Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert

Kernbeißer und Kreuzschnäbel - Rainer Kloubert


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immer Folge und Ursache war: Dummheit und fehlender Jagdeifer – manche hatten so wenig Verstand, dass sie ihre eigenen Ausscheidungen fraßen und daran zugrunde gingen. Tägliche Säuberung des Gestells – bzw. Käfigs, wenn sie darin gehalten wurden – war daher dringend geboten.

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      Käfige, Gestelle und Paraphernalia

      »Kleider: am besten neue; Käfige: lieber alte«

      (衣不如新, 笼不如旧)

      Vogelkäfige waren während der Kulturrevolution zu Brennholz kleingemacht worden, es sei denn, sie hatten sich in Häusern befunden, die für die »Roten Garden« (红卫兵) gesperrt oder zu abwegig gewesen waren: Anwesen von Prominenten oder solche in unzugänglichen Gegenden – den Westbergen beispielsweise. Bei meinem Spaziergang, bei dem ich den Opernsänger mit seinem Rotkehlchen getroffen hatte, war ich wenige Minuten später auf einen Bungalow gestoßen, wie sie verstreut überall in den Westbergen noch existierten: frühere Sommerresidenzen von Ausländern oder reichen Chinesen. Ein alter Mann saß strickend auf einem Gartenstuhl, in seinem Schoß lag ein rotes Wollknäuel, ab und zu zog er an dem führenden Faden und rollte das Knäuel mit einem gekonnten Ruck seines Ellbogens weiter auf. Ich ging neugierig auf ihn zu.

      »Was ist das für ein Haus?«

      »Die Lotosvilla (莲花墅).« Der Mann gab dem Garnknäuel wieder einen Ruck, um den Faden zu lockern, ich war ihm offensichtlich ­lästig.

      In der weiten, weiten Ferne …, wieder der Sänger von irgendwoher, der hinter mir den Pfad herunterschritt.

      »Die Lotosvilla? Was für ein schöner Name! Wer hat denn hier gewohnt?«

      »Ah … wer schon!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

      »Kann ich einen Blick hineinwerfen?«

      »Ja … aber nur von außen!«

      … wo ein Mädchen auf mich wartet …

      »Nicht von innen?«

      »Nein, der Mann mit dem Schlüssel ist nicht da«, sagte der Mann unwirsch.

      Auf der weiten Veranda, die sich um das Gebäude zog, standen zwei Korbstühle am Fenster, zwischen ihnen ein Tisch, auf dem ein Aschenbecher und eine geöffnete Zigarettenschachtel der Marke Panda lagen. Einer der Sessel war nach hinten gerückt, als ob gerade jemand aufgestanden wäre. Ein Paar schwarze Stoffschuhe lehnte zum Trocknen am Geländer, rote Paprikaschoten und Knoblauchbündel hingen vom Dach herab. Der Raum neben der Veranda war vollgestellt mit verstaubtem Gerümpel (ein grünbespanntes Sofa mit Troddeln, ein staubiger Safe, Blumentöpfe mit vertrockneten Pflanzen etc.). An der Wand hing eine vergilbte Karte von China mit bunten Stecknadelfähnchen, an der Seitenwand eine andere, ebenfalls mit Fähnchen, dazwischen standen drei Vogelkäfige. Ich warf einen Blick an die Decke. Auch dort hingen Vogelkäfige, einer neben dem anderen in allen Größen und Gestalten.

      »Zhu De«, rief mir der Mann vorwurfsvoll hinterher, als ich mich zum Gehen wenden wollte, »Zhu De hat hier gewohnt.«

      Ich blieb überrascht stehen.

      Dooooooort, wo ein Mädchen auf mich wartet …

      »Zhu De (朱德) hat hier gewohnt«, sagte der Stricker noch einmal. Er spuckte aus und drehte seinen Kopf ab, als hätte er schon zu viel gesagt.

      Zhu De also, der große und legendäre Marschall der Kommunisten, süchtig nach Opium, dem »Großen Rauch« (大烟), dem er schon als Warlord in Szechuan verfallen war, noch bevor er zu Mao stieß, der ihn zu seinem Marschall machte. Als er sich gegen Mao stellte, fiel er in Ungnade. (Er hatte zur selben Zeit in Deutschland studiert wie der Wörterbuchmacher Lin Yutang.)

      »Hat er Vögel gehalten?«

      »Man hat sie ihm alle weggenommen, nur die Käfige durfte er behalten.«

      Auch eine Form der Tortur. Die Fähn­chen in den beiden Karten an der Wand kamen mir wieder in den Sinn. Fähnchenspiele – hatte ein Kreuzschnabel (交嘴) sie herausgezogen und sie je nach Frontverlauf hin- und hergetragen; oder aufs Geratewohl zu neuen Fronten gesteckt, auf die die Gegner nicht vorbereitet waren; eine Spezialität des Generals? Ich warf noch einen Blick in die Veranda. In einem der beiden Korbstühle lag ein eingedrücktes Kissen, an der Rückenlehne war ein Polster befestigt, von der flachen, harten Sorte, auf die Opiumraucher ihren Kopf zu betten pflegten, bevor sie ihn in Träumen verloren. Nebeldunst stieg unten vom Tal auf. Hatte sich nicht auch der Marschall während des Bürgerkriegs mit Stricken die Zeit vertrieben?

      Ich drehte mich nach ein paar Schritten noch einmal um. Der Mann, der auf das Haus aufpasste, gab dem Wollknäuel wieder einen Ruck und schaute mir unfreundlich nach.

      War er es vielleicht selbst – Zhu De? Der legendäre Marschall als sein eigener Pförtner?

      »Gute Vögel steckt man nur in gute Käfige« (好鸟配好笼). Käfig war noch lange nicht gleich Käfig. Jeder war hinsichtlich Gestalt, Form, Größe, Anzahl der Stäbe, Durchmesser, Inneneinrichtung (Sitzstangen, Ess- und Trinknäpfe etc.) auf eine bestimmte Vogelart ­zugeschnitten. (Keine Regel ohne Ausnahme: Drosselkäfige dienten beispielsweise auch zum Halten von Haubenmainas (八哥儿, Acridotheres cristatellus), einer asiatischen Starenart, und ihren aus Südostasien gebürtigen Schwestern, den Hügelmainas (鹩哥, Gracula religiosa, auf Chinesisch auch »Gelbohren« (黄耳朵) genannt), aber auch für die unsäglich dummen Seidenschwänze (和平鸟).) Es gab grobe Käfige von der Stange (行笼) und teure und feingearbeitete Maßarbeiten (定活笼), welche die individuelle Handschrift ihrer Hersteller trugen und ein Vermögen kosteten. Quadratische oder längliche Käfige waren nie erste Wahl, gleichfalls solche in ausgefallener oder barocker Gestalt wie Pavillons, Tempelchen, Pagoden, ­Lotoskelche, Dschunken, Lampions – sich über ihren Zweck erhebende Formen. Käfige für exotische Vögel, die menschliche Stimmen nachzuahmen verstanden – wahre Vogelliebhaber verschlossen vor solchen zur Respektlosigkeit neigenden Vögeln schaudernd ihre Ohren –, stammten gewöhnlich aus der Hafenstadt Tientsin (天津).

      Für Käfigteile und Utensilien galt die Pekinger Philosophie, dass sich in den Requisiten einer Passion Kunstsinn und Selbstachtung des Besitzers widerspiegeln mussten. Warum sein Licht unter den Scheffel stellen und sich dadurch eines zusätzlichen Vergnügens an der Sache zu berauben?

      »Käfigkappen« (顶棚盖布) und »-hüllen« (笼罩): Die ­Stäbe eines Käfigs fanden sich wie die Speichen einer Radachse oben zu einer Öffnung zusammen. Die »Kappe« darüber oder darunter hatte zwei Funktionen: erstens das unästhetische Loch zu schließen und zweitens dem Vogel den bedrohlichen Anblick der den Griff umfassenden menschlichen Hand zu ersparen. Maßgeschneiderte Käfige (定活笼), vor allem solche für Blau- und Rotkehlchen, Drosseln und Lerchen, hatten Kappen aus schwarzem, mit Rauten, Rhomben, Päonien oder anderen großblättrigen und -blütigen Blumen besticktem Satin (段). Beliebt waren auch schräggestickte Elefantenaugen (象眼). Bei einfachen Käfigen von der Stange (行笼) war es ein brauner oder purpurroter Lackdeckel (漆板). Ganz billige Käfige hatten Kappen aus weißem Wachstuch (漆布), oft bemalt mit drei blauen Blumen (三蓝花) – Gipfel ordinärer Geschmacklosigkeit, so Jin Shoushen (金受申), der Arbiter Elegantiæ der Pekinger Vogelwelt.

      Die Kappen der Käfige für Sumpfmeisen (红子) pflegten in der Kaiserzeit aus fein getriebenem, glänzend geschliffenem oder mit Gravuren versehenem Eisen zu sein – billige Kappen waren aus Blech (马口洋铁). (Wörtlich: »Pferdemaul-Eisen«. »Pferdemaul« (马口, makou) war eine Bezeichnung, die auf Macao Bezug nahm, den Hafen, über den zum ersten Mal Blech seinen Weg nach China gefunden hatte, also eigentlich: »Macao-Eisen«.) Gegen Ende der Dynastie kamen Kappen aus Kupfer auf – bei gewöhnlichen Käfigen Rotkupfer (红铜), bei besseren eine Kupfer-­Nickel-Legierung (白铜). Reliefartige Zeichen oder Bilder waren auf ihnen eingemeißelt oder eingeätzt: bei harten Eisenkappen eine mühevolle Angelegenheit,


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