Mein Leben, mein Tod, meine Entscheidung. Edgar Dahl

Mein Leben, mein Tod, meine Entscheidung - Edgar Dahl


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in dem unter Kaiser Konstantin erstarkten Christentum große Resonanz.

      Kaum zur Macht gekommen, berief die katholische Kirche ein Konzil nach dem anderen ein, um den nun als „Selbstmörder“ gebrandmarkten Suizidenten in Acht und Bann zu tun. Das Konzil von Arles erklärte im Jahre 452, dass Menschen, die ihrem Leben ein Ende setzen, vom Teufel besessen seien. Auf dem Konzil von Braga im Jahre 563 wurde beschlossen, dass Selbstmördern das kirchliche Begräbnis zu verweigern sei. In Toledo wurden 693 die Fürbittgebete für Selbstmörder im Gottesdienst verboten. Und Menschen, die sich eines Selbstmordversuchs schuldig gemacht hatten, wurden fortan für zwei Monate aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen und das Sakrament der Kommunion verwehrt.

      Nach und nach übernahmen auch die weltlichen Gesetzgeber die kanonischen Strafen der katholischen Kirche. So wurden im Mittelalter Selbstmörder sogar nachträglich „hingerichtet“. In vielen Ortschaften Europas wurde der Leichnam an einem Baum aufgehängt oder vor die Tore der Stadt geschleift, um ihn den Hunden und Vögeln zum Fraß zu überlassen. In München wurde der Körper eines Selbstmörders in einem Fass in die Isar geworfen. In Paris zerrte man den Leichnam mit dem Gesicht nach unten über das Kopfsteinpflaster und hängte ihn am Richtplatz an den Füßen auf. Am weitesten verbreitet war jedoch das Begraben an einer Weggabelung, wobei man dem Leichnam einen Holzpfahl in die Brust schlug, um sicher zu stellen, dass der Tote die Lebenden nicht als Geist heimsucht.

      In seiner „Constitutio Criminalis Carolina“ oder „Peinlichen Halsgerichtsordnung“ von 1532 verfügte Kaiser Karl V. in Paragraph 135 die Konfiskation aller Güter eines Selbstmörders. Nur für den Fall, dass der „Täter“ nachweislich unzurechnungsfähig gewesen war, konnte der Besitz in die Hände der rechtmäßigen Erben fallen.

      Mit der Renaissance erlebte auch die Philosophie der Antike eine Wiedergeburt. Obgleich man nicht davon sprechen kann, dass auch die Lehren des Epikureismus und des Stoizismus sogleich eine Wiederauferstehung erlangten, machte sich nun doch zumindest wieder ein gewisses Verständnis für die Menschen breit, die unter dem „taedium vitae“, also dem Lebensüberdruss, litten. So schrieb etwa der Humanist Erasmus von Rotterdam in seinem 1509 geschriebenem „Lob der Torheit“:

      „Schmerzvoll und schmutzig ist der Sterblichen Geburt, nur mit vieler Mühe werden sie großgezogen, Unbilden haben sie in der Kindheit zu überstehen, die Jugend bringt ihnen große Mühen, das Alter ist eine stete Quelle von Beschwerden – und eine Härte ist der Tod. Und während des ganzen Lebens, welche Fülle von Krankheiten, welche Unzahl von Zufälligkeiten und Unannehmlichkeiten! Keine Freude, die nicht durch Kummer und Sorge geprägt wäre! Wer aber waren vornehmlich diejenigen, die sich aus Lebensüberdruss selbst den Tod gaben? Waren es nicht die Freunde der Weisheit?“

      Der Humanist Thomus Morus ging sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter, als er in seinem 1516 erschienenen Buch „Utopia“ das Bild einer gerechten und auf den Leitsätzen der Vernunft beruhenden Republik beschrieb, die sich auch der Sterbenden annahm: „Indessen wenn die Krankheit nicht nur unheilbar ist, sondern auch noch den Kranken beständig quält und martert, dann reden die Priester ihm zu, er möge bedenken, dass er allen Berufspflichten seines Lebens nicht mehr gewachsen, anderen zur Last fallen und sich selber schwer erträglich sei und somit seinen eigenen Tod bereits überlebe; deshalb möge er nicht darauf bestehen, die Seuche und Ansteckung noch weiter zu nähren und nicht zaudern, in den Tod zu gehen, da ihm das Leben doch nur eine Qual sei; somit möge er getrost und guter Hoffnung sich selbst aus diesem schmerzensreichen Leben wie aus einem Kerker oder einer Folter befreien oder willig gestatten, dass andere ihn der Qual entrissen. Daran werde er weise handeln, da er durch den Tod ja nicht die Freuden, sondern nur die Marter des Lebens abkürze; zugleich aber werde es eine rechtschaffene und fromme Tat sein, da er damit nur dem Rat der Priester gehorche, die Gottes Willen auslegen. Wen sie mit diesen Gründen überzeugen, der endet sein Leben freiwillig durch Fasten oder findet in der Betäubung ohne eine Todesempfindung seine Erlösung. Gegen seinen Willen aber schaffen sie niemanden beiseite, vernachlässigen auch um der Weigerung willen in keiner Weise die Pflege des Kranken.“

      Etwa zur selben Zeit warf auch der französische Humanist und Essayist Michel de Montaigne die Frage auf, ob „unerträglicher Schmerz und die Befürchtung eines schlimmen Todes nicht die verzeihlichsten Beweggründe für eine Selbstentleibung“ seien: „Den Tod, die Armut und den Schmerz halten wir für unsere Hauptfeinde. Doch wer wüsste nicht, dass dieser Tod, den die einen den schrecklichsten aller Schrecken nennen, von anderen der einzige Hafen genannt wird, der ihnen vor den Stürmen des Lebens Zuflucht gewährt? Das höchste Gut der Natur! Der einzige Hort unserer Freiheit! Das allen zugängliche und prompte Heilmittel gegen alle Übel!“

      Zu einer wahren Auflehnung gegen das Verbot der Selbsttötung kam es aber erst durch die Aufklärung. Montesquieu gehörte zu den ersten, die die Behandlung der „Selbstmörder“ durch die geistlichen und weltlichen Gerichte anprangerten: „Die europäischen Gesetze“, schrieb er, „sind erbarmungslos gegen die Selbstmörder. Man schlägt sie sozusagen noch einmal tot, man schleift sie durch den Schmutz der Straßen, man behaftet sie mit dem Makel der Ehrlosigkeit, man zieht ihre Güter ein. Es scheint mir, dass diese Gesetze ungerecht sind. Wenn ich von Schmerz, Elend und Verachtung erdrückt werde, warum will man mich hindern, meinen Leiden ein Ende zu setzen, und warum beraubt man mich eines Heilmittels, das in meinen Händen ist?“

      In seinem 1764 erschienenen Buch „Von den Verbrechen und von den Strafen“ bezeichnete der italienische Rechtsgelehrte Cesare Beccaria die Bestrafung des Leichnams von Selbstmördern als lächerlich. „Die Richter“, meinte er, „sollten wohl wissen, dass der Tote dabei eben so viel empfindet, als wenn man eine Säule peitschen wollte.“ Zudem erklärte er die Schändung der Leiche für barbarisch und die Konfiskation der Güter als geradezu rechtswidrig. Überhaupt sollte der Staat nicht vermeintliche „Sünden gegen sich selbst“, sondern nur wirkliche „Verbrechen gegen andere“ bestrafen.

      Auch Voltaire setzte sich dafür ein, dass eine aufgeklärte Gesellschaft es seinen Bürgern gestatten sollte, ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzen, wenn sie es als unerträglich empfinden. Als philosophischem Unterweiser Friedrich des Großen gelang es Voltaire sogar, den Preußenkönig 1752 dazu zu bewegen, die Selbsttötung als Straftat aus dem Gesetzbuch zu streichen. Unter dem Einfluss von Jean-Jacques Rouseau, Denis Diderot und Henry Thiry d’Holbach verschwand 1791 auch in Frankreich der Paragraph, der den Suizid bisher unter Strafe stellte.

      Mit der Aufklärung begann nicht nur der Kampf um die Anerkennung allgemeiner Menschenrechte, sondern auch um die Trennung von Staat und Kirche. Moralische und rechtliche Fragen sollten nicht länger durch die vermeintliche Offenbarung der Bibel, sondern durch das allgegenwärtige Licht der Vernunft gelöst werden.

      Insbesondere David Hume ist es zu verdanken, dass die antiken Lehren des Epikureismus und des Stoizismus neue Aufmerksamkeit fanden. Bei Arthur Schopenhauer, der es nicht nur für verständlich, sondern auch für durchaus vernünftig hielt, seinem Dasein ein Ende zu bereiten, „wenn die Bedrängnisse des Lebens die Bedrängnisse des Todes überwiegen“, klingen deutlich epikureische Gedanken an. Bei Friedrich Nietzsche, klingen dagegen sogar stoische Gedanken an, wenn er den „Tod zur rechten Zeit“ preist: „Den freien Tod, der zu mir kommt, wenn ich will!“

      Was den freiwilligen Tod betrifft:

      Ich sehe in ihm weder eine Sünde noch eine

      Feigheit.

      Aber ich halte den Gedanken,

      dass dieser Ausweg uns offensteht,

      für eine gute Hilfe

      im Bestehen des Lebens und all seiner

      Bedrängnisse.

      Hermann Hesse

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