Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert

Kernbeißer und Kreuzschnäbel - Rainer Kloubert


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und abwechslungreich, das Weibchen stieß nur ein monotones und einsilbiges »zhi!« (吱), »zhi!« (吱) aus. Junge Pärchen entwickelten nach ihrem Fang die vorübergehende Unart, gegen die Stäbe des Käfigs anzuflattern. Am besten verhüllte man ihn in den ersten Tagen. Drangen keine Lichtstrahlen hinein, verloren beide Vögel ihr Richtungsgefühl, was dazu führte, dass sie ruhig und geduldig auf ihrem Platz verharrten. Auch der obere Teil des Käfigs musste bedeckt sein, da sie sonst starr in die Höhe blickten, eine Rappelköpfigkeit, die, einmal eingerissen, kaum noch auszutreiben war. Hatten sie sich an ihre Besitzer gewöhnt, ließen sie sich auf seiner Hand nieder und verloren jede Scheu vor ihm – nur in der Paarungszeit wichen sie seinem Blick aus, als würden sie sich schämen. Die Pärchen, Symbole inniger Liebe – »unzertrennlich wie Körper und Schatten« (形影不离) –, hüpften und sangen den ganzen Tag munter und fröhlich herum.

      Ein praktischer Hinweis: Führte man sie spazieren, was man hin und wieder tun sollte, um sie auf andere Gedanken zu bringen, schätzten sie vor allem Abwechslung: Ein unbekannter Bambushain oder ein Wäldchen mit fremden Blättern genügte, um sie völlig aus dem Häuschen zu bringen und fast närrisch vor Liebe zueinander zu machen. Man verschenkte sie auch gern zur Hochzeit, eine volkstümliche, alte Sitte, die sich auf dem Land bis heute erhalten hat. Ließ man das Männchen frei, flog es immerzu um den Käfig, stumm, als hätte das Getrenntsein von seinem Weibchen ihm die Stimme geraubt. »Eine Stummheit noch lauter als jeder Schrei« (无声胜有声). Anders als die Thurber’schen oder afrikanischen »Unzertrennlichen« überdauerte bei den chinesischen die Liebe auch noch den Tod. Starb das Männchen, verweigerte das Weibchen so lange die Nahrung, bis auch sie das Zeitliche segnete.

      Einige Worte noch zu den Beizvögeln (抓生的鸟). Mit ihnen, den Habichten, Falken, Sperbern und Bussarden, gab sich nur die mandschurische Oberschicht ab, die chinesische Bevölkerung hatte nie sehr viel mit ihnen anzufangen gewusst. (Bestimmte Falkenarten waren übrigens in Peking schon so degeneriert, dass sie nicht mehr nach Beute jagten, sondern nur noch nach Erdinsekten und Würmern scharrten: das Schicksal gewissermaßen auch ihrer mandschurischen Besitzer, chinesische Samurais, aus denen im Laufe der Jahrhunderte alimentierte Müßiggänger und ewige Urlauber geworden waren.)

      Vögel, Fische, Insekten, aber auch Blumen – ein symbiotisches Zusammenleben hinter den Mauern von Peking. Blickten die Pekinger auf ihre Stadtmauer, fühlten sie sich geborgen und sicher wie im mütterlichen Schoß. Außerhalb der Mauern, wo das Land braun war, rissig und hart und die Luft kalt und windig, wurde ihnen sofort bange ums Herz, als könnten die mächtigen Tore, die jede Nacht donnernd geschlossen wurden, sie womöglich nicht wieder hereinlassen. Auch das ein Grund, weshalb sich die chinesischen Bewohner der Stadt aus dem ritterlichen Spiel, Vögel zur Jagd abzurichten, Falken etwa, Sperber oder Adler, nicht viel machten. Anders mandschurische Adelige, für die es als Ehrensache galt, Beizjagden auf Wildkatzen, Hasen oder Karnickel zu veranstalten. Auf der Strecke gebliebene Beute wurde von Hunden apportiert, manchmal auch von einem Affen, der auf einem Schafsbock ritt und so dressiert war, dass er den Bock an Ort und Stelle lenkte, die Beute ergriff, sie ihm aufpackte, sich dann wieder in den Sattel schwang und zurückritt. Wie ihre Dressur aussah, ist nicht mehr bekannt – Geheimnisse chinesischer Abrichtungskunst.

      Aber was war schon die Lust an der Beizjagd gegen das Vergnügen, den Lauten von Vögeln zu lauschen, neue für sie zu erfinden und ihnen Strophen oder »Touren« beizubringen? Die Paraphernalia für das Halten von Singvögeln – Käfige zum Beispiel, die Griffe daran, die Sitzstangen, Fress- und Trinknäpfe, Gestelle, Rahmen, Halsfesseln, Kästchen, Schächtelchen und »Sächelchen« etc. – würden so manche Vitrine eines Museums füllen. Viele dieser Requisiten und Accessoires sind längst verschwunden, bei nicht wenigen weiß man nicht mehr, wie sie ausgesehen oder welchem Zweck sie einmal gedient hatten. Einer der Gründe hierfür liegt in dem Umstand, dass sich die konfuzianischen Schriftgelehrten, denen die Leidenschaft für Vögel immer ein Dorn im Auge gewesen war, eigensinnig weigerten, ihnen (den Paraphernalia) Zeichen und dadurch Gestalt und Existenz zu geben. Die Energie, die man auf sie verwandte, ginge ernsthafteren Dingen verloren: Familie, Geschäft, Observanz, eine geordnete Welt, in der – anders als Laotse (老子) es gepredigt hatte – eben niemand frei wie ein Vogel sein durfte. Die Wörter, die ihre Liebhaber verwendeten, gehörten der Gassensprache (俚语) an, für die Zeichen eigentlich überflüssig waren. Sprangen die konfuzianischen Schriftgelehrten über ihren Schatten und stellten Zeichen zur Verfügung, taten sie es erst nach langem Zögern und Überlegen – nicht jedes Wort war schließlich ein Zeichen wert. In vielen Fällen verschwanden die Zeichen bald wieder in der Versenkung. Heute findet man sie, wenn überhaupt, nur noch in speziellen Wörterbüchern: Friedhöfe von Strichen, Klängen und Lauten, ein Schattenreich von Dingen, für die sie einmal standen: Vögel, Töne, Bewegungen, Rituale und Gesten.

      Apropos Schriftzeichen: Zwischen chinesischen Schriftzeichen und den Lauten besteht – im Unterschied zu indogermanischen Sprachen – eine ganz andere Beziehung: Laute ergeben sich hier nicht aus Zeichen (Buchstaben). Anders gesagt: An den Zeichen selbst ist ihre Aussprache nicht zu erkennen. Man muss sie in einem Wörterbuch nachschlagen. Aber dort liegen Tausende herum, woher weiß man, wo die gesuchten stehen? Soll man sie etwa der Reihe nach durchgehen? Die Lösung, die – zugegeben – etwas vertrackt ist: Wie man auf einem Schiff im Meer anhand der Gestirne seine Position bestimmt, stellt man bei einem Zeichen anhand bestimmter wiederkehrender Merkmale seinen Standort im Wörterbuch fest – dem »Wortmeer« (辞海), so der chinesische Name dafür. Die für Veranlagung und Standortbestimmung ausgedachten Systeme – es gibt deren viele – sind ebenso komplex wie die Regeln zur Bestimmung von Pflanzen und Vögeln. Ein mühsames Suchen in Tabellen, für das ein fast fotografisches Gedächtnis erforderlich ist und die Fähigkeit, Zeichen und Laute für längere Zeit im Auge bzw. im Ohr zu behalten.

      Ein Beispiel zur Illustrierung: Lin Yutang (林语堂) war ein kosmo­politischer und polyglotter Essayist, Romancier und Philosoph, der sich jedoch in erster Linie als Wörterbuchmacher verstand. Sein Promotionsthema in Leipzig: »Altchinesische Lautlehre«. Auch er ­hat­te vor dem Problem gestanden, Zeichen so anzuordnen, dass man sie mög­lichst schnell lokalisieren konnte. Für sein »Chinese-English Dictionary of Modern Usage« erfand er eine Methode, mit der sie sich gewissermaßen topografisch vermessen ließen, die sogenannte »Vier-Ecken-Methode«: Er teilte jedes Zeichen in vier Sektoren ein, der Reihe nach in: oben links, oben rechts, unten links und unten rechts. Jedem Sektor wurde dann eine Ziffer von 0 bis 9 zugeordnet, die die jeweils dominierende Strichgestalt repräsentierte: (1) Horizontalstrich, (2) Vertikal- oder Diagonalstrich, (3) Punkt, (4) Kreuz, (5) zwei oder mehr sich kreuzende Striche, (6) Quadrat oder Rechteck, (7) Winkel, (8) zwei oder drei getrennte Striche und (9) Strich mit einem Punkt darauf. Man brauchte nur unter sich ergebenden Zahlenfolgen nachzuschlagen und hatte das gesuchte Zeichen gefunden – oder auch nicht.

      Lin Yutangs Ehrgeiz ging noch über Wörterbücher hinaus: Er wollte eine chinesische Schreibmaschine konstruieren, die nicht viel weniger Raum einnahm als eine westliche. Die zu seiner Zeit in Gebrauch befindlichen chinesischen Schreibmaschinen waren schrankgroße Ungetüme und funktionierten wie Druckmaschinen: Zeichenmoloche, die sich nur von jahrelang geschultem Personal bedienen ließen. Lin Yutang – ein spleeniger Tüftler, der auch ein Schotte oder Schwabe hätte sein können – gelang es, einen auf der »Vier-Ecken-Methode« basierenden Prototyp herstellen und patentieren zu lassen: ein Unterfangen, das ihn Jahrzehnte seines Lebens kostete und bankrott machte.

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      (Sieht die Fig. 40 in der Zeichnung nicht aus wie eine gestreifte Krawatte?)

      Als er die Maschine, mit ihren vielen Rollen weit komplizierter als eine Enigma, Geldgebern präsentierte, wollte sie jedoch nicht funktionieren – Erfinderpech.

      Von Zeichen, Lauten und ihrer Zuordnung zurück zu Vögeln. Um sie heranzuziehen, war neben Geld, Zeit, Geduld und Mühe nicht nur Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen, sondern auch Sinn für Inszenierung und Dramatik erforderlich – und einer für Ironie und Komik; an beidem hatte in Peking nie Mangel geherrscht. Oder war es nicht etwa ein Gipfel an Ironie, wenn ein mandschurischer Falkner im verwegenem Aufzug dem Wind trotzend, auf der Schulter einen Greifvogel und an der Leine


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