anti- und philosemitischer Haltung nicht nur leicht und in beide Richtungen vollzogen werden kann, sondern in der Regel aus pragmatischen Gründen erfolgt:

      Antisemitismus oder Philosemitismus […] sind keine Verarbeitung der Vergangenheit im Sinne einer geistig-kulturellen Bewältigung, sondern eine pragmatisch Bearbeitung von Vorurteilen und sozialen Erfahrungen. […] Die vorhandenen Haltungen zu Juden sind nicht alternativ „Anti“ oder „Philo“, sondern können in der jeweiligen zeitbedingten Entwicklung in einem dieser Syndrome kulminieren. (Stern 1991: 343)

      Darüber hinaus diente in der (west-)deutschen Nachkriegszeit eine philosemitische Haltung auch stets der eigenen Selbstvergewisserung. Zur Illustration zieht Stern die Spielpläne der Theaterbühnen heran, auf denen

      „Jud Süß“ 1945 zeitgemäß von „NathanLessing, Gotthold Ephraim“ abgelöst wurde. Alle guten Eigenschaften, die ein Deutscher jetzt haben sollte, blickten wie aus einem Spiegel als das freundlich-nachdenkliche und doch so unverbindliche Gesicht Nathans den Nachkriegsdeutschen an. Im Stereotyp vom guten und weisen Juden konnte jeder Deutsche, so er ideell die Überreste des Tausendjährigen Reiches verlassen wollte, sich selbst wiederfinden, oder zumindest das, was als deutsches Wesen, aller politischen Bezüge entkleidet, aus der „deutschen Katastrophe“ in die deutsche Zukunft hinüberragen sollte: Glauben, Bildung und Besitz. (Stern 1991: 356–357)

      Dieses Beispiel veranschaulicht einen Aspekt, der auch die viel älteren, von der Shoah noch nichts ahnenden Autor*innen und Texte betrifft. Niemals geht es in den Texten vornehmlich um Juden, immer geht es vor allem um eine dänisch-protestantische Selbstvergewisserung und eine geistige und politische Positionierung der Nicht-Juden. Die jüdischen Figuren dienen, wenn nicht ausschließlich, so doch auch dieser Selbstvergewisserung und -verortung. Als aufgeklärter, toleranter Christ und Philosemit steht man hier auf der richtigen Seite und zeigt sich als ebenso gebildet und weltgewandt wie der weise NathanLessing, Gotthold Ephraim.

      Die Begriffsgeschichte des Wortes ‚Philosemitismus‘ zeigt, dass diese Perspektive nicht immer so eindeutig war. Zunächst nämlich verwendeten es bekennende Antisemiten, namentlich der Kreis um den Historiker Heinrich von TreitschkeTreitschke, Heinrich von (1834–1896), um ihre politischen Gegner zu diskreditieren und ihnen den Vorwurf „eine[r] ‚blinde[n]‘ Verehrung alles Jüdischen, eine[r] Anbiederung bei den Juden“ zu machen (Kinzig 2009: 27). Bereits kurz nach der Etablierung des Begriffs wurde er allerdings auch positiv besetzt, so dass beide Konnotationen nebeneinander bestehen blieben und er also von Anfang an mit Ambivalenz verbunden war (vgl. Kinzig 2009: 27; Grimm, M. 2013). Verschiedene Autorinnen und Autoren haben versucht, sich dem Begriff und dem Phänomen ‚Philosemitismus‘ anzunähern. Im englischsprachigen Sammelband Philosemitism in History (Karp/Sutcliffe 2011a) wird aus vornehmlich historischer Perspektive eine Annäherung an das Phänomen vorgenommen, wobei die Herausgeber Jonathan Karp und Adam Sutcliffe bereits in der Einleitung erklären, dass eine befriedigende und allgemeine Definition des Begriffs zu erreichen unmöglich scheint (2011b: 6). Dennoch wurden solche Versuche immer wieder unternommen. Wolfram Kinzig (2009), Moshe Zuckermann (2009) sowie Lars Rensmann und Klaus Faber (2009) haben den Begriff ‚Philosemitismus‘ aus unterschiedlichen Perspektiven zu fassen und zu beschreiben versucht. Ihre Beiträge eröffnen den Tagungsband Geliebter Feind – gehasster Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart (Diekmann/Kotowski 2009) und stellen verschiedene Ansätze dar, ‚Philosemitismus‘ als Arbeitsbegriff zu definieren beziehungsweise ihn zu hinterfragen und ihn unter Umständen auch zu verwerfen. Dabei fehlt es jedoch an einem systematischen Zugang, so dass Kinzig am Ende seiner Reflexion über die Forschungslage feststellt: „Die Frage, ob es so etwas wie Philosemitismus gibt und wie er genau zu fassen wäre, ist also unverändert offen“ (Kinzig 2009: 42). In jedem Fall, so konstatiert Zuckermann in seinem Beitrag, sei Philosemitismus niemals ohne Antisemitismus


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