Mein Walk of Fame. Dieter Wahl

Mein Walk of Fame - Dieter Wahl


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Piaf-Chanson „La vie en rose“ einen lokalen Gesangswettbewerb gewonnen – und damit eine Einladung nach Paris zum Vorsingen für die Teilnahme an einem musikalischen Wettstreit in der überaus populären Fernsehsendung „Télé Dimanche“ – „Tele-Sonntag“. Als sie sich dafür qualifiziert hatte, war das wie eine Freikarte zum Weg nach oben.

      Sie könne sich, sagte die alte Dame, noch gut darauf besinnen, wie die gesamte Familie zu Mireilles 19. Geburtstag ihr sauer Erspartes zusammengelegt habe, um ihr auch diese zweite Reise nach Paris zu ermöglichen. Diesmal ging es um keinen Eignungstest, sondern um alles oder nichts. Würde sie in der landesweiten Live-Übertragung vor einem Millionenpublikum bestehen können? Als die Familie Mathieu die älteste Tochter an einem Sonntag zum Bahnhof begleitete, war an das Lied vom Sonntag in Avignon noch nicht zu denken. Vielleicht aber hat Mireille eben diesen „Telesonntag“ noch einmal durchlebt, wenn sie später die Zeilen gesungen hat:

      „An einem Sonntag in Avignon,

      da kommt die Liebe nach Avignon.

      Da ist die Einsamkeit vorbei

      oh c’est si bon, oh c’est si bon

      und es geschieht so allerlei

      an einem Sonntag in Avignon.“

      Ja, an diesem denkwürdigen Sonntag ist in der Tat so allerlei geschehen. Das Ereignis habe sich in der Stadt wie ein Lauffeuer herumgesprochen, erinnerte sich die alte Dame. Da sie selbst noch keinen Fernseher besessen habe, sei sie damals zu Bekannten gegangen, um diese Premiere nicht zu verpassen. Ganz Avignon saß vor der Röhre und erlebte mit, was auf einer Showbühne in der Landeshauptstadt passierte. Da trat die junge Mitbürgerin Mireille vor die Livekameras, um sich in der Sendung „Le jeu de la Chance“ – zu Deutsch „Glücksspiel“ – gegen einen Schwarm von Mitbewerberinnen zu behaupten. Avignon drückte alle verfügbaren Daumen. Es half.

      Wir folgten einer einladenden Geste der alten Dame, sie vom Treppenhaus in die gute Stube zu begleiten. Dort kramte sie in einer Schublade und legte ein Blatt der Pariser Tageszeitung „France Soir“ vom 22. November 1965 auf den Tisch. Es war die Titelseite mit dem Schwarz-Weiß-Foto einer mit dem Schmelz der Jugend beschenkten Frau. Auffällig sofort eine brave Pony-Frisur und eine Halskette mit Kreuz. Vor ihr ein Mikrofon als einziges Requisit, zu erahnen außerhalb des Bildes eine Fernsehkamera. Im Text darunter lese ich: „In einem schwarzen Kleid hat Mireille Mathieu, 19 Jahre und 1,50 Meter groß, gestern die Zuschauer von ‚Télé Dimanche‘ mit dem Lied ‚Jezabel‘ und einer grandiosen Stimme beeindruckt.“

      Mit diesem einen Song ihres großen Vorbildes Edith Piaf und ihrer intensiven Vortragsweise überzeugte sie, wurde sie zur Siegerin gekürt, nachdem auch ihre stärkste Konkurrentin, die beliebte Chansonette Georgette Lemaire, kapituliert hatte. Mireille wurde schlagartig bekannt, bekam plötzlich Fanpost aus Calais im hohen Norden Frankreichs ebenso wie aus Marseille im tiefsten Süden. Damit begann am Sonntag, dem 21. November 1965, eine der steilsten Karrieren in der internationalen Unterhaltungskunst. Mireille ließ zwar später ihre Körpergröße von 1,50 Meter auf offiziell 1,53 Meter korrigieren, was aber nicht nötig gewesen wäre. Denn dass sie zu einer der Größten ihrer Showbranche wurde, haben selbst ihre ärgsten Kritiker nie angezweifelt.

      Wir bedankten uns bei der alten Dame und rollten mit dem Auto die 700 Kilometer von Avignon nach Paris zurück, die Mireille einst mit der Bahn und viel Herzklopfen und Lampenfieber gefahren war. Im Gepäck Filmrollen mit originellem Stadt-Kolorit von Avignon. Das Drumherum hatten wir also im Kasten. Nun fehlten nur noch Aufnahmen mit ihr selbst. Und die kamen schneller als gedacht.

      Ein Konzert im Zeitraffer

      Auf meinem Schreibtisch finde ich die Notiz über einen Telefonanruf von Manager Johnny Stark. Er teilt in einem nüchternen Satz mit, dass Madame Mathieu uns morgen in den Pariser „Gabriel“-Fernsehstudios unweit von den Champs-Élysées erwarte. Eine zeitliche Punktlandung. Nun wird es ernst und ich bereite mich den ganzen Abend auf das Interview vor, während Eberhard schon wieder die Kameratechnik klarmacht.

      Anderentags sind wir pünktlich zur Stelle und platzen in eine Probe zu ihrer nächsten Abendgala. Johnny Stark empfängt uns, bittet um etwas Geduld und verfrachtet uns in eine hintere Stuhlreihe des Saales, während Mireille vorn in der knalligen Helligkeit von Bühnenspots einige Liedtöne ihres Mottos anstimmt: „Meine Welt ist die Musik.“ Sie diskutiert mit dem Regisseur, redet mit Assistenten und Aufnahmeleitern, Kameraleuten, Statisten und Technikern, prüft die Dekoration, macht Ton- und Stellproben, stets aufmerksam überwacht von ihrem Johnny, der im Beruf und Leben der Mathieu eine nicht wegzudenkende Rolle spielt.

      Der umtriebige Geist hatte sie Ende 1965 im Pariser Olympia-Theater erlebt und ihr enormes künstlerisches Potenzial erkannt. Seither war er immer an ihrer Seite – und, wie gemunkelt wurde, nicht nur als Manager. Zuvor schon hatte er Edith Piaf betreut und auch seine anderen Landsleute Yves Montand, Françoise Hardy, Johnny Hallyday und Sylvie Vartan zu internationalen Stars aufgebaut. Er hatte auch dafür gesorgt, dass sein neuer Schützling aus Avignon einen ersten Plattenvertrag bekam, schnell aus dem fremdbestimmten Schlagschatten der Piaf ins Rampenlicht einer breiten Öffentlichkeit trat und ein eigenständiges Repertoire bekam. Dabei halfen vor allem der Komponist und Musikproduzent Christian Bruhn und der Schlagertexter Georg Buschor. Das westdeutsche Kreativ-Team schneiderte der Mathieu rund hundert Lieder auf den Leib, von denen viele im Westberliner Ariola-Tonstudio produziert wurden. Dazu gehört auch ihr Hit „Hinter den Kulissen von Paris“. Da Deutsch damals für Mireille noch ein Wörterbuch mit sieben Siegeln war, orientierte sie sich sprachlich an Demonstrationsbändern, auf denen ihr Katja Ebstein den Text vorgesungen hatte. Nach Stunden endloser Geduld war die Tonaufnahme fertig. Entschädigt wurde die Mathieu mit vorderen Chart-Plätzen, mit denen sie 1969 den deutschsprachigen Raum eroberte.

      Nun sehe ich, wie die zierliche Musikantin aus Avignon auf der Studiobühne einige Musiktitel improvisiert. Andere spielt sie mit Gestik, Mimik und ihrer voluminösen, klangreinen Stimme von Anfang bis Ende durch, darunter ihr „Akropolis Adieu“, mit dem sie erstmals eine Plattenmillion erreichte. Sie schmilzt dahin bei ihrem größten kommerziellen Erfolg „La Paloma adé “, der sich ganze 27 Wochen in den deutschen Charts behauptete und auf Platz eins landete.

      Dass Monsieur Stark uns in die Warteschleife geschickt hat, empfinde ich nun eher als Gnade. Ich hätte in diesem Mäuschen-Modus gern ewig ausgeharrt. Denn so erleben wir in der einzigartigen Kurzfassung eines Mathieu-Konzertes eine gute halbe Stunde lang ihr damals schon breit gefächertes Repertoire und ich stelle mit Befriedigung fest, dass ich all ihre bisherigen großen Erfolge auf meinem „KB 100“ versammelt habe: „Martin“ und „Es geht mir gut, Chéri“ und „Ganz Paris ist ein Theater“, „Korsika“ und „Roma“, „Pariser Tango“ und „Der Zar und das Mädchen“, „Die Glocken von Notre-Dame“ und natürlich „Mon Crédo“ und „An einem Sonntag in Avignon“. Klassiker aus ihren Best-of-Alben.

      Dann muss ich mich revidieren, denn ein Hit von ihr fehlt in meiner Sammlung. Sie probiert einen mir unbekannten Song mit dem Titel „Kinder dieser Welt“. Es geht nicht um das gängige Klischee von Herz und Schmerz, sondern um das Recht aller Kinder für eine Zukunft ohne Angst und Krieg. Eine brandneue Produktion, wie ich später erfahre, gerade erst in Rillen gepresst. Nach der euphorisch vorgetragenen Hymne „Das Wunder aller Wunder ist die Liebe“ und den schwungvollen Rhythmen von „Hinter den Kulissen von Paris“ sind es nun leise, nachdenkliche Töne:

      „Kinder dieser Welt sollen nie mehr wieder Helden werden,

      Kinder weinen Tränen, die die Mächtigen versteh’n,

      wenn sie ihren Kindern in die Augen sehen.“

      Danach Verblüffendes. Als ich gerade zu der festen Überzeugung gekommen bin, dass die lebhaft vor den Kameras agierende Sängerin uns total vergessen hat, ruft sie ihren Partnern zu: „Pause. Ich arbeite jetzt mit den Ostdeutschen!“ Dann kommt sie ohne Zäsur in energiegeladener Eile schnurstracks auf uns zu, begrüßt uns liebenswürdig wie gute alte Bekannte und bittet uns in ihre Garderobe, einen engen Raum voller Schlichtheit, in dem ein Filmteam schon mal Platzangst bekommen kann. Eine Herausforderung


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