Mein Leben, mein Tod, meine Entscheidung. Edgar Dahl
der siebzehn deutschen Landesärztekammern drohen den Medizinern, die eine Beihilfe zur Selbsttötung leisten, mit strengen Sanktionen, die von einer Geldstrafe bis hin zum Entzug der Approbation reichen. Ihre Behauptung, dass eine Beihilfe zur Selbsttötung „unärztlich“ sei, beruht dabei auf tönernen Füßen. Wie ich zeigen werde, ist es an der Zeit, dass sich die Funktionäre der Ärztekammern endlich zu den Aufgaben der Medizin bekennen – zu denen neben der Verlängerung des Lebens nun einmal auch die Linderung des Leidens gehört! – und sich nicht länger hinter dem „Eid des Hippokrates“ verstecken sollten.
Das Kapitel „Wehret den Anfängen!“ beschäftigt sich mit der Befürchtung, dass eine Zulassung des ärztlich-assistierten Suizids katastrophale Folgen für unsere Gesellschaft haben werde. Die am häufigsten beschworene Gefahr besteht darin, dass aus dem Recht zu sterben unweigerlich eine Pflicht zu sterben werde. Wie sich insbesondere mit den Erfahrungen aus Oregon belegen lässt, entbehren diese Befürchtungen jeder Grundlage. Statt den Schutz des Lebens zu gefährden, wird eine Zulassung des ärztlich-assistierten Suizids den Schutz des Lebens sogar verstärken.
Im abschließenden Kapitel „Im Zweifel für die Freiheit!“ schlage ich eine am Oregoner „Death With Dignity Act“ angelehnte Regelung des ärztlich-assistierten Suizids für Deutschland vor.
Edgar Dahl Gießen, im Frühjahr 2018
Wenn der eine Tod unter Qualen,
der andere aber einfach und leicht sich vollzieht,
warum sollte diesem
nicht die Hand nachhelfen dürfen?
Seneca
„Stirb zur rechten Zeit!“
Eine kurze Geschichte des Freitods
In seinem Buch „Menschliches, Allzumenschliches“ schrieb der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche: „Warum sollte es für einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttötung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttötung zu sterben pflegten.“
Wie weithin bekannt, haben die Griechen und Römer den Suizid tatsächlich mit ganz anderen Augen betrachtet. Heute ist es kaum noch vorstellbar, doch im antiken Athen konnte ein Mann, der auf Grund unerträglicher Leiden seinem Leben ein Ende setzen wollte, geradewegs zum „Rat der 600“ gehen und sich dort den berühmten „Schierlingsbecher“ aushändigen lassen. Der Staat hielt jederzeit einen genügend großen Vorrat an Gift bereit, mit dessen Hilfe sich seine Bürger einem als unerträglich oder auch nur als unwürdig empfundenen Leben entziehen konnten.
In der Antike waren es vor allem zwei philosophische Schulen, die sich für ein Recht auf den selbstbestimmten Tod einsetzten: der Epikureismus und der Stoizismus. Zu den Epikureern zählten neben seinem Namensgeber Epikur vor allem Horaz und Lukrez. Zu den Stoikern zählten dagegen Zenon, Seneca und Marc Aurel.
Beide Schulen sind nicht nur zur selben Zeit und am selben Ort entstanden, nämlich im Athen des 3. vorchristlichen Jahrhunderts, sondern hatten auch ein und dasselbe Ziel: Sie wollten den Menschen die „Eudaimonia“, das irdische Lebensglück, lehren. Ohne die Menschen auf ein zweifelhaftes Jenseits zu vertrösten, versuchten sie, ihnen ein Rezept dafür zu geben, wie man auch im Diesseits ein sinnvolles und erfülltes Leben führen kann. Das Rezept der Epikureer lautete „Ataraxia“, das der Stoiker „Logos“.
Mit der Ataraxia ist die Seelenruhe gemeint. Nach den Epikureern sollen die Menschen ein möglichst bescheidenes und zurückgezogenes Leben führen, indem sie sich dem Lärm der Welt entziehen, ihre Gelüste nach Ehre, Ruhm und Reichtum bezähmen und sich mit einfachen Genüssen wie intellektuell anregenden Gesprächen mit guten Freunden begnügen. Wenn jedoch, wie es insbesondere durch körperliches Leid und seelische Pein geschehen kann, die Seelenruhe unwiderruflich gestört wird und die Ataraxia für immer unerreichbar bleibt, darf der Mensch durchaus Hand an sich legen. Neben dem „Carpe diem“ oder „Genieße den Tag“ des Horaz gehört daher das Diktum „Es gibt keinen Zwang zu leben!“ wohl zu den berühmtesten Sentenzen der Epikureer.
Mit dem Logos ist die Vernunft gemeint. Nach den Stoikern sollen die Menschen ein von Vernunft, Freiheit und Würde geprägtes Leben führen. Ein solches Leben setzt etwas Ähnliches wie die Ataraxia, nämlich die Apatheia, voraus, die man am besten mit der sprichwörtlich gewordenen „stoischen Ruhe“ oder der „stoischen Gelassenheit“ übersetzen kann.
Anders als die Epikureer, die der Selbstgenügsamkeit das Wort redeten und der Devise „Lebe im Verborgenen!“ folgten, setzten die Stoiker ihre Kraft oft in den Dienst des Staates. Mark Aurel, der in den Jahren von 161 bis 180 Kaiser des Römischen Reiches war und sich selbst als den „ersten Diener des Staates“ bezeichnete, beteuerte wieder und wieder: „Die Menschen sind füreinander da.“
Doch wie die Epikureer, so waren auch die Stoiker der Ansicht, dass sich das Leben nur lohnt, solange man in der Lage ist, seiner Bestimmung zu folgen. Wenn ein Mensch unter so großen körperlichen Schmerzen oder so starken seelischen Qualen leidet, dass er kein vernunftgemäßes Leben mehr zu führen vermag, durfte er seine Existenz jederzeit beenden. So schrieb etwa Seneca:
„Wenn der Körper den Dienst versagt, was sollte dann den Leidenden davon abhalten, der Seele ihre Freiheit zu geben? Unter Umständen müsste man sich noch eher dazu entschließen als es sein muss, um nicht, wenn es sein muss, unfähig dazu zu sein. Ich werde auf das Greisenalter nicht verzichten, wenn es mich mir ganz bewahrt. Aber wenn es Miene macht, an meinem Geiste zu rütteln, wenn es mir nicht das Leben, sondern nur das leibliche Dasein übriglässt, dann werde ich den Sprung nicht scheuen, um herauszukommen aus dieser morschen und zusammensinkenden Behausung.“
Wie im alten deutschen Sprichwort „Wer sich ertränken will, findet überall Wasser“, weist auch Seneca auf die Vielzahl der Wege hin, um einem nur noch zur Last gewordenen Dasein jederzeit entfliehen zu können: „Der Ausgang aus dem Leben ist dir leichter gemacht als der Eingang. Sieh dich nur um, überall kannst du dein Elend endigen. Siehst du jene steile Stelle? Dort hinab geht’s in die Freiheit! Siehst du jenes Meer, jenen Fluss, jenen Brunnen? Auf ihrem Grund wohnt die Freiheit! Dein Hals, deine Kehle, dein Herz: lauter Wege, der Sklaverei zu entrinnen. Sind dir diese Auswege zu qualvoll, fordern sie zu viel Mut und Kraft, fragst du nach dem leichtesten Weg zur Freiheit: Jede Ader deines Körpers ist ein solcher Weg!“
Ein oft übersehener, aber doch sehr bedeutsamer Unterschied zwischen dem Epikureismus und dem Stoizismus war der, dass es bei ersterem nur ein „Recht zu sterben“, bei letzterem aber geradezu eine „Pflicht zu sterben“ gab. Dadurch dass die Stoiker neben der Vernunft auch der Freiheit und der Würde einen so außerordentlich hohen Wert beimaßen, sahen sie eine Vielzahl von Umständen, die es den Menschen regelrecht gebieten konnten, aus dem Leben zu scheiden. Schon ein Leben in Armut oder ein Leben in Unfreiheit waren nach Ansicht des Stoizismus nicht mehr lebenswert.
Die Geschichte der Antike ist denn auch voll von Beispielen, in denen Menschen in stoischer Manier ihr Leben ein Ende setzten. Lief eine griechische Polis in kriegerischen Auseinandersetzungen Gefahr, von einem übermächtigen Gegner erobert zu werden, stürzten sich die Männer und Frauen lieber in den Tod als ihrer Freiheit und Würde verlustig zu gehen und ein Leben in Schimpf und Schande zu leben. Denn nach dem Stoizismus war selbst „der schmutzigste Tod der saubersten Knechtschaft vorzuziehen.“
Zum stoischen Ethos gehörte aber nicht nur die Pflicht zu sterben, sondern auch die Pflicht, auf die würdevollste Art zu sterben. Vor einem Freitod durch Gift hatte man beispielsweise weit weniger Respekt als vor einem Freitod durch den Venenschnitt. Für den Tod durch Erhängen hatte man nur Verachtung übrig. Wirkliche Bewunderung fand dagegen der Tod durch freiwilliges Verhungern.
Anders als Nietzsche in seiner zu Beginn dieses Kapitels zitierten Bemerkung suggeriert, herrschte in der Antike aber nie wirkliche Einigkeit über die