Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert
als ich ihm sagte, ich hätte meinen Schlüssel vergessen, erinnere ich mich bis heute.
Ab und zu wechselte ich die Straßenseite, durch schiefe und schräge Unterführungen, die so listig als Labyrinthe angelegt waren, dass ich jedes Mal
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der falschen Straßenseite zum Vorschein kam und für ein paar Augenblicke nicht nur ohne Gedächtnis, sondern auch ohne Orientierung war. »Ein Theaterstück in einem Theaterstück« (戏里有戏), wie es auf Chinesisch heißt. Einmal kletterte ich die enge Treppe eines europäischen Cafés hinauf. Eine blonde Ausländerin schritt aus der Toilette die Treppe herunter, in der Hand eine Straßenkarte von Taipeh. Sie blieb auf einer Stufe stehen und schaute mich fragend an. Ich schüttelte den Kopf, drehte mich um und rannte die Treppe wieder nach unten.
Ein paar Stunden vergingen, bis ich schließlich den Weg nach Hause fand – in einem völlig anderen Stadtteil als dem, in dem ich so lange herumgeirrt war. Was zurückblieb, waren fast fotografische Erinnerungsbilder an die Begebenheiten, die sich mir eingeprägt hatten, als ich erinnerungslos hin und her geirrt war: ein Film, den ich nach Belieben anhalten konnte, wollte ich ein Bild genauer betrachten. Das japanische Haus beispielsweise, das früher einmal meine Bleibe gewesen war, hatte sich mir bis auf die hier und da fehlenden Dachschindeln eingeprägt. Eigentlich hätte man es schon längst abreißen müssen, war mir noch durch den Kopf gegangen.
Aber hatten sich die Begebenheiten wirklich so zugetragen? Als ich die Straße am nächsten Tag noch einmal entlangspazierte, stellte ich fest, dass das japanische Holzhaus, an das ich mich so genau zu erinnern glaubte (Besitzer, fehlende Dachschindeln), gar nicht mehr existierte. Ich stand vor einer Baulücke, es war vor geraumer Zeit abgerissen worden. Ein zweites Beispiel: Ich suchte in Cave’s Bookshop nach den »Chinese Superstitions«, dem Band, den ich einen Tag vorher in der Hand gehabt hatte. Eine antiquarische Originalausgabe. Ich fand jedoch nur einen billigen Nachdruck. Ich fragte den Manager nach der Originalausgabe, in der ich gestern noch geblättert hätte. Eine solche habe er nie gehabt, gab er mir kopfschüttelnd zur Antwort, nur einen Nachdruck. Er zog ihn heraus: ausgerechnet der eines Verlages, der »Forgotten Books« hieß.
Hatte ich zu träumen begonnen, als mir mein Gedächtnis abhandengekommen war? Mir fiel ein, dass ich die Originalausgabe im letzten Jahr in einem Antiquariat auf der Kanda (神田) in Tokyo in der Hand gehabt hatte. Vielleicht war das die Erklärung. Aber irgendetwas stimmte nicht: Ich schlug die Abbildung auf Seite 473 auf und fand den Kniff wieder, den ich in die Seite gemacht hatte.
Also doch keine Einbildung.
Der Manager war hinter der Theke verschwunden. Ich steckte das Buch ein und machte mich auf und davon.
Mein Gedächtnis zu verlieren und zu halluzinieren, ist nicht die einzige Veranlagung, die ich geerbt habe: Im Unterschied zu dieser sind die anderen aber nur bloße Marotten und dumme Gewohnheiten, sieht man einmal von meiner winzigen Handschrift ab. Wenn ich mir beispielsweise eine Zigarette anzündete – ich habe das Rauchen inzwischen aufgegeben –, steckte ich das abgebrannte Streichholz automatisch zurück in die Schachtel – eine Angewohnheit von Piloten aus der Generation meines Großvaters, die es nicht zu Flugzeugbränden und Schlimmerem kommen lassen wollten. Sie waren augenscheinlich alle Kettenraucher. Ein Wort zur Warnung aus leidvoller Erfahrung: Steckt man das Streichholz im Eifer des Gefechts nicht mit dem abgebrannten Kopfende nach unten in die Schachtel zurück, explodiert sie in einer Stichflamme – phhhhusch –, wie es Richthofen passierte, als er abgeschossen wurde. (Man fand eine ausgebrannte Schachtel neben dem Steuerknüppel, so mein Großvater.) Auch mir ist es immer wieder passiert, ich weiß ein Lied davon zu singen.
Eine andere Marotte, die von meinem Großvater auf mich übergegangen ist – ich habe sie oben bereits angedeutet –, ist das Stehlen von Büchern. (Ob sie mit der Veranlagung zusammenhängt, das Gedächtnis zu verlieren? Ich sollte einmal einen Fachmann konsultieren – oder steht es vielleicht bei Lombroso?) Erwischt wurde mein Großvater nie, obwohl die Hälfte seiner Bibliothek aus entwendeten Büchern bestand. Auch ich selbst wurde nur einmal ertappt, und auch das eigentlich nicht wirklich. Ich stahl meine Bücher mit Vorliebe aus Bahnhofsbuchhandlungen, wo wie in Taubenverschlägen immer ein reges Kommen und Gehen herrschte und keiner auf den anderen achtete. Die »rororo«-Taschenbücher waren mir am liebsten gewesen: Sie waren so biegsam, dass man sie leicht im Ärmel verstecken konnte. (Die drei Silben: »ro ro ro« – als ob es Chinesisch sei! – untereinandergeschrieben; »ro« ist übrigens gleichlautend mit »Fleisch« (肉), wie ich später lernte, also:
肉
肉
肉
aber das nur nebenbei.) Es fiel nicht weiter auf, wenn ich längere Zeit hinter einem Drehgestell stand (eine vorzügliche Deckung), selbstvergessen in ein Buch vertieft, und mich dann allmählich von dem Gestell entfernte, nach jedem Umblättern einen gedankenverlorenen Schritt weiter, bis eine unsichtbare Grenze erreicht war, wo das Buch nicht mehr der Buchhandlung gehörte, sondern dem, der es in der Hand hielt – bzw. in seinen Ärmel geschoben hatte.
Die meisten warf ich hinterher weg. Ein paar aber habe ich bis heute aufbewahrt, das (billige) Papier ist braun und fleckig geworden. In den Büchern waren noch Reklamen für Zigaretten abgedruckt, die man ebenfalls in den Bahnhofsbuchhandlungen kaufen konnte, Lesen und Rauchen gehörten damals zusammen. Manchmal ritt mich der Teufel, ich kaufte – das gestohlene Buch in der Manteltasche – noch eine Packung »Juno«-Zigaretten, neben »Gold Dollar« die Lieblingsmarke von Lorenz Lorenz Lorenz. Das Gefühl, für das Buch bezahlt zu haben, war die Belohnung.
Einmal war meine Beute ausgerechnet »Auf der schiefen Ebene« von Evelyn Waugh gewesen. Ein Mann, der mich die ganze Zeit beobachtet hatte – er sah fast so aus wie Waugh: ein Pfannkuchengesicht mit Zigarre (war er es vielleicht wirklich?) –, sprach mich an und machte mich auf das Verwerfliche meines Tuns aufmerksam. Er zeigte auf den Titel des Buches. Seine Frau neben ihm schaute mich vorwurfsvoll an. War ich ihr aufgefallen? Frauen haben einen Blick für jugendliche Delinquenten. Er werde dem Besitzer der Buchhandlung nichts sagen, sagte Evelyn Waugh, während er an seiner Zigarre zog, wenn ich das Buch zurückstellen würde. Seine Frau nickte – also mit ihr abgesprochen. Ich gehorchte mit reuevollem Gesichtsausdruck, was blieb mir auch anderes übrig? Als die beiden durch die Sperre gegangen waren, nahm ich das Buch wieder an mich. War es nicht schon vorher in meinen Besitz gelangt? Als ich es am anderen Morgen während des Religionsunterrichts neben mir auf die Bank legte, um darin zu lesen, wurde ich ertappt: zum Gaudium der in der nachfolgenden großen Pause im Lehrerzimmer versammelten Studienräte. Der Mathematiklehrer in der nächsten Stunde – Mathematik war nicht gerade meine starke Seite – nahm mich gleich zu Beginn dran. Noch bevor ich seine Frage beantworten konnte, was ich denn eigentlich einmal werden wollte, verfiel er in ein prustendes Lachen: Schiffschaukelbremser? Ich ging nach Taiwan und verlor dort zum ersten Mal mein Gedächtnis.
Eine Hinterlassenschaft dieser Anfälle waren, wie gesagt, die fast fotografischen Bilder, die mir aus der Zeit verblieben, in der mein Gedächtnis auf Wanderschaft gegangen war. Ein Film, den ich jederzeit anhalten konnte, wenn ich mir ein bestimmtes Bild genauer ansehen wollte.
Eine andere mir zugewachsene Fähigkeit, die mir erst nach und nach aufging, war das Vermögen, in gleicher Weise auch Klänge anhalten zu können. Sie blieben stehen, und ich konnte sie noch einmal hören und in Buchstaben nachmalen. Eine keineswegs alltägliche Fähigkeit, gewöhnlich vergisst man Klänge sofort, vor allem, wenn sie aus dem Alltag kommen; man überhört sie und nimmt sie nicht zur Kenntnis.
Ein Beispiel: Ich saß ein paar Tage nach dem Vorfall wieder einmal in einem Nudelshop – »Noodle King Home Cooking« – und trank eine Limonade. Ein Stammgast nahm Platz und bestellte eine Nudelsuppe. Die Besitzerin stellte die dampfende Suppe und ein Glas Wasser vor ihm hin. Er sperrte seinen Mund weit auf, griff mit langen Fingern hinein, zog sein Gebiss heraus – biatsch – und legte es in das Glas. Sprudelnd schwebte es nach unten. Erst als es auf dem Boden angelangt war, machte sich der Gast schlürfend über die langen
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