Das Ketzerdorf - In Ketten. Richard Rost

Das Ketzerdorf - In Ketten - Richard  Rost


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wirst du, ich weiß es, Raymund«, dabei strahlte sie ihn an.

      »Heute sind die Armbrustschützen dran. Sie ziehen mit einer großen Parade auf den Festplatz. Das dürfen wir auf keinen Fall verpassen.« Sie zogen an den Ständen vorbei, wo aus mächtigen Holzfässern Bier ausgeschenkt wurde, schlenderten um die Wurfbuden und die Felder, wo man Wettbewerbe im Steinewerfen und Laufen austrug.

      »Schau, Helena, die Trompeter und Trommler stellen sich schon auf. Gleich beginnt die Parade.«

      Auf einer Tribüne, von der aus man den ganzen Platz überblicken konnte, hatten Musikanten in bunten Gewändern angefangen, eine Fanfare zu spielen. Alle Blicke richteten sich auf den Eingang. Mit Hellebarden bewaffnete Landsknechte drängten die Menschenmasse dazu, eine Gasse zu öffnen. Die schweren Armbrüste auf den Schultern, mit der freien Hand in die Menge winkend, zogen die bunt gekleideten Männer unter dem Jubel der Zuschauer auf den Platz.

      Raymund hatte für sich und Helena auf der unteren Stufe der Tribüne einen Platz gefunden, sodass sie das Geschehen etwas erhöht mitverfolgen konnten. Hinter den Armbrustschützen lief ein ganzer Tross Neugieriger, die versuchten, einen guten Standort zu ergattern, von den Ordnern aber am Zugang zur Schützenwiese unsanft gehindert wurden.

      »Raymund, he! Hast du dort oben ein Plätzchen für mich?« Raymund suchte in der Menge nach dem Rufer, bis er den winkenden Jos entdeckte.

      »Komm her, Jos, dich schmales Hemd bringen wir hier sicher noch unter.« Er packte den ausgestreckten Arm seines Freundes und zog ihn zu sich auf die Tribüne.

      »Helena, das ist Jos, mein Freund und Mitlehrbub beim Benzenauer«, stellte er ihn vor.

      »Ich wusste nicht, dass du so eine schöne Schwester hast, Raymund«, stammelte Jos und Helena lächelte verlegen. »Gestern hättest du da sein sollen; da haben die Franzosen mit ihren Pistoletten geschossen, da war so manche Fehlzündung dabei, was die Leute herzlich lachen ließ.«

      »Haben sie denn getroffen?«

      »Zu den aufgeständerten Hakenbüchsen ist noch ein großer Unterschied. Gewonnen hat auf die hundert Fuß ein Nürnberger. Den Namen hab ich schon wieder vergessen. Die Augsburger haben wieder nichts gemacht.«

      Inzwischen hatten die Armbrustschützen Aufstellung genommen und jeweils zwei traten gegeneinander an. Der Sieger kam in die nächste Runde. Die Scheibenbuben liefen aufgeregt hin und her und streckten die Ergebnisse auf Tafeln in die Höhe. Der Jubel der Menge war jedes Mal groß, und bald gab es einen Favoriten, der bereits seine siebte Runde gewonnen hatte und unter frenetischem Beifall zum letzten Duell antrat.

      »Kennt ihr beide den Langen?«, fragte Helena. »Dem drücke ich die Daumen und der wird wohl gewinnen.«

      »Den kenn ich nicht, aber der wird es schwer haben, weil sein Gegner ist der alte Meichelböck aus den Stauden, der in den letzten Jahren immer gewonnen hat«, entgegnete Jos.

      »Dann wird es Zeit, dass einmal ein anderer gewinnt, oder? Ich bin für den Jungen.«

      »Gewinnen soll der Beste. Vielleicht ist es ja zum letzten Mal, denn die Armbrust ist früher oder später zum Aussterben verurteilt«, wandte Raymund ein. »Bis man sie aufgezogen und gespannt hat, ist die Beute entwischt und der Schütze selbst getroffen.« Jos lachte.

      Die letzte Runde hatte begonnen. Obwohl er bisher immer mindestens neun oder zehn Ringe getroffen hatte, verzog dem Meichelböck ein leichter Windstoß den Pfeil, der gerade noch auf dem linken Rand der Scheibe einschlug. Die Scheibenbuben streckten eine Eins in die Höhe und sofort ging ein Raunen durch das Publikum. Der Meichelböck drehte sich laut fluchend und auf den Wind schimpfend ab.

      Dann kam der lange Unbekannte an die Reihe. Siegessicher streckte er seine Waffe in die Höhe und drehte sich im Kreis allen Zuschauern zu. Eine Weile stand er ganz ruhig da, visierte das Ziel an und wartete auf einen windstillen Augenblick. Just in dem Moment, als er den Pfeil abschoss, wirbelte eine unberechenbare Bö über den Platz und wehte Hüte und Tücher davon. Auch der Pfeil flog zum Entsetzen der Zuschauer an der Scheibe vorbei in den Erdwall, der hinter den Zielen aufgeschüttet war. Die Fanfarenbläser traten in den Kreis und der Herold verkündete den Namen des Siegers. Simon Meichelböck wurde sofort von seinen Freunden aus den Stauden umringt und auf die Schultern gehoben.

      »Na, da haben wir es ja wieder einmal gesehen. Diese Armbrüste haben keine Zukunft«, stellte Raymund fest.

      »Schade, dass der Lange so ein Pech mit dem Wind hatte«, bemerkte Helena ein wenig ernüchtert.

      »Ich lasse euch beide jetzt allein und gehe nach hinten in die Kegelhütte. Da geht es immer lustig her; nicht unbedingt etwas für junge Damen. Aber ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen werden.« Jos reichte Helena zum Abschied die Hand und verschwand in der Menge.

      »Ich wollte noch so viel mit dir bereden, Raymund, lass uns irgendwo hingehen, wo wir ungestört sind. Wir dürfen nicht vergessen, dass ich vor Sonnenuntergang bei Onkel Hieronymus sein muss.« Helena hakte sich bei ihm unter und schlenderte mit ihm über den Festplatz in Richtung Stadt.

      »Das Leben auf dem Gut wird immer schwieriger; Mutter versucht zwar alles, um den schönen Schein zu wahren und das Schloss und das Dorf mittels der Erträge der Bauern gewinnbringend zu halten, aber diese Marianischen sind sich für nichts zu schade, um uns in Schwierigkeiten zu bringen. Karl hat erfahren, dass sie anonyme Briefe an das Hochstift und an den bayerischen Herzog schreiben, in denen sie uns der Häresie bezichtigen. Es werden allerlei Gerüchte gestreut und Unwahrheiten verbreitet, wir stünden mit dem Teufel im Bunde und würden alles Unglück anziehen. Das Vermächtnis von Caspar, das wir in Gedanken und Schriften bewahren, ist ihnen ein Dorn im Auge. Für sie sind wir Ketzer. Und nun versuchen sie, uns irgendeiner Tat zu bezichtigen, die unter die hohe Gerichtsbarkeit fällt.«

      »Das wird ihnen schwerfallen. Ich würde sie ja aus dem Gut vertreiben. Sollen sie in irgendein katholisches Dorf umziehen und uns in Ruhe lassen. Vater hätte schon viel früher gegen sie vorgehen sollen! Er war viel zu gutmütig.«

      »Vater hat das Evangelium gelebt, er hat die Bauern nie als Untertanen gesehen, sondern als Mitmenschen. Und das haben wir jetzt davon. Wohltaten erzeugen Rachegefühle.«

      »Was wird unsere Mutter unternehmen?«, fragte Raymund.

      »Ich habe einen Brief an Onkel Hieronymus dabei. Sie hofft wohl auf weitere Hilfe von ihm.« Eigentlich wollte Raymund Helena sein Herz ausschütten, aber es war viel tröstender, jemandem, den man so gern hatte, zuzuhören.

      »He da, hereinspaziert! Wollt ihr beide nicht einmal in die Zukunft schauen? Marfisa liest euch für einen halben Kreuzer aus der Hand«, sagte eine tiefe, dunkle Frauenstimme und ließ die beiden innehalten. Unter einer Plane saß im Schneidersitz eine ältere Frau mit langen schwarzen Haaren und großen Ringen in den Ohren. Sie funkelte verführerisch mit den Augen. Helena zappelte aufgeregt.

      »Komm, Raymund, das wollte ich schon immer einmal machen. Lass uns auf andere Gedanken kommen und einen Blick in die Zukunft werfen!«

      Widerwillig ließ er sich von ihr unter die Plane ziehen. »Ich halte nichts von diesen Dingen; es geht doch immer nur um das Geld von leichtgläubigen Menschen. Dem Quacksalber vorher hast du nicht glauben wollen; jetzt lässt du dir von so einer Gauklerin aus der Hand lesen.«

      »Ach bitte, bitte, Raymund, schau, ich hab hier auch schon einen Kreuzer für uns beide.«

      »Nur nicht so zögerlich, junger Herr, setzt Euch ungeniert auf das Bänkchen, Bezahlung erfolgt im Voraus«, lud ihn Marfisa mit einem vielversprechenden Lächeln ein. Helena legte der Hellseherin die Münze in den Schoß, die sie sofort in einem kleinen Beutel an ihrem Gürtel verschwinden ließ. Raymund hasste Wahrsagerei, wollte Helena aber nicht enttäuschen. So ließ er es sich gefallen, dass Marfisa seine und Helenas Rechte nahm und unruhig zwischen den geöffneten Handflächen hin und her blickte. Lange Zeit sagte sie nichts, als wäre sie sprachlos von dem, was sie in den Händen las.

      »Jetzt mach es nicht so spannend und sag schon, was die Zukunft für uns bereithält, oder fällt dir nichts dazu ein?«, unterbrach Raymund die unangenehme Stille.


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