Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert

Kernbeißer und Kreuzschnäbel - Rainer Kloubert


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an seinen Lippen, auch wenn er nie zum Schluss kam, weil er sich immer wieder in Kommentaren, Erlebnissen und Klatsch und Tratsch verstrickte. Die Stichworte seines Themenfundus (包袱, wörtlich: »Bündel«) – angekündigt durch ein Schnauben der Nase – standen auf Schildern, die er wie in einem Stück von Brecht hochhob und dem Publikum zeigte: Begräbnisrituale, Esssitten, Glückspiele etc. Kam etwa die Rede auf Drosseln, standen auf dem Schild die beiden Zeichen für »Drossel«: 画眉. Die Männchen zählten zu den talentiertesten Singvögeln, aber auch zu den eigenwilligsten. Führte man sie nicht jeden Tag aus, um sie in der freien Natur nach Herzenslust singen zu lassen, versanken sie in Schwermut (落性) und verstummten, nicht selten sogar für immer. Besondere Vorsicht war bei solchen Gängen jedoch angebracht. Erblickte ein Männchen ein Weibchen in freier Wildbahn, konnte es passieren, dass es, von unwiderstehlicher Sehnsucht ergriffen, wild gegen die Stäbe des Käfigs anflatterte, dann Blut spuckte, jäh von der Stange fiel und das Zeitliche segnete. Die passiveren und zurückhaltenderen Weibchen legten nur Gleichgültigkeit an den Tag, zum Liedermachen fehlte ihnen das Nachahmungstalent, zum Spielen das Gedächtnis.

      Das zahme Drosselmännchen, das Shuang Houping bei seinen Vorträgen Gesellschaft leistete, flötete in den Pausen seinen Namen: ein langer gleichbleibender Ton (shuang: 双), gefolgt von einem nach unten fallenden (hou: 厚) und einem steigenden Ton (ping: 坪).

      Die Geschichten seines Herrn gehörten einer Welt von gestern an. War in einer etwa von Wein oder Schnaps die Rede – Schild: 酒 –, ergab sich wie von selbst eine sachverständige Führung durch die Weinhäuser (黄酒馆) und Gassenkneipen (小酒铺) von Peking, insbesondere die berüchtigten »Achtzehn Kneipen« (十八家酒店) am »Ziviltor« (宗文门). Dann erläuterte er, wie sich unverzollter Schwarzgebrannter – euphemistisch »privater Schnaps« (私酒) genannt – mitten in der Nacht über die Mauer hinweg in die Stadt hineinbringen ließe. Die verschiedenen Stadien der Trunkenheit seiner Begleiter, von denen einige im Publikum saßen – vor seinem losen Mundwerk war keiner sicher –, demonstrierte er mit der Ernsthaftigkeit eines Clowns. Ratschläge für die Behandlung von Katzenjammer (撒酒疯) folgten, bevor er sich in eine Konkubine des Kaisers verwandelte, die sich die Wartezeit mit dem Trinken von Wein verkürzt, ein berühmtes Solo der Pekingoper: »Die Trunkenheit der Konkubine Yang« (贵妃醉酒).

      Ein kleiner Schritt von hier zur »Farbe« (色), in China ein Symbol für sexuelle Begierde. Ein Gang durch das Bordellviertel der Stadt schloss sich an, die »Kleinen Liedkapellen« (清呤小班) auf den »Acht Großen Gassen« (八大胡同).

      Fand in der Erzählung die Gesichtsfarbe des Helden Erwähnung, schlüpfte er in einen gelehrten Gesichtsdeuter (相面先生) oder einen Deuter von Knochenbau und Stimme (揣骨), um sich anschließend im Allgemeinen über Wahrsagerei (算卦) auszulassen, im Besonderen dann über die acht horoskopischen Zeichen (八字, u. a. Jahr, Monat, Tag und Stunde der Geburt) oder astronomisch-metaphysische Divination (奇门). Spielte irgendwo Geld oder Reichtum (财) eine Rolle, ließ er sich aus über Spielhöllen (赌局) und diverse Formen von Glücksspiel: Würfeln (押宝), Domino-Poker (推牌九), Ma-Jongg (麻将牌) etc.

      Die Quelle seiner Geschichten, Parodien und Anekdoten war unerschöpflich, stockte aber auf der Bühne gelegentlich für ein oder zwei Minuten. In diesen Augenblicken der Abwesenheit starrte er vor sich hin und schien sich und alles um sich herum vergessen zu haben: Selbst das Klicken seiner Handkugeln (铁球), sonst Bestandteil seines Vortrags, verstummte – er konnte fünf Kugeln in seiner Hand kreiseln lassen, es half ihm, sagte er, sich zu konzentrieren. Er schreckte erst auf, wenn die Drossel neben ihm seinen Namen flötete: Shuang Houping – er kam wieder zu sich. Die Quelle seiner Beredsamkeit sprudelte wieder, auch das Klick-Klack der Handkugeln setzte erneut ein. Fragte man ihn, ob er Stimmen gehört habe, zeigte er auf die Drossel: Ja, sie würde ihm Satz für Satz alles soufflieren.

      Sein loses Mundwerk wurde Shuang Houping schließlich zum Verhängnis. Einmal hängte er an den Namen des Dämonen »Ding« (定) ein schnalzendes »za« an (子), wie es Mandschus untereinander zu tun pflegten, was den Jargonausdruck für »Hintern«, »Gesäß« (定子) ergab. Eine längere Pause folgte – in der er auf eine innere Stimme zu lauschen schien. Anzüglich grinsend zog er dann sein Ohrläppchen in die Länge, machte sich also auch noch über den »Schlafenden Buddha« (卧佛) lustig, von dem gerade die Rede gewesen war (Buddhas haben besonders große Ohrläppchen, ein Zeichen ihres langen und frommen Lebens). Am nächsten Tag fiel er in eine tiefe Ohnmacht. Die gerechte Strafe, die auf den Fuß folgte? Erschrocken legte er, als er wieder aufgewacht war, das Gelübde ab, pietätlose Bemerkungen von nun an zu unterlassen. Ein paar Jahre später wurde er rückfällig – es war ihm einfach nicht gegeben, eine witzige Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, für sich zu behalten. Diesmal galt sie der »Göttin der Barmherzigkeit« (观音), die von hinten, sagte er, ohne sich auf die Zunge zu beißen, barmherziger sei als von vorne. Die Folge: Er fiel wieder in Ohnmacht, diesmal in eine so tiefe, dass er aus ihr nicht wieder erwachte.

      Wo man in Peking Vögel erwerben konnte: Die populärsten Märkte waren in Tempeln angesiedelt: dem »Tempel des Prosperierenden Glücks« (隆福寺’), dem »Tempel des Vaterlandes« (护国寺) und dem »Erdtempel« (土地庙) – Tempel zwar, aber keine wie in der Bibel: Kein Menschensohn drehte hier aus Stricken eine Geißel, um die Händler aus dem Haus des Vaters zu vertreiben. Zwischen Jerusalem und Peking lagen Welten. Ein wandernder und eifernder Schreiner? Schallendes Gelächter der versammelten Götter wäre ihm entgegengeschlagen, hätte er sich in Peking an sein Reinigungswerk gemacht.

      Das größte Gedränge herrschte in und um den »Tempel des Prosperierenden Glücks«, wo am neunten und zehnten jedes Monats regelrechte Vogelmessen abgehalten wurden. Der Tempel selbst war ein Irrgarten von Pfaden, die den Strichen eines komplizierten, riesenhaft vergrößerten chinesischen Zei­chens glichen (»nang«, vornehm genäselt, wie es mein Wahrsager Wang tat), überlagert von einer ohrenbetäubenden Kakophonie aus tierischem und menschlichem Gelärme. Von Generation auf Generation vererbte Läden hatten hier ihren Platz, nur Schritte entfernt von den »Neunzehn Ständen für alte Bücher« (十九老书处) – gab es etwas Schöneres, als seinen Käfig mit der neuerstandenen Drossel abzustellen und in alten Büchern zu wühlen? Die Einbände hatten dieselbe Farbe wie die Hüllen der Käfige. Im Süden des Tempels warteten Papageien (鹦哥) und Haubenmainas (八哥) auf Käufer, im Westen Singvögel: Lerchen (百灵), Rotkehlchen (红点颏), Blaukehlchen (蓝点颏), Kohlmeisen (黑子), Sumpfmeisen (红子), Drosseln, (画眉, wörtlich: »Pinselbrauen«), im Osten des Tempels – man hörte es schon am gellenden Gekreisch – Greifvögel (抓生的鸟): Adler, Weihen, Sperber, Bussarde, Falken etc. – ein Zoo und Jahrmarkt zugleich. Im Norden nicht weit vom »Trommelturm« (鼓楼) gab es Spielvögel wie beispielsweise Kernbeißer (蜡嘴雀, 老西子, 胖雀, Eophona migratoria), Kreuzschnäbel (交嘴, Loxia) oder Seidenschwänze (太平鸟, wörtlich: »Friedensvögel«, Bombycilla garrulus centralasiæ).

      Ein paar Worte zu den Letzteren – den Seidenschwänzen. In China gab es sie in einer normalen und einer frappierend gleichen, aber verkleinerten Ausführung (Bombycilla japonica). Die Japonicas hatten genau zwölf Steuerfedern, ihre Spitzen waren entweder gelb oder rot, so leuchtend, als wären sie gerade in Farbe getaucht worden. Die größer geratenen »Gelben« hießen die »Gelben Zwölf« (十二黄) oder »Älteren Schwestern« (姐姐), die etwas kleineren »Roten« die »Roten Zwölf« oder »Jüngeren Schwestern« (妹妹). Der hoch nach hinten abstehende Schopf bzw. die Haube des rötlichbraun gefärbten Kopfes gemahnte an die Hutspange (簪缨) eines chinesischen Galans aus alter Zeit. Die »Schwestern« pflegten ihre Hauben gegen den Wind aufzurichten und flattern zu lassen, ein possierlicher Anblick, vor allem wenn sie dabei noch wie Kakadus auf und ab wippten. Im Westen fraßen sie am liebsten »kreideblaue Wacholderbeeren … – auf eine weihevolle Art« (Nabokov: »Pale Fire«), in China waren es zuckerbestreute Maisbrötchen (窝窝头) oder schwarze, wie Gewehrkugeln aussehende Dattelpfläumchen (黑枣, Diospyros lotus), die sie auch zu apportieren lernten, obwohl sie weder besonders weit noch hoch fliegen, sondern eigentlich nur kurze unmotivierte Hüpfer vollführen konnten.


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