Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock
die vor dem Zeitraum der erzählten Handlung liegt, teilen auch Lessings edle Judenfiguren, und wie diese verdankt schließlich auch der erste dänische ‚edle Jude‘ in HeibergsHeiberg, Peter Andreas Komödie Chinafarerne von 1792 „seine Ehrenhaftigkeit […] im Grunde der noch edleren Tat eines Christen“ (Räthel 2016: 123). Gewalt gegen Juden ist Teil des literarischen Topos vom ‚edlen Juden‘. Anders als in den Vorgängertexten liegt in Ingemanns Novelle die Gewalterfahrung jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern die Erzählung beginnt unmittelbar mit ihr. Der Leser wohnt also der Rettung durch den Christen und somit einem wesentlichen Teil des „Veredelungsprozesses“ bei.
Der ‚edle Jude‘ ist – wie auch die ‚schöne Jüdin‘ – ohne christliche Figuren als deren Resonanzraum weder zu denken noch zu verstehen. Obwohl die Gewalt in diesen ersten Passagen der Novelle von Christen ausgeht, findet die Novelle jedoch, in Form der Figurenrede des Rabbiners, die Schuld zunächst nicht bei den Steine werfenden Christen, sondern bei den Juden selbst. Denn Philip Moses fährt fort:
„Ja, I har Ret“ – vedblev han – „Jerusalem er lagt i Gruus og forstyrret. Stener os kun, I Jehovas Morderengle! I hans Vredes hylende Udsendinge! Hans Langmodighed var stor; men hans Folk forglemte ham i sin Udlændigheds Smitte: de foragtede Loven og Propheterne i de Fremmedes Porte; de have bladet deres Blod med de Vantroes – see! derfor skal Guds Folk udslettes af Jorden og bortstenes af de Levendes Land.“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 99)
„Ja, Ihr habt Recht“ – fuhr er fort – „Jerusalem ist in Schutt gelegt und zerstört. Steinigt uns nur, Ihr Mordengel Jehovas!2 Ihr heulenden Abgesandten seines Zorns! Sein Langmut war groß; doch sein Volk vergaß ihn, angesteckt in seinem Exil: sie verachteten das Gesetz und die Propheten unter den Toren der Fremden; sie haben ihr Blut mit denen der Ungläubigen vermischt – seht! darum soll Gottes Volk von der Erde ausgelöscht und aus dem Land der Lebenden hinfortgesteinigt werden.“
Die Bewegung, die der Text in den ersten beiden Abschnitten unternimmt, ist extrem ambivalent: Zunächst wird die jüdische Figur durch ihr Äußeres als würdevoll, respektabel und somit als edel markiert. Aus der Figurenrede wird deutlich, dass dieser Jude sich selbst durch seine tiefempfundene Religiosität moralisch unangreifbar macht. Damit wird die physische Gewalt, der er gerade ausgesetzt ist, als ungerechtfertigt verurteilt. Zugleich wird mittels seiner Figurenrede ein Erklärungsangebot gemacht, das die Gewalt zumindest gegenüber einem Teil der jüdischen Bevölkerung legitimiert. Nicht nur wird die Schuld für die Gewalt bei den Juden selbst gefunden, dieser Schuldspruch geschieht überdies durch die jüdische Hauptfigur selbst, die durch ihre eigene religiöse Integrität mit besonderer Autorität ausgestattet ist. Im weiteren Textverlauf zeigt sich, dass gerade jene Figuren, die diese Autorität anerkennen, nämlich seine Enkelin und der Christ Veit, schließlich diejenigen sind, welche die religiösen Gewissheiten des alten Rabbiners ins Wanken bringen. So wird schließlich tatsächlich das Judentums des alten Rabbiners zum Verschwinden gebracht – allerdings nicht mit körperlicher Gewalt, von der sich der Text weiterhin distanziert, sondern mit einer als dezidiert christlich dargestellten Religiosität. Damit wird zugleich die anfängliche Figurenrede von Philip Moses infrage gestellt. Zwar wird sie in ihrer Konsequenz bestätigt, denn das Judentum wird zum Verschwinden gebracht. Doch nicht durch „Jehovas Zorn“ wird „Gottes Volk von der Erde ausgelöscht“, sondern durch die Überzeugungskraft des Christentums, in dem das Judentum aufgeht (vgl. Kapitel 2.4). Anders als LessingsLessing, Gotthold Ephraim Nathan arbeitet IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle nicht mit dem Postulat, dass alle (monotheistischen) Religionen denselben Wahrheitsgehalt verkörpern. Vielmehr führt die physische Rettung des gläubigen Juden zu seiner religiösen Bekehrung und somit zur Überwindung des Judentums. Das Judentum wird nicht als eine lebendige zeitgenössische Religion dargestellt, sondern als Mutterreligion, die vom Christentum als Tochterreligion abgelöst wurde und deren Entwicklung seit der Entstehung des Christentums stagniert ist.3 Der Text braucht und benutzt die Figur des ‚edlen Juden‘, um über eine Erneuerung des Christentums sprechen zu können. Der alte Rabbiner Philip Moses stellt ein philosemitisches Phantasma dar, dessen Religiosität als ein Idealbild jüdischer Frömmigkeit fantasiert wird, gleichzeitig aber überwunden und ins Christentum inkorporiert werden muss. Damit dient der ‚edle Jude‘ schließlich der Veredelung des Christentums und fungiert allein „als moralischer Appell an die Christen“. Eine „spezifisch jüdische Identität“ der Figur ist dabei „letztlich gleichgültig“ (Surall 2008: 313). Die in der Figur des alten Rabbiners repräsentierte Vorstellung eines idealisierten Judentums wird in der Novelle mit verschiedenen Varianten der Akkulturation kontrastiert, die in den folgenden Abschnitten untersucht werden soll. Dabei nimmt der Text auch eine kritische Haltung gegenüber der sich säkularisierenden christlichen Mehrheitsgesellschaft ein.
2.3 Jüdische und christliche Welten
2.3.1 Ausgrenzung I: Im Hause des reichen Juwelenhändlers
Als die Erzählung einsetzt, befindet sich Philip Moses im Haus eines seiner beiden Söhne, dem reichen Juden Samuel, einem Juwelenhändler. Hier suchen viele Juden Schutz, wobei doch Samuel es vor allen anderen ist, gegen den die Aggression der aufgebrachten Masse sich richtet. Samuel ist „den rigeste Juveleer i Hamborg [der reichste Juwelier in Hamburg]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 99) und verkörpert somit die altbekannte Vorstellung vom reichen „Geldjuden“, der für seine Profit notfalls bereit ist, über Leichen zu gehen. Zumindest klingt diese Vorstellung in der Figur an, wenngleich diese Leiche „nur“ seine Religion ist. Er befürwortet die Konversion zum Christentum und erklärt: „Mig er det s’gu ligegyldigt, enten man kalder mig Jøde eller Christen […] naar jeg kun kan bjerge Gods og Liv [Mir ist es doch gleichgültig, ob man mich Jude oder Christ nennt, solange ich nur Besitz und Leben retten kann]“. Ob er sich nun Wasser über die Stirn gießen lasse oder nicht, mache für ihn keinen Unterschied. „Det er jo kun lumpne Ceremonier, som kan være ligesaa gode som alle vore Fixfaxerier. I vore Tider er den Tro s’gu den bedste, som giver Sikkerhed og Fred i Handel og Vandel [Das sind ja nur lumpige Zeremonien, die ebenso gut sind wie unser ganzer Firlefanz. In unseren Zeiten ist der Glaube der beste, der Sicherheit und Frieden im Handel und Wandel gibt]“ (Ingemann 2007: 100). Und so drückt sich nicht nur seine Missachtung gegenüber der christlichen, sondern auch gegenüber der eigenen, der jüdischen Religion aus. Von ihr hat sich Samuel längst abgewandt, auch seine Sprache drückt dies aus. Das umgangssprachliche „s’gu“ verwendet vor allem Samuel in seiner Figurenrede – außer ihm nur ein weiterer reicher Jude aus seinem Umkreis – und das auffallend häufig. „S’gu“ ist eine umgangssprachliche Interjektion und zu Beginn des 19.Jahrhunderts ein Modeausdruck (vgl. Det Danske Sprog- og Litteraturselskab 1939). Seine Verwendung zeigt also an, wie Samuel seine Sprache der Sprache der Mehrheitsgesellschaft angepasst hat. Gleichzeitig steht sie im Kontrast zur altmodischen und von religiösen Motiven durchzogenen Sprache des Rabbiners. Im Gegensatz zu den jüdischen Figuren auf der Theaterbühne, deren Rede häufig durch eine Sondersprache gekennzeichnet ist (vgl. Brandenburg 2014: 106–110), zeichnet sich die Sprache Samuels also gerade durch die auffällige Verwendung moderner Alltagssprache aus. Ironischerweise ist „s’gu“ eine Verkürzung von „saa Gud hjelpe mig“ („so wahr mir Gott helfe“), die Samuel also auch dort verwendet, wo er die religiöse Zugehörigkeit auf ihre assimilierende Funktion reduziert. Der Modeausdruck verweist somit zum einen auf den gesamtgesellschaftlichen Säkularisierungsprozess, dem der Text selbst kritisch gegenübersteht, zum anderen zeigt er an, dass Samuel und dessen soziales Umfeld unkritisch an diesem Säkularisierungsprozess teilhaben. Samuels Vater, der Rabbiner, erinnert ihn mit seinen mahnenden Worten und seiner Frömmigkeit stets und ständig an die Religion seiner Vorfahren und wird seinem Sohn dabei immer lästiger. Die reichen Juden im Hause des noch reicheren Samuel schlagen unterschiedliche Strategien vor, sich ihrem christlich dominierten Umfeld anzupassen, um weiterer Verfolgung zu entgehen. Sei es die Taufe, als scheinbar einfache Formalität, oder der Wunsch, die Taufe könnte durchgeführt werden mit „ætsende Vand, som kunde gjøre vore sorte Haar lyse [ätzendem Wasser, das unsere schwarzen Haare hell machen könnte]“ (Ingemann 2007: 101). Ein Anderer bringt an, dass es nicht die Religion sei, wegen der die Juden verfolgt würden, sondern ihr Reichtum. Ein Jude sei