Das Ketzerdorf - In Ketten. Richard Rost
»Gott sei Dank, das Wichtigste ist gerettet! Aber es sieht fast so aus, als wenn die Feuersbrunst etwas mit meiner Abwesenheit zu tun hätte; oder was, glaubt ihr, hat den Brand ausgelöst?«
Helena senkte die Stimme. »Marianische!«
»Meinst du? Also doch!«, entgegnete Georg. »Es würde erklären, dass sie mir beim Müller das Pferd losgebunden haben! Vor einigen Jahren schon haben sie mit roher Gewalt an die Tür gepoltert und den blutigen Kopf eines Ziegenbocks auf die Schwelle gelegt. Ich habe damals die Warnung nicht ernst genommen.«
Karl bekreuzigte sich. »Das Zeichen des Teufels.«
Joseph Hueber, der Wirt, war dazugekommen. »An deiner Hütte ist nichts mehr zu retten, Georg. Für den Wiederaufbau sind wohl nur noch die Wände aus Stein zu gebrauchen, das Dach, die Treppen und das Holz im Inneren sowie die Möbel sind verloren. Gleich fängt es an zu regnen. Wir bringen das Wenige in meine Wirtschaft. Lass uns nach vorn schauen! Du kannst so lange bei mir wohnen, bis dein Häuschen wieder aufgebaut ist!«
Der Brand war inzwischen so gut wie gelöscht, aber der beißende, harzige Geruch von verkohltem Holz stieg Helena unangenehm in die Nase.
»Das ist sehr großzügig von dir, Joseph. Ich nehme dein Angebot gerne an.«
Die ersten Tropfen fielen und Helena mahnte zum Aufbruch. »Karl, lass uns die Kiste schnell hinüber zum Hueber tragen, dort können wir alles Weitere besprechen.«
Kaum dass sie in der Stube waren, brach das Gewitter über den Ort herein.
Georg kniete sich neben die Holzkiste, die an der Längsseite angesengt war. Während er sie langsam öffnete, spürte Helena förmlich, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. »Ich danke dir, mein Herre Christ«, sagte er leise. »So ist es dein Wille, dass wir das Vermächtnis deines Dieners bewahren und in die Welt hinaustragen.«
Helena setzte sich zu ihm. Mit dem Ärmel ihres Kleides wischte sie über die schweinsledernen Einbände und hielt unvermittelt eine Ausgabe von Caspar Schwenckfelds »De statu, officio et cognitione Christi« von 1546 in den Händen. Auch ihr Großvater besaß eine große Anzahl an Büchern. Dieses aber fehlte in seiner Sammlung. Ehrfürchtig strich sie über das Leder und schlug behutsam die erste Seite auf.
Meinem lieben Freund in Christo, Georg Mayer, in Dankbarkeit gewidmet, Caspar Schwenckfeld, stand dort in schön verzierten Lettern.
»Das ist mein größter Schatz.« Georg blickte Helena über die Schulter.
Augenblicklich schloss sie das Buch und übergab es ihm. Liebevoll drückte der Prediger das Buch an seine Brust und blickte nach oben.
»Ein Dach über dem Kopf ist schnell wieder gefunden; aber was bedeutet eine Behausung, die nur das irdische Leben erleichtert, im Vergleich zu den Anleitungen des Meisters für ein himmlisches Leben im Reich Gottes, die ihr mir gerettet habt? Dafür, dass ihr mir das Vermächtnis von Caspar, seine Schriften und all seine Briefe in Sicherheit gebracht habt, bin ich unendlich dankbar und der Herrgott im Himmel wird es euch vergelten.«
20
Augsburg, Ulrichsfest15 1580
Endlich war der Tag gekommen. Das große Geläut ertönte feierlich und verkündete seine frohe Botschaft über die ganze Stadt. An die tausend Gläubige mochten es wohl sein, die am Fest des Stadtheiligen in den Dom gekommen waren, um einem besonderen Ereignis beizuwohnen: Ottos Priesterweihe. Von einem langen Zug aus Verwandten, Freunden, Abordnungen aus seinem Heimatort und den Dörfern seiner zukünftigen Mitpriester mit ihren Fahnen und Bannern wurde Otto am Domkonvikt abgeholt und gemeinsam mit zahlreichen Messdienern, Priestern, Prälaten, Dekanen, Ministerialen und dem hochwürdigsten Herrn Bischof Marquard zum Dom geleitet. Es war für Otto eine große Genugtuung, dass alle Versuche aus Dillingen, ihm das Priesteramt zu verwehren, gescheitert waren. Als er zum Klang der Orgel durch das Südtor das ehrwürdige Gebäude betrat, klatschte die Menge begeistert. Es freute ihn, dass die einfachen Menschen ihn schätzten und sein öffentliches Eintreten gegen den um sich greifenden Verfolgungswahn der Inquisition und sein Bemühen um die Einheit der Christen in der Stadt Früchte zeigte. Es war ihm wohl bewusst, dass ihn seine Predigten gegen seinen Erzfeind, den Dominikaner Erminio vom Berg, schnell selbst in die Fänge der Inquisition bringen könnten. Der Jubel an diesem Morgen war wie ein warmer Schauer, der sich über ihn ergoss und ihn mit tiefer Genugtuung erfüllte. Mit versteinerter Miene salbte Bischof Marquard Johannes Otto von Gemmingen und erteilte ihm das Zelebret, die Erlaubnis, Eucharistie zu feiern. Das gemeinsame Versprechen, dem Bischof Gefolgschaft und Treue zu leisten, das den Jungpriestern anschließend abgenommen wurde, ging Otto nur mühsam und mit vielen Zweifeln über die Lippen; es schien ihm, als würde gerade in diesem Augenblick der Bischof jede kleinste seiner Mundbewegungen genauestens registrieren. Otto bat Gott augenblicklich um Vergebung. Denn eines wusste er sicher: Er würde alles daran setzen, den vom Bischof und seinem römischen Inquisitor eingeschlagenen Weg der Einschüchterung mit Hindernissen zu belegen, um so den überall ersehnten Frieden, den Jesus Christus in die Welt gebracht hatte, wiederherzustellen und dem geplagten Volk Gottes ein Leben ohne Furcht und Gewalt zu ermöglichen. »Oboedisco16«, presste Otto mit zusammengebissenen Zähnen heraus und blickte gleichzeitig entschuldigend hinauf zu dem riesigen Kreuz, das über dem Altar hing.
»Zur Feier des Tages habe ich Euer Hochwürden eine gute Nachricht zu vermelden: Du wirst es nicht glauben, aber ich habe eine Spur von Rico«, flüsterte Oktavian Otto ins Ohr, der, wie alle anderen nach dem Festgottesdienst von Freunden und Verwandten umringt, auf dem großen Platz vor dem Dom die Gratulationen entgegennahm. Otto umarmte seinen Freund und ließ sich von ihm aus dem Kreis seiner Getreuen ziehen.
»Oktavian, wie schön, dass du gekommen bist. Aber sag endlich, was gibt es Neues?«
»Ich gratuliere dir von ganzem Herzen, mein lieber Freund, mögest du glücklich werden und all deine hohen Ziele erreichen.«
»Ich danke dir, aber nun erzähl schon!«
»Pfarrer Schweigger, ich habe dir von ihm erzählt, berichtet mir in einem Brief aus Konstantinopel, dass der Botschafter an der Hohen Pforte, Joachim von Sinzendorf, auf einer der Gefangenenlisten vom Winter 1563 Ricos Namen entdeckt hat. Er wurde anscheinend als Arbeitssklave in das berüchtigte Bagno verbracht, dann verliert sich seine Spur. Da es keine Totenverzeichnisse gibt und der Orator keinen Zugriff auf die Bücher der zum Islam konvertierten Gefangenen hat, ist sein weiteres Schicksal ungewiss. Rico hat keinen Beruf, ist aber stark wie ein Bär. Wenn er das Bagno überlebt haben sollte, dann …«
»Was bedeutet das?«, fragte Otto besorgt. »Es sind inzwischen siebzehn Jahre ins Land gegangen. Wenn Rico noch nicht das Zeitliche gesegnet hat, wäre er doch längst zurück, oder?«
»Glaubst du ernsthaft daran, dass Rico zurückkommen würde, nachdem die Dominikaner ihn hier mit allen Mitteln versuchen aufzuspüren? Hier würde ihn nur ein grausamer Tod erwarten«, entgegnete Oktavian.
»Es wird immer schlimmer mit dem Inquisitor. Beten allein hilft nicht mehr. Es muss etwas geschehen. Kann sich dein Theologe nicht irgendwie nützlich machen und seine Fühler nach Rico ausstrecken?«
»Die Korrespondenz ist schwierig. Für einen Brief nach Konstantinopel braucht ein Bote vier Wochen. Jeder dritte wird überfallen und ausgeraubt. Wir können von großem Glück sprechen, dass dieser Brief überhaupt angekommen ist. Außerdem hat Schweigger angedeutet, dass seine eigentlichen Ziele Jerusalem und das Land Ninive seien und er die Reise mit dem Orator als günstige und sichere Möglichkeit betrachte, unbeschadet durch das für die Christenmenschen gefährliche Gebiet zu gelangen. Vielleicht hat er ja Konstantinopel längst verlassen? Aber jetzt einmal ehrlich, Otto, warum sollte Rico zurückkommen?«
»Ich wage nicht daran zu denken, aber ich finde, er sollte wenigstens erfahren, dass der Kardinal noch lebt.«
»Hm …« Oktavian kratzte sich am Ohr. »Du hast doch dabei einen Hintergedanken, oder?«
Otto