Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert
dem Regisseur fotografieren zu lassen. Als dieser bereitwillig zu der Gruppe ging, gerieten die beiden Maultiere aneinander und bissen sich geifernd. Der Kosake lief mit wehendem Bart zurück, holte mit seinem Fuß aus und trat einem der beiden Maultiere mit voller Wucht in den Unterleib. Das Maultier knickte blökend ein. Hans, Karl, Heinrich und Josef standen schweigend in Betrachtung des Schauspiels um den Regisseur herum – meinen Mörder in der nächsten Szene und schon als solcher geschminkt und kostümiert. Der Kosake wartete, bis das Maultier sich hochgerappelt hatte, lief zurück und stellte sich wieder zu den anderen: vier deutsche Wachsoldaten, ein russischer Kosake und der Mörder Kettelers. Ich, der ermordete Ketteler, blieb außen vor. Alle sechs lächelten in die Kamera. Die Aufnahme wurde zweimal gemacht.
Nicht viel weniger gesucht als »Manufakturgriffe« waren Griffe des »Kleinen Guo« (小郭), des »Kleinen Zhao« (小赵) oder des »Kleinen Zhang« (小张; in Peking war es allgemeine Sitte, Familiennamen entsprechend der Generationenfolge entweder mit dem Zusatz »der kleine« (小) oder »der alte« (老) zu versehen, Lenkstangen gewissermaßen für das ganze Leben, auch wenn die Träger der Namen längst nicht mehr »klein« waren: der »Kleine Zhao« konnte in Wirklichkeit längst der alte »Kleine Zhao« sein). Der bekannteste unter den dreien war der »Kleine Guo«, in aller Munde nicht nur wegen seiner Griffe, sondern genauso aufgrund seiner Liebe zu Erguotou (二锅头), einem ordinären, aus Sorghum hergestellten hochprozentigen Schnaps, der von ihm nach des Tages Mühe und Arbeit Besitz ergriff. War er bei Kasse, rührte er keinen Finger mehr. Erst wenn er das letzte Geld vertrunken hatte, machte er sich wieder an die Arbeit – und schuf wahre Kunstwerke, nach denen die Leute Schlange standen. Als würdiger Nachfolger erwies sich der »Klein-kleine Zhang« (小小张), der Sohn des »Kleinen Zhang«, der nach dem Sturz der Dynastie eine eigene Werkstatt in der »Südlichen Mittelstraße der Pekinger Schleif- und Polierwerke« (打磨厂中间路南) aufgemacht hatte, Teil der ehemals kaiserlichen Manufaktur, wo sein Vater vorher beschäftigt gewesen war.
Sitz- oder Hüpfstangen bzw. Stege (鸟杠). Sie gehörten zur Standardausstattung eines Käfigs – nur in Lerchenkäfigen fehlten sie. Manchen Vögeln reichte eine einzige (单杠) – Sumpfmeisen und Rohrspatzen beispielsweise –, Rot- und Blaukehlchen wiederum legten Wert auf zwei (双杠). Die mit Abstand teuersten waren aus chinesischer Glyzine (紫藤, Wisteria sinensis), einer glasharten Holzart, der auch die schärfsten Krallen und Schnäbel nichts anhaben konnten; selbst Sumpfmeisen, notorisch ihres unentwegten Hackens und Pickens wegen, scheiterten an ihnen. Beliebt war ebenfalls spanisches Rohr, Rattan oder Rotang, bekannt für Härte, Elastizität, Leichtigkeit, gleichbleibenden Durchmesser, Glätte, Glanz und Fleckenresistenz. Leute mit schmalerem Geldbeutel griffen zu Stegen aus festen und zähen, äußerlich dem Holz der Glyzine ähnelnden Baumwurzeln (树根). Elegantere Käfige für Drosseln und Rohrspatzen hatten mit Haifischhaut überzogene Sitzstangen (鲨鱼皮, sogenanntes »Chagrin«, ein stahlgraues Leder mit kleinen, harten und sehr glatten Schuppen, das auch für Brillenetuis, Schwertscheiden und Schmuckkästchen Verwendung fand). Etwas wertvoller waren Stege aus chinesischem Blütenpfeffer (花椒木, Zanthoxylum bungeanum), den Wurzeln von Pfirsichbäumen (桃木根) und sogenanntem Peitschenstielholz (鞭子杠). Solche aus »Sechs-Wege-Holz« (六道木, Abelia chinensis), das im trockenen Klima von Peking rissig wurde und dann gekittet werden musste, galten als zweitklassig.
Essnäpfchen (食罐), Trinknäpfchen (水罐) etc. Die erste Regel lautete: »Fünf Näpfchen machen erst ein Gedeck« (五罐一堂), i. e.: zwei Essnäpfchen, zwei Trinknäpfchen, dazu für weiches Futter (软食) ein flaches Tellerchen oder Schälchen (抹儿, bzw. das »Flache«: 浅儿). Die zweite: »Zu einem Käfig mit einem Steg gehören zwei, zu einem Käfig mit zwei (Stegen) vier Näpfchen« (单杠双罐, 双杠四罐). Regeln, von denen es – wie bei allen Regeln in China – Ausnahmen gab. Einstegige Käfige etwa mit zwei Näpfchen und einem Tellerchen oder zweistegige mit nur einem Näpfchen und einem Tellerchen etc.: Es hing von den Vögeln, ihrer Ernährung, individuellen Vorlieben der Besitzer oder den wechselnden Umständen ab.
Teure Näpfchen waren aus Porzellan und wie Köpfe von Opiumpfeifen geformt: eine kleine Öffnung und ein großer Bauch. »Nasen« (鼻) am Rücken der Näpfchen dienten zum Befestigen am Käfig. Näpfchen für Drosseln (画眉) fielen etwas aus dem Rahmen: Sie waren größer als die anderen und hatten die Gestalt von Kissen (枕形) oder Bauchtrommeln (腰鼓); bei Drosselgedecken gesellte sich zu dem Tellerchen noch ein mit Sand (沙罐) oder Lössklümpchen (黄土块) gefülltes Näpfchen, in dem Drosseln nach dem Fressen der zuträglicheren Verdauung wegen zu picken liebten.
Rot- und Blaukehlchen (靛颏), die weiches Futter bevorzugten, hatten in der Regel keine vier Näpfchen (Ausnahme zur obigen Regel Nr. 2), obwohl ihre Käfige zwei Sitzstangen besaßen, sondern lediglich ein Näpfchen zum Trinken und ein Tellerchen zum Fressen (一罐一抹); diese wurden zwischen den beiden Sitzstangen platziert. Dasselbe galt für die ebenfalls weich fressenden Rohrspatzen (苇柞). Lerchen (百灵) mit ihrer Vorliebe für hartes Futter (Hirsekörner mit Eigelb) hatten zwei Futternäpfchen, ein außen angebrachtes Trinknäpfchen (gewöhnlich aus Kupfer, nicht aus Porzellan) und dazu in der Mauser – waren sie ihrem Besitzer besonders ans Herz gewachsen – noch ein Tellerchen für weiches Futter. Sumpfmeisen (红子) hatten die Auswahl zwischen einem Näpfchen für trockenes Eimehl (干蛋面), einem »Tellerchen« für nasses Eimehl (湿蛋面) und einem Näpfchen für Schwarznesselnüsschen (苏子): mit dem Näpfchen für Wasser also »drei Näpfchen und ein Tellerchen« (三罐一抹).
Muster bzw. Motive der Gedecke pflegten aufeinander abgestimmt zu sein, insbesondere dann, wenn das Ensemble aus vier Näpfchen und einem Tellerchen bestand. Die Malereien darauf, nicht selten auf feinem Craquelé (裂纹, Haarriss-Porzellan) berühmter Manufakturen, beruhten oft auf eigenen Entwürfen der Besitzer: Landschaften (山水), Menschen (人物), Blumen und Gräser (花卉), Vögel mit buntem Gefieder (翎毛) und korrespondierenden Gedichten (诗篇). Klassische Motive für Sumpfmeisen waren etwa: »Purpurrote Hirsche« (紫鹿), »Rote Krabben« (紫蟹), »Rote und blaue (Fische) mit wechselnden Köpfen« (红蓝截头鱼, i. e. rote Fische mit blauen Köpfen, blaue Fische mit roten Köpfen), »Rote und blaue Wolken und Fledermäuse« (红蓝云蝠; Fledermäuse waren in China anders als im europäischem Volkstum Glückssymbole), »Blaue Fledermäuse und Blätter« (蓝蝠叶), »Ineinander verschlungene Fledermäuse und Blätter« (勾连蝠叶) etc. Für Rot-und Blaukehlchen (靛颏) gab es: »Rot- und Blaufischnäpfchen« (红蓝鱼罐) – »Pu der Blaufisch« ließ grüßen –, violettrosafarbene »Rouge-Trinknäpfchen« (胭脂水罐) oder zartrosafarbene »Pfirsichblüten vor einer Schneegrotte« (桃花雪洞罐).
Wahre Kenner waren daran auszumachen, dass sie sich an subtile Konventionen hielten, was Motive anbetraf. Die Subtilität ging bisweilen so weit, dass sie rein gar nicht zueinander zu passen schienen – als sei ihre Wahl aus einer Laune des Augenblicks heraus erfolgt (was ein großer Irrtum war: Ihr lagen klassische Anspielungen zugrunde, die aber so versteckt waren, dass man schon ein Literat erster Ordnung sein musste, um ihrer gewahr zu werden). Solche »Stegreifnäpfchen« (现凑的罐), wie sie genannt wurden, waren ausgesprochen wertvoll und teuer und wurden immer mehr Mode, was zur Folge hatte, dass schließlich Pseudo-Stegreif-Ensembles auf den Markt kamen, die nur so taten, als hätten die einzelnen Stücke einen (versteckten) Bezug zueinander. Näpfchen für Schwarznackenpirole (黄莺) mit roten Krabben (紫蟹)? Entgleisungen, denen wahre Kenner nicht auf den Leim gingen. Krabben passten nun einmal nur zu Sumpfmeisen.
Wertlose Stücke waren auf den ersten Blick am Material (Steingut, Mörtel) und den banalen Farben zu erkennen (李红, »Pflaumenrot«, 桃花水颜色, »Pfirsichblütentaurosa« etc.). Die Regel: »Je billiger der Käfig, desto billiger das Geschirr« (粗笼粗罐) galt auch für die Befestigungsvorrichtungen. Ignoranten und Banausen klammerten die Näpfchen mit Hilfe von dünnen Bambushölzchen an den Käfigstäben fest. Liebhaber, die stolz auf ihren Käfig waren, benutzten hierfür konkave Bambusspangen (罐凹), die – extra dafür angefertigt und von derselben Farbe wie die Stäbe oder schwarz – glatt und plan mit dem Käfiggehäuse abschlossen.