Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock
[aber stellt nicht euren Wohlstand zur Schau! dann neidet und verfolgt euch auch niemand]“ (Ingemann 2007: 103). Dem entgegnet „en af de rigeste [einer der Reichsten]“ (Ingemann 2007: 103) mit dem Vorschlag von Anbahnungen interkonfessioneller erotischer Verhältnisse zwischen den eigenen Töchtern und den Söhnen der christlichen Geschäftspartner. Sogar die eigenen Ehefrauen werden hier als willfährige Vermittlerinnen in Betracht gezogen: „[V]i vil bede alle de unge Grosserersønner til Bords hos os – vore Døttre og Koner skal være milde og føielige imod dem og ikke agere saa knipske og ærbare [Wir werden all die jungen Söhne der Großhändler an unseren Tisch bitten – unsere Töchter und Frauen sollen ihnen gegenüber mild und fügsam sein und nicht so schnippisch und ehrbar agieren]“ (Ingemann 2007: 103).
In dieser ökonomisch und zweckorientiert argumentierenden Gemeinschaft erscheint der Rabbiner Philip Moses als ein Fremdkörper. Seine Rede ist stets auf die Hebräische Bibel bezogen, vermischt sich immer wieder mit direkten Zitaten aus dem Alten Testament,1 zumeist aus den Prophetenbüchern, und seine eigenen Worte klingen selbst wie Prophetie, in denen bereits das Donnern des Jüngsten Tags anklingt, wenn er zum Beispiel ausruft:
„Elendige Søn […] fordømt være den Aand, som taler gjennem din Mund! […] Fordømt være det Gods og det Liv, hvorfor du vil sælge dine Fædres Tro […]! – Fordømt være den Sikkerhed og Fred, hvorfor du forraader Jehova! – fordømt den Handel og Vandel, som har gjort Guds Folk til Slaver af Mammon og til Guldkalvens afsindige Tilbedere!“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 100)
Elender Sohn, verflucht sei der Geist, der durch deinen Mund spricht! Verflucht sei das Habe und das Leben, für das du den Glauben Deiner Väter verkaufen willst! Verflucht seien die Sicherheit und der Frieden, für den du Jehova verrätst – verflucht der Handel und Wandel, der Gottes Volk zu Sklaven des Mammon und zu wahnsinnigen Anbetern des Goldenen Kalbes gemacht haben!
So herrscht Samuel ihn unbeeindruckt und ungeduldig an: „Du taler over dig, Gamle! […] og forstaaer dig ikke paa at føie dig i Tiden. Du er gammel og hænger ved det Gamle; men dine Propheters Tider ere s’gu forbi [Du bist außer dir, Alter! und verstehst es nicht, dich in die Zeit zu fügen. Du bist alt und hängst am Alten; aber die Zeiten deiner Propheten sind nun vorbei]“ (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 100), und so fordern auch die anderen Juden: „Bort, bort med den gamle Prophet! [Weg, weg mit dem alten Propheten!]“ (Ingemann 2007: 104). Philip Moses erfährt also innerhalb seiner eigenen Gemeinschaft eben jene Ausgrenzung, vor der die anderen Juden sich zu schützen suchen. Was Philip Moses in seiner eigenen Familie zum Objekt des Spotts macht, schützt ihn wiederum, als er inmitten der Hep-Hep-Krawalle das Haus seines Sohnes verlässt, weil der innerjüdische und innerfamiliäre Konflikt, der im Moment der Bedrohung von Außen seinen Höhepunkt findet, für ihn nicht mehr zu ertragen ist. Dem steinewerfenden Pöbel auf der Straße gilt Philip Moses hingegen als „ærlig Mand – ham er det Synd at røre ved eller spotte [ehrlicher Mann – ihn anzurühren oder ihm zu spotten ist Sünde]“ (Ingemann 2007: 105). So lassen sie ihn unversehrt passieren.
2.3.2 Ausgrenzung II: Im Hause des assimilierten Juden
Begleitet wird Philip Moses von Benjamine, seiner fürsorglichen und frommen Enkelin, die ihm als einzige ihre ungebrochene Loyalität und Liebe entgegenbringt. Benjamines Mutter Rahel, die Tochter des alten Rabbiners, ist früh verstorben, und da Benjamine auch keinen Vater mehr hat, lebt sie abwechselnd bei ihren beiden Onkeln Samuel und Isaak. In der Novelle wird nicht ausdrücklich erwähnt, dass der Vater ebenfalls verstorben ist, doch ist davon auszugehen, da Benjamine „fader- og moderløs [vater- und mutterlos]“ ist (IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 106). Bemerkenswert ist diese unkommentierte Leerstelle insofern, als dem Vater offenbar keine Bedeutung beigemessen wird. Die Figur des weisen Patriarchen ist durch den alten Rabbiner abgedeckt, die negativen jüdischen Figuren durch die beiden Söhne des Rabbiners. Die verstorbene oder abwesende Mutter ist Teil des Narrativs von der ‚schönen Jüdin‘ und findet sich in fast allen anderen Texten dieser Analyse wieder.1 Der abwesende Vater, der weder als negativ konnotierter „Geldjude“ noch als alter Patriarch dargestellt werden muss, da diese Figuren bereits besetzt sind, hat keinen literarischen Kontext, in den er sich einschreiben könnte, und bleibt somit unerzählt.
In der Kälte der Herbstnacht überredet Benjamine ihren Großvater, mit ihr zu Isaak zu kommen, mit dem ihr Großvater seit fünf Jahren kein Wort mehr gesprochen hat, seit Isaak eine Christin geheiratet hat. Da Philip Moses und Benjamine sonst keinen Zufluchtsort haben, suchen sie nun Schutz bei Isaak und seiner Frau. Die Ehe zwischen einem Juden und einer Christin ist in der Literatur, im Gegensatz zu der umgekehrten Konstellation, ein äußerst seltenes Ereignis. Wo angedeutet, zum Beispiel in LessingsLessing, Gotthold Ephraim Die Juden, findet sie keine Erfüllung (vgl. Lezzi 2006: 61–62, 2013: 67–72). Vor allem aber ist bemerkenswert, dass der jüdische Mann vor der Eheschließung nicht zum Christentum konvertiert ist. In der umgekehrten und weitaus üblicheren literarischen Konstellation, der Liebesbeziehung zwischen einer jüdischen Frau und einem christlichen Mann, ist dies nämlich nahezu immer Vorbedingung (vgl. Krobb 1993; Lezzi 2013). IngemannIngemann, Bernhard Severin orientiert sich in diesem Fall also offenbar am damals geltenden dänischen Recht, das für die Eheschließung zwischen Jüd*innen und Christ*innen keine Konversion voraussetzte (vgl. Schwarz Lausten 2012: 192–193). In Den gamle Rabbin ist jedoch wahre Liebe an wahre Religiosität gekoppelt, was beides in der Ehe zwischen Isaak und seiner Frau nicht gegeben ist. So ist diese Ehe weder erfüllt von Liebe, noch stellt sie eine wahrhaft interreligiöse Verbindung dar, denn beide Eheleute haben sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, von ihrer Religion ab- und dem Säkularismus zugewandt.
Die Assimilation des Juden in die christlich-säkulare Mehrheitsgesellschaft scheint bereits vollzogen; von der jüdischen Religion und Tradition hat Isaak sich weitestgehend entfernt. Seine fünf Kinder sind allesamt blond und blauäugig, als hätte der Grad der Assimilation sich bereits in die Körper der Folgegeneration eingeschrieben und jegliche Verbindung zu den leiblichen Vorfahren väterlicherseits auch biologisch abgebrochen. Isaak lebt das assimilierte Leben, das die Juden im Hause Samuels in ihrer Not erst zu entwerfen versuchen. Als Kleiderhändler lebt er einen bürgerlichen Wohlstand, ist aber nicht reicher als viele andere auch. Er unterhält freundschaftliche Kontakte zu Juden wie Christen, die in seinem Haus ein- und ausgehen – wenngleich die Novelle, als die Handlung im Haus von Isaak spielt, tatsächlich nur von Christen erzählt, die dort zu Gast sind. Isaak hat seine Religion weitestgehend abgestreift, ohne eine andere angenommen zu haben. Kurz: Er verkörpert ein säkularisiertes, in der Auflösung begriffenes Judentum. Seine bürgerlich etablierte Lebenssituation stellt scheinbar eine Alternative und einen Kontrast zum ausschließlich an ökonomischen Gewinn interessierten Bruder dar. Doch das Problem ist hier ebenfalls ein Mangel an Nächstenliebe, welcher sich aus einem Defizit an gelebter und empfundener Religiosität ergibt. Isaak nimmt seinen Vater zwar bei sich auf, doch schnell stellt Philip Moses auch hier einen Fremdkörper dar, dessen Anwesenheit den Anderen bald lästig wird. Auch die Freunde des Hauses verhalten sich Philip Moses gegenüber respektlos und äußern sich in seiner Anwesenheit gar zustimmend und verharmlosend über die judenfeindlichen Ausschreitungen, die noch immer nicht ganz abgeklungen sind. Schließlich stellt sich sein fünfjähriger blonder Enkel vor den alten Rabbiner hin, um seinen demütigenden Spaß mit ihm zu treiben: „[H]ar jeg en skægget Smaus til Bestefader, som ikke tør spise Flesk? nei, ham skal vi lege Hep Hep med, som de andre Drenge [Hab ich einen bärtigen Schmautz (Schimpfwort für ‚Jude‘, KB) zum Großvater, der nicht wagt, Schweinefleisch zu essen? Nein, mit ihm wollen wir Hep Hep spielen, wie die anderen Jungen]“( IngemannIngemann, Bernhard Severin 2007: 113). Benjamine, tief getroffen von den Schmähungen gegen ihren Großvater, hält ihrem kleinen Cousin weinend die Hand vor den Mund, Isaak unternimmt einen vagen Versuch, seinen Vater zu verteidigen, doch seine Frau nimmt „det unskyldige Barn [das unschuldige Kind]“ in Schutz und beklagt: „[H]erefter tør Ingen af os mere lukke Munden op i vort eget Huus [Hiernach wagt keiner von uns mehr, den Mund in unserem eigenen Haus aufzumachen]“ (Ingemann 2007: 114). So sieht sich Philip Moses erneut gezwungen aufzubrechen und auch das Haus seines zweiten Sohnes zu verlassen. Begleitet wird er wiederum von Benjamine, die ihn nicht aus den Augen und aus ihrer Obhut lässt, und die im Hause ihres Onkels und der angeheirateten Tante ohnehin nicht