Das Ketzerdorf - In Ketten. Richard Rost
ein Punkt unter vielen Hundert anderen, weder Gesichtszüge noch Regungen konnte er erkennen, doch er war sich sicher. Er dachte an Giovanna, Raymunds Mutter, die bei der Geburt gestorben war, als er sie aus Bologna in seine Heimat hatte bringen wollen. Er hatte immer geglaubt, dass wegen seiner Sünden sein Sohn bei Ketzern aufwachsen musste. Nun war er hier im katholischen Dom. Vor dem Ende des Gottesdienstes verschwand Otto in die Sakristei. Es hielt ihn nicht mehr, er musste ihn einmal aus der Nähe sehen. Sie gehen wieder ins Lechviertel hinunter, also werden sie das Südportal nehmen. Ich stelle mich an das Weihwasserbecken, da müssen alle vorbeikommen. Noch vor dem Segen stand er da. Sein Herz pochte bis zum Hals. Im Gedränge sah er den Rotschopf immer weiter auf sich zukommen. Es war nur ein kurzer Moment und trotzdem genügte es ihm, diesen Augenblick für alle Zeiten festzuhalten, diesen Blick in das eigene Spiegelbild. Er sah sich selbst, jünger, schöner, selbstbewusst, vor Kraft strotzend und Giovanna. Raymund, mein Sohn, es ist ein Geschenk des Himmels. Otto taumelte und kniete sich in eine der leeren Kirchenbänke. Ich danke dir, mein Gott, dass du ihn in dein Haus zurückgeführt hast. Otto sah hinauf zum Hochaltar und sein Blick verschwamm.
8 30. November
12
Augsburg, Dezember 1578
»… dass du mich recht bald wieder in deine starken Arme nehmen wirst …«, der Obergsell schlug sich mit seiner rechten Hand unter dem höhnischen Gelächter der anderen Gesellen auf den Schenkel, in der linken hielt er prahlerisch einen Brief, aus dem er immer wieder vorlas. Raymund stand zögernd in der Tür und beobachtete die Szene. Sie hatten ihn nicht kommen sehen.
»… möge Gott dich beschützen und mir erhalten, mein geliebter Schatz …« Lustvoll hob Greisinger die Stimme und versuchte, im hohen Register eine Frauenstimme zu imitieren.
Raymund durchlief es heiß.
»Geliebter Schatz, öha, da hat doch der Hundsfott irgendwo eine kleine Hure liegen.«
Wieder war das Gelächter um den Tisch in der Werkstatt groß.
Jetzt war sich Raymund sicher, dass der Greisinger Helenas Brief abgefangen und darauf gewartet hatte, dass Jos und er in der Stadt unterwegs waren, um ihn den anderen vorzulesen.
»In Liebe, deine Helena«, flötete der Obergsell, als Raymund bereits hinter ihm stand.
»Das ist meine Schwester und es geht euch überhaupt nichts an!«
Das höhnische Lachen verstummte mit einem Schlag, als Raymund dem Obergsell den Brief aus der Hand riss.
»Das werd ich dem Meister sagen, dass du meine Briefe aufmachst und anderen vorliest. Schämen solltest du dich, du Drecks…!«
»Na, na! Spar dir deine Kraft für die Arbeit, Rotschopf, und lass den Meister lieber aus dem Spiel, sonst erfährt er von mir ganz andere Dinge über dich. Ich werde ja wohl noch einen kleinen Spaß machen dürfen, wenn mein Lehrbub sich mit einer Hübschlerin abgibt.« Der Obergsell grinste Raymund hämisch an und entblößte dabei seine Zahnlücke. Die anderen zogen sich langsam aus der peinlichen Situation zurück.
»Nimm dieses Wort nie wieder in den Mund, wenn du von meiner Schwester sprichst, Greisinger! Ich brech dir sämtliche Knochen, dass du’s weißt.«
»Dass ich nicht lache, Schwächling! Komm mir nicht frech, für dich immer noch Obergsell! Und ein bisschen mehr Respekt vor den Autoritäten. Eure dummen Leibeigenen und Bauern kannst du bei deiner sauberen Verwandtschaft hinter den Wäldern befehligen. Hier in der Stadt weht ein anderer Wind, lass dir das ein für alle Mal gesagt sein!«
Raymund biss sich auf die Lippen, am liebsten hätte er dem Obergsell ins Gesicht geschlagen. Dabei konnte er froh sein, wenn er für seine trotzige Antwort nicht noch eine Tracht Prügel bezog. Eines Tages würde er dem Greisinger alles heimzahlen mit Zins und Zinseszins! In diesem Augenblick packte ihn das schlechte Gewissen und es kam ihm in den Sinn, dass diese Rachegedanken all dem widersprachen, was ihm in seinem Elternhaus beigebracht worden war. Er musste noch viel an sich arbeiten. Versöhnung, Sanftmut! Es gab für ihn nur einen Weg. Er musste besser werden als alle anderen, das würde ihm Respekt verschaffen. Der Gedanke an Helena spornte ihn an und er war sich sicher, dass er den Greisinger bald einholen würde.
Er ging hinauf in seine Kammer, las den Brief mehrmals, küsste ihn und verwahrte ihn gut in seiner Kiste; den Schlüssel trug er stets bei sich.
»Mein Mädchen, ich liebe dich auch und habe so große Sehnsucht nach dir!«, flüsterte er und warf sich auf sein Bett.
13
Konstantinopel, Dezember 1578
»Salomon, mein alter Freund, wie gut, dass ich dich treffe«, rief der Dolmetsch und nahm den berühmten Diplomaten zur Seite. »Du musst mir helfen und deinen Einfluss beim Sultan geltend machen.«
»So sprich, Berkel, was bedrückt dich?« Salomon Ashkenazy ging in den Herrscherhäusern zwischen Madrid, London, Wien und Konstantinopel ein und aus. Seinem Verhandlungsgeschick vertrauten sowohl die Mächtigen im Habsburgerreich als auch der großmächtige Sultan.
»Du wolltest vor einigen Jahren, dass ich dich auf deiner Mission nach Venedig begleite. Heute gestehe ich dir, dass ich nicht dorthin zurückkehren kann. Frag mich nicht nach den Gründen. Sie sind schwerwiegend und würden mein Leben in Gefahr bringen. Der Sultan wünscht, dass ich ebendort für ihn in den Waffenschmieden spioniere. Würdest du dich für mich beim Sultan verwenden?«
»Du wirst verfolgt, Berkel? Nun … beim Sultan? Du weißt, dass dies nicht einfach ist.« Salomon legte die Stirn in Falten. »Vielleicht kann ich eher bei deinen Verfolgern ein gutes Wort für dich einlegen? Sag mir, wer dich verfolgt!«
Er kam näher an sein Ohr und erst jetzt bemerkte Berkel, wie sich eine verschleierte Gestalt, die sich wohl während des Gesprächs in der Nähe aufgehalten hatte, wegdrehte und verschwand.
»Die Inquisition!«, flüsterte Berkel.
Salomon sah ihn wie versteinert an: »Ich gehe zum Sultan.«
14
Emmenhausen, Neujahr 1579
»Ist’s möglich, Otto, du lässt dich doch noch bei uns sehen!« Hans III. Honold umarmte Otto und klopfte ihm freundschaftlich auf den Rücken. Nur zu gern ließ sich Otto von ihm aus der starren Kälte in das geheizte Schloss ziehen.
»Seit deinem letzten Besuch sind einige Jahre ins Land gegangen. Siehst du, du hattest doch ein schlechtes Gewissen wegen deines Berichts an das Hochstift! Fast hätte der Herzog meinen Prediger abgesetzt. Sie wollen sich einfach nicht mit dem Nebeneinander von Katholiken und Protestanten abfinden. Die sollten sich an unserer Familie ein Beispiel nehmen. Seit einigen Tagen sind wir wieder alle zusammen. Oktavian ist aus Prag gekommen; der wird sich freuen!« Hans Honold blickte nach oben. »Dein Freund Otto ist da, Herr Medicus, jetzt beweg dich schleunigst herunter«, schrie er so laut durch das hallende Treppenhaus, dass einige der Bediensteten verstört zusammenliefen.
Der alte Honold muss mächtig stolz auf seinen Sohn sein, dachte Otto, da stürmte Oktavian schon die Treppe herunter. Sie begrüßten sich wie damals am Collegio üblich mit dreifachem Handschlag. Die Jahre hatten Oktavian nicht viel anhaben können, sein Haar war immer noch voll und dunkel wie eh und je, seine Haut nach wie vor ungewöhnlich braun, fiel Otto auf.
»Dass sie dich aus den engen Kirchenmauern herauslassen, wem hast du das denn zu verdanken?« Oktavian hatte anscheinend seine Sprüche nicht verlernt.
»Als Dekan kann ich mir die eine oder andere Freiheit gestatten. Heute Abend zur Komplet muss ich aber wieder meinen Platz im Chorgestühl einnehmen.«
»Du kündigst deinen Abschied an, bevor du richtig angekommen bist. Otto wie in alten Tagen, immer kurz angebunden. Schon beim Kyrie an das ite, missa est9 denken! Aber jetzt komm erst mal nach oben in die warme Stube.«