Kernbeißer und Kreuzschnäbel. Rainer Kloubert

Kernbeißer und Kreuzschnäbel - Rainer Kloubert


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unten gefüttert (夹罩) oder bestanden aus doppelten Lagen (复层). Auch das Gesetz des Geldbeutels spielte eine Rolle. Teure maßgeschneiderte Hüllen – aus Baumwollsatin, fein gewirkt und eng genäht (缝口细密) – hatten breitere Randsegmente. Bei billigen Hüllen aus Baumwolle waren die teuren (weil gefütterten) Randsegmente sehr viel schmaler. Ein Blick auf sie genügte, und man wusste, was für ein Käfig im Zweifel dahintersteckte – und ob der Besitzer arm oder reich war.

      »Mondweiße« (月白) oder tiefblaue (深蓝) Farben waren am verbreitetsten. Elegant, aber nicht jedermanns Geschmack, weil etwas gewagt, war schwarzer, mit kohlrabiblauen Mustern bestickter Satin. Für Lerchen, schreckhafte Wesen, die auf bunte und grelle Farben, die es in ihrem natürlichen Habitat, der Steppe, nicht gab, verstört reagierten, nahm man gedeckte Farben: ein mattes Blau, Grau oder Schwarz, wenn man es nicht vorzog, den Stier bei den Hörnern zu packen und den Sänger mit Gewalt ein für alle Mal ans bunte Stadtleben zu gewöhnen – mittels einer gelben oder roten Hülle. Aber das war etwas riskant. Die Farbe der Hülle musste, unnötig zu sagen, auch zu der des Käfigs passen.

      Ein paar Worte auch hier wieder zu Drosseln. Bei ihnen bestanden die Hüllen oft aus doppelten Lagen, die innere war blau, die äußere schwarz. Über dem Käfigtürchen hing ein separat ausgeschnittener Vorhang (门帘). Öffnete man das Türchen, ohne den Vorhang zu heben, war eine wunderliche Slapstick-Einlage fällig: Das Vorhängelchen bewegte sich ruckartig hin und her, dann von unten nach oben in immer schnelleren Wellen und Schwüngen, bis schließlich alles in ein allgemeines Gewoge überging, das sich schließlich öffnete. Des Rätsels Lösung: die Drossel, die hinter dem Türchen mit wachsender Frustration, dann mit Panik nach einer Öffnung im Vorhang gesucht – oder vielleicht auch nur so getan hatte. Komiker unter den Drosseln vollführten, wenn sie sich durch den Vorhang geschlängelt hatten, vor dem Vortrag erst einen Kratzfuß.

      Griffe (笼抓). Flach geschwungen sahen sie aus wie Schlangen, kurz vor dem Schnellen nach vorne, um wie in Kiplings Geschichte Mungos (Rikki-Tikki-Tavi!) totzubeißen.

      Sie setzten sich aus zwei Teilen zusammen: einem geschwungenen Haken (钩) und vier, gewöhnlich doppelt geschwungenen »Beinen« (腿), in der Regel mit Schrauben am Käfig bzw. an der Kappe (盖布顶棚) befestigt. Haken und »Beine« waren meistens aus demselben Material: Messing (黄铜, »gelber Kupfer«) oder eine Kupfer-Nickel-Legierung (白铜, »weißer Kupfer«), schließlich Rotkupfer (红铜) und ein buntes Allerlei aus »rotem«, »gelbem« und »weißem« Kupfer (三镶铜), weiter Stahl (钢) und schließlich Eisen (铁) – wie auch bei Kappen eigentlich die praktischste, zweckmäßigste und eleganteste Wahl. Drittklassige Käfige, die Kindern gehörten, die wild damit herumschwenkten, oder armen Leuten, denen Besseres unerschwinglich war, hatten Griffe aus roh zusammengedrehten Eisendrähten (铁丝). Bei Drosselkäfigen waren Haken (Griff) aus Metall, »Beine« dagegen aus Bambus – besonders stabile Konstruktionen, da Käfige für Drosseln beim Ausführen der Vögel im Takt der Schritte schwungvoll nach vorne geschwenkt werden mussten. Um sie solide und strapazierfähig zu machen, waren Griff und Beine oft durch Zwischenstücke miteinander verbunden: ein sich nach oben verjüngender Sockel, ein knaufartig abgerundetes Vieleck, zwei aufeinandergetürmte wasserkastanienplatte (荸荠扁) Knollen etc.

      Betuchte Kenner ließen ihre Griffkonstruktionen in der kaiser­lichen Hofmanufaktur (内务府造办处) herstellen, Unikate, die nach dem Sturz der Dynastie zu Liebhaberpreisen gehandelt wurden. Eine Spezialität genoss einen nahezu legendären Ruf: Griffe aus sogenanntem Mokume (本目金, »Métaux forgés«), einer Legierung von Gold, Silber, Kupfer, Eisen und anderen Metallen, die nach einem Geheimverfahren derartig miteinander verschmolzen wurden, dass jede Komponente nur für sich patinierte und die Mischung gemasertem Holz glich. Die raren und aus dem Rahmen fallenden Stücke kosteten ein Vermögen.

      Ein Paar von ihnen machte auf eine bizarre Weise Geschichte: Der vormalige Direktor der Hofmanufaktur hatte vor seiner Entlassung, die er übrigens einer Indiskretion der Kanonenfirma Krupp zu verdanken hatte, zwei dieser Exemplare dem opiumsüchtigen kaiserlichen Prinzen Zaiyi (载漪) zum Geschenk gemacht. Dieser, nicht nur nach Opium süchtig, sondern auch nach Pralinen, die seine Konkubinen ihm bei Imbeck (Kierulff), einem deutschen Warenhaus im Pekinger Gesandtschaftsviertel besorgten, war nicht nur ein verschworener Feind des Westens, General der »Tigergotttruppen« (虎神营), sondern auch ein bekannter Lerchenliebhaber, der seine Lieblinge überallhin mitzunehmen pflegte. Nach der Niederschlagung des Boxeraufstandes, für dessen Ausbruch er von den Barbaren mitverantwortlich gemacht worden war, hatte ihn die Kaiserinwitwe ins Exil nach Urumtschi (乌鲁木齐) geschickt. In den damaligen Wirren und Unruhen, die allmählich auch in das Innere des Landes vorgedrungen waren, verloren sich auf dem Weg ins ferne Turkestan seine Spuren. Verschluckt vom heißen Sand der Gobi wie andere vor und nach ihm? Einer der beiden Käfige, die er mitgenommen hatte – anhand einer eingravierten Inschrift auf dem Mokume-Griff eindeutig als sein Eigentum identifiziert –, fand sich nach dem Tod der Kaiserinwitwe zusammen mit einem Koffer voller verschimmelter Pralinen in einem Gasthof in Kalgan (张家口), von wo er zu seiner letzten Reise aufgebrochen war: der Eingangspforte zur Mongolei und Heimat der tanzenden Lerchen (hierzu später mehr). Der Fund erregte deshalb Aufsehen, weil man in dem Koffer das Tagebuch des Prinzen fand, aus dem, verklebt und verschmiert von Pralinenfüllungen, hervorging, dass es die Kaiserinwitwe selbst gewesen war, die ihm höchstpersönlich den Befehl zum Angriff auf das Gesandtschaftsviertel und zur Ermordung des deutschen Gesandten von Ketteler gegeben hatte – hinterher von ihr immer wieder vehement in Abrede gestellt.

      Die Lüge war ihr deshalb so leichtgefallen, weil sie genau wusste, dass der Empfänger dieses Befehls und einziger Zeuge nicht mehr am Leben war und sie deshalb nicht Lügen strafen konnte. Sie konnte sich deshalb so sicher sein, weil sie ihn und seine Begleiter in Kalgan hatte ermorden lassen. Die Eskorte des Prinzen bestand aus wenigen Gefolgsleuten, die mongolischen Karawanenführer kannten die Gobi und ihre Pfade, Oasen und Wasserstellen wie ihre Westentasche. Keiner von ihnen tauchte jemals wieder auf. Was noch merkwürdiger war: Der zweite Käfig fand sich nach dem Ende der Dynastie in einem Abstellraum der Verbotenen Stadt. Merkwürdig deshalb, weil der »Tigergottgeneral« auch ihn auf seine Reise in den Westen mitgenommen hatte, wie aus einer Fotografie hervorging, die ihn mit beiden Käfigen vor den Toren von Kalgan zeigten: Die feingemaserten Mokume-Griffe waren deutlich zu erkennen.

      Der Boxeraufstand und die Ermordung Kettelers gelten auch heute noch als Wendepunkte der chinesischen Geschichte. Die Regierung macht von ihnen zur patriotischen Einstimmung Gebrauch, vor allem in Filmen. In meinen ersten Jahren in China gab es außer Experten nur wenige Ausländer, mit der mir nicht unwillkommenen Folge, dass ich regelmäßig vom Sprachenamt, wo ich vor meinem Wörterbuch saß, für Filmaunahmen ausgeliehen wurde (Diener in der italienischen Gesandtschaft der zwanziger Jahre, Vertreter der Heilsarmee mit Kapelle, Flaneur mit Dackel auf dem Bund in Shanghai etc.) – Komparse wie auch mein Großonkel Paulchen in Macao. Einmal war es ein Film über den Boxeraufstand gewesen. Für die Dreharbeiten waren außer mir – Ketteler kurz vor seiner Ermordung – als Gesandtschaftswachen vier Halbchinesen engagiert worden. Alle vier hatten deutsche Väter gehabt, die nach dem Krieg repatriiert worden waren, deutsch geblieben waren die Vornamen und eine dahintersteckende unbestimmte Sehnsucht nach Heimat: Hans, Karl, Heinrich und Josef, stellten sie sich mir vor, deutsche Allerweltsnamen, Karl war ihr Anführer. Trotz der martialischen Kostümierung (Pickelhauben, Schnurrbärte) sanfte und fügsame Wesen, die ein Leben am Rande der Gesellschaft geführt hatten. Schon der Gedanke an ihr Schicksal in der Kulturrevolution machte einem das Herz schwer.

      Die Szene: nach einer Audienz im Zongli Yamen (总理衙门), dem Außenamt des Kaiserreiches, trat ich in ihrer Begleitung, eine gewichtige Aktentasche in der Hand, durch das Tor des Amtes und blieb dort für einen Augenblick stehen.

      Schnitt.

76

      Die Szene wurde mehrere Male gedreht. Als sie für gut befunden wurde, lösten sich die vier von meiner Seite und postierten sich zu einem Erinnerungsfoto um den Regisseur – der in der nächsten Szene meinen (Kettelers) Mörder darstellen würde –, ohne mich, den sie kurz vorher ehrerbietig durch


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