Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert

Kernbeißer und Kreuzschnäbel - Rainer Kloubert


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der Kommunisten in Kalgan ansässig gewesen, als Chauffeur des verblichenen Warlords. Ich dachte: Hatten beide ihn umgebracht?

      Sie war eine Meisterin im Fadenspiel (翻绳儿): Durch gegenseitiges Abnehmen einer zwischen den Fingern gespannten Schlinge werden immer neue Figuren gebildet. Auch »Greifen« (挝子儿) hatte sie mir beigebracht, gelangweilte Konkubinen vertrieben sich in Kalgan damit die Zeit. Gespielt wurde es mit Stoffbällchen. Man platziert eine ungerade Anzahl (gewöhnlich fünf) von ihnen auf einen Tisch, den man vorher mit einer weichen Unterlage bedeckt hat. Die Regeln: Der Spieler Nr. 1 ergreift mit der rechten Hand das erste Bällchen, wirft es in die Höhe, fängt es mit der linken Hand auf, während er zur gleichen Zeit mit der rechten Hand ein zweites Bällchen ergreift und hochwirft, es mit der linken auffängt und so weiter, bis alle fünf Bällchen geworfen und wieder aufgefangen sind. Wer nicht alle wieder auffängt, scheidet aus. Bei den folgenden »Runden« (单元) wirft man gleichzeitig erst zwei, drei, dann vier usw. Bällchen in die Höhe und fängt sie wieder auf. Im letzten Durchgang wirft man alle fünf Bällchen auf einmal.

      Wir spielten es, ich weiß nicht, wie viele Male. Ich schied schon bei drei Bällchen aus. Sie schaffte immer noch fünf. Ihre Augen waren dabei geschlossen, der Mund leicht geöffnet, ganz links blinkte ein Goldzahn auf; die Grübchen in ihren Wangen waren tiefer geworden. Ein Orgasmus?

      Ich wäre gerne ein Kunde von ihr in dem Kalganer Bordell gewesen.

      Wang brachte mir den Peking-Dialekt bei; die Zeichen lernte ich mithilfe eines ornithologischen Wörterbuchs und Swinhoes »Chinese Birds«, beide Bücher hatte ich in einem Rucksack stets bei mir. Im »Swinhoe« hatte ich auf der ersten Seite, für den Fall, dass ich wieder mein Gedächtnis verlieren sollte, meinen Namen und meine Adresse geschrieben. Aber würden sie mir etwas sagen?

      Einmal saß ich mit meinen Büchern im Astoria Café auf meinem Lieblingsplatz am Fenster mit Blick auf den Tempel des Stadtgottes und einer daneben liegenden Autoreparaturwerkstätte: beides nach chinesischer Vorstellung Instandsetzungs- und Ausbesserungsbetriebe. Am Eingang des Tempels befand sich der Stand eines Wahrsagers, ein Kollege meines Sprachlehrers: ein älterer Herr in einem chinesischen Gewand, mit einem Jadeamulett an einem dünnen Goldkettchen um den Hals und einer blauen runden Sonnenbrille auf der Nase, der stolze Besitzer einer auf dem Rücken grasgrün gefiederten Kohlmeise – Parus cinereus var. monticolus insperatus (绿背山雀), so Swinhoe in seinem Katalog, »Rückchen« (子子背儿) war die landläufige Bezeichnung. Die Vögel gaben nur zwei Laute von sich: »hihi« (唏唏) und »haha« (哈哈), man verlor daher bald die Lust, ihnen zuzuhören. In Taiwan galten sie als bösartige »Vogelkobolde« (鸟精): Unglücksvögel, die mit bösen Mächten in Verbindung standen und dumme Zufälle und Pannen zu gefahrvollen Verwicklungen verknüpften.

      Der Vogel zog gerade auf einen Wink des Wahrsagers aus einem Kasten einen dünnen rosa Zettel mit einem Horoskop hervor und überbrachte ihn seinem Herrn. Praktische Anweisungen standen darauf: heute besser nicht mit dem Motorrad fahren, einen Hausbau beginnen, Reisschößlinge setzen etc. Der Klient, ebenfalls mit einer Brille auf der Nase, saß auf einem Schemel neben dem Stand, während der Wahrsager, die Weissagungen auf dem Zettel erläuterte und mit seinem Pinsel ergänzte, derweil der drollige kleine Vogel, nachdem er ein paar Körner zur Belohnung bekommen hatte, trällernd und flötend – hihi (唏唏) – Kreise um den Stand und die benachbarte Autoreparaturwerkstätte flog. Vom Torraum des Tempels aus hatten zwei überlebensgroße und mit Lanzen, Schwertern und Knüppeln bewaffnete Torgötter ein wachsames Auge auf Wahrsager und Klient – der mit grimmig zusammengebissenen Zähnen hieß »Heng« (哼), der mit weit aufgerissenem Mund »Ha« (哈). Auf einem hohen und langen Tisch lagen die Opfergaben, die der Klient des Wahrsagers, um den Stadtgott gnädig zu stimmen, eben dort noch deponiert hatte: eine Pyramide polierter Äpfel, eine Flasche Sorghumschnaps und ein »Kentucky Fried Chicken«. Geister darf man nicht hungern lassen, sonst werden sie ungemütlich.

      Der Wahrsager legte den Pinsel beiseite, der Klient erhob sich mit dem Zettel in der Hand und steckte, das Gesicht in nachdenkliche Falten gelegt, seine Brille zurück in die Brusttasche seines Hemdes, was aus Ungeschick oder Sorge über die Zukunft auf eine Weise geschah, dass ein Bügel der Brille außen heraushing. Ein böses Omen, der Wahrsager zeigte vorwurfsvoll darauf. Als der Klient die Brille wieder hervorzog, um sie aufs Neue in die Brusttasche zu stecken, kam ihm ein Motorradfahrer entgegen, vor sich auf dem Benzintank ein riesiges Bündel mit bedruckten Faltkartons, das dem Fahrer fast die Sicht nahm. Er bremste, als ihm der Vogel des Wahrsagers, der keine Furcht vor Menschen zu kennen schien – haha (哈哈) –, vor die Nase flog, und stellte fluchend den Motor ab, kurz vor dem Klappstuhl, auf dem der Wahrsager saß, der gleichmütig wie einer, der schon alles gesehen hat, das Kommen und Gehen auf der Straße verfolgte und dabei den Fächer in seiner Hand hin und her bewegte. Als der Motorradfahrer auf den Anlasser trat, um wieder anzufahren, und sich auf seinem Sitz nach oben hob, da er so besser über das Bündel hinwegschauen konnte, kam ihm der Wahrsagevogel – haha (哈哈) – erneut in die Quere, dem Anschein nach wieder mit voller Absicht. Der Fahrer prallte vor dem Vogel zurück, geriet ins Schwanken, das Motorrad machte einen unkontrollierten Satz nach vorn und fiel krachend um – hihi (唏唏) – in gefährlicher Nähe des Wahrsagers, der erschrocken auf seinem Klappstuhl nach hinten fuhr, die Balance verlor und gegen den Stand mit dem Kasten kippte, der mitsamt den Horoskopen darin umstürzte. Der Klient von eben, schon im Fortgehen begriffen, hielt inne, blieb unschlüssig stehen und wandte sich dann dem Wahrsager zu, wobei ihm (dem Klienten), während er sich vor jenem bückte, um ihm aufzuhelfen, die Brille aus der Brusttasche fiel, ihm zwischen die Füße geriet, wo er sie knirschend zertrat, da er nicht mehr in der Lage war, seinen Schritt nach vorne abzubrechen, ohne selbst das Gleichgewicht zu verlieren, das er nun dadurch zurückzugewinnen trachtete, dass er sich beim Bücken, was jedoch bereits ein halbes Fallen war, mit der linken Hand unwillkürlich an dem Jadeamulett des Wahrsagers festkrallte, der gerade im Begriff war, sich wieder aufzurappeln, mit dem Ergebnis, dass das dünne Goldkettchen, an dem das Amulett befestigt war, riss und der Klient, nun vollends den Halt verlierend, auf den Wahrsager stürzte, gerade als ein Arbeiter mit einem zweirädrigen Schubkarren, auf dem zwei lange Eisblöcke wie Särge ruhten, um die Ecke bog und entgeistert über das Bild, das sich ihm bot, den Karren losließ, worauf dessen Ladefläche kippte und die beiden Eisblöcke in Richtung des Tempeltores rutschten und zwei große Blumenkübel, in der hier eine Palme und dort ein Gummibaum eingetopft waren, zu Fall brachten. Die Topfpalme rollte polternd gegen einen Kanister mit Öl, der vor der Autoreparaturwerkstatt stand, stieß diesen um, wobei sich der Verschluss löste und das Öl aus dem Kanister gluckernd auf die Straße floss, in die gerade ein weiterer Motoradfahrer einbog, ebenfalls mit einem Bündel von bedruckten Faltkartons vor sich – es musste eine Fabrik hierfür in der Nähe sein –, welcher durch das Öl auf der Straße, das er nicht sah, aber auch durch den Wahrsagevogel, der nun an ihm vorbeiflatterte, unversehens seine Richtung verlor, wobei er, bereits schlitternd, unwillkürlich noch einmal Gas gab, was er nicht hätte tun sollen, da er damit nur bewirkte, dass die Räder in der Öllache durchdrehten und er mitsamt seinem Motorrad krachend umfiel, nicht weit entfernt von dem seines Vorgängers, der sich gerade von Faltkartons freizuschaufeln im Begriff war, nur um erneut von einer Ladung verschüttet zu werden, während der Wahrsager, dem der Klient immer noch am Leib hing, in dem Bemühen, diesen von sich zu stoßen und sich aufzurichten, mit der Hand in der Luft herumfuhrwerkte, was der Vogel als Aufforderung verstand, einen Zettel aufzupicken – sie lagen überall zwischen den Faltkartons herum –, den er in die Hand seines Herrn und Meisters fallen ließ, bevor er sich flügelschlagend und schwanzwippend – haha (哈哈) – im grimmig aufgerissenen Mund des Torgottes »Ha« (哈) niederließ.

      Was mir keine Ruhe ließ, je mehr ich über die Begebenheit nachdachte, war der Umstand, dass der Ablauf mir so klar und deutlich vor Augen stand, wie sonst nur dann, wenn nach einer »dämonischen Besessenheit« mein Gedächtnis wieder zurückgekehrt war. Hatte ich es eben verloren, und war die Begebenheit wie bei meinem ersten Anfall nur eine Halluzination gewesen? Panik erfasste mich, ich wagte kaum, einen Blick auf den Tempel zu werfen. Schließlich tat ich es doch.

      Eine Welle der Erleichterung überkam mich. Der Wahrsager, sein Klient und die beiden Motorradfahrer richteten sich gerade auf, der Vogel saß immer noch, als hätte er dort


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