Aus dem Leben listiger Großmütter. Ludwig Bröcker
war dunkel geworden. Lisbeth nahm das Angebot ihrer Freunde, sie bis an ihre Haustür zu begleiten, gerne an.
Wie erwartet, lag das Stöckchen vor der Tür noch an derselben Stelle. Sie betrat das Haus und lauschte. Als nichts zu hören war, machte sie Licht und öffnete leise die Tür zur Kellertreppe. Jetzt hörte sie doch etwas, nämlich: „Mann, Mann, Mann.“
„Alles im grünen Bereich“, hätte Helmut jetzt gesagt, andererseits, der gute Helmut wäre wohl niemals in die Situation geraten, in der sie sich befand.
Das Telefonat mit der richtigen Lena wirkte wie Balsam auf die Seele, wenn es erlaubt ist, dieses Klischee zu verwenden. Lena war schon von ihrem Vater informiert, so brauchte Lisbeth nur wenige Worte, um ihre Enkeltochter vollends zu beruhigen. Aber dann wollte Lena ganz genau wissen, wie sich alles zugetragen habe und konnte nicht oft genug die Großmama bewundern für ihren Mut. „Ach, Kindchen“, sagte Lisbeth, „Leider sind uns ja die Gauner nicht ins Netz gefallen.“
„Hast du noch Angst vor denen? Soll ich zu dir kommen?“
Schon wieder eine brenzlige Situation.
„Das freut mich zwar immer, aber du hast doch sicher genug mit deinem Studium zu tun.“
„Das kannst du laut sagen“, meinte Lena.
Danach gingen noch viele liebe Worte hin und her, ehe die Hörer aufgelegt wurden.
Lisbeth ließ sich in einen Sessel fallen. Mit wem könnte sie über die nächsten Schritte nachdenken? Wer weiß, was hier im Hause vor sich geht? Natürlich, der Kerl da unten im Gefängnis: Früher oder später müssten sie gemeinsam einen Plan entwerfen: Eine absurde Idee. Nach einer Weile war Lisbeth eingenickt.
Sie steht am Fenster und hört es rufen: Hier ist die Polizei! Frau Ewald, geben sie auf und lassen sie die Geisel frei. Sie aber schreit: Ich denke nicht daran, bevor er mir verrät, wo er Lena versteckt hält. Die Polizei rückt näher, die Uniformen sind blaue Arbeitsanzüge vom Baumarkt, und da erkennt sie die beiden Polizisten: Helmut und Oskar.
Lisbeth schreckte auf, sie musste sich etwas sammeln, und dann entschloss sie sich zu einigen praktischen Maßnahmen: Sie suchte ein Spannlaken und einen Schlafanzug heraus und stieg damit zum Gefängnis.
Durch das Fensterchen sah sie die geballte beleidigte Frustration, auf der Truhe sitzend, bevor sie das Spannlaken hindurch stopfte, in aller Vorsicht, damit nicht ein flinker Griff von innen ihre Hände erfassen könnte.
„Würden sie bitte die Schaumstoffmatratze beziehen. Da wollen ja auch noch andere drauf schlafen.“
„Andere? Sperren sie hier regelmäßig Leute ein?“
„Schon möglich, aber ich meinte eigentlich Gäste, die oben wohnen, und so viel ein- und ausgehen dürfen, wie sie wollen.“
„Sie sind total verrückt, wie lange soll das so weiter gehen?“
„Das müssen wir bei Gelegenheit besprechen. Ach, und hier habe ich noch einen Schlafanzug von meinem Mann. Vielleicht etwas weit, aber feinste Baumwolle. Socken und Unterwäsche werde ich noch besorgen. Ach ja, Abendbrot um 19 Uhr.“
„Was für ein Irrsinn! Außerdem habe ich keine Uhr.“
„Nehmen sie doch ihr Handy.“
„Alle“, schimpfte er, während Lisbeth wieder nach oben stieg. Sie fand eine längliche Schachtel, machte ein paar Stullen fertig und legte eine kleine Flasche mit Mineralwasser bereit. Um Punkt 19 Uhr erschien sie wieder vor dem Gefängnis, sie rief: „Abendbrot“, und schmiss die Wasserflasche hinein. Wie zu erwarten, wollte der Gefangene die Stullen nicht entgegennehmen. Lisbeth hatte vorsorglich eine Tüte mitgenommen. Sie verpackte die Stullen darin. Dann nahm die Tüte denselben Weg wie die Wasserflasche.
„Für heute habe ich genug von ihnen“, sagte sie noch, „um 10 Uhr ist Bettruhe. Frühstück gibt es morgen um acht.“
Sie wuselte noch ein wenig im Haushalt, nichts von Dringlichkeit, wie man es manchmal tut, wenn man einem größeren Ereignis entgegensieht, einer Einladung einer Opernaufführung oder so ähnlich: Man ist geduscht, frisiert oder rasiert, je nachdem, die Kleidung liegt schon bereit, aber es bleiben noch anderthalb Stunden. Sie hatte keine Lust, zu lesen, Musik zu hören, Klavier zu spielen, oder gar den Fernseher anzustellen. Ab und zu lauschte sie an der Kellertreppe, es war aber nichts Verdächtiges zu hören. Um 10 Uhr ging sie zum Sicherungskasten und knipste den Stromkreis für die Kellerbeleuchtung aus.
„Heu. heu, heu“, drang es aus dem Keller. Sie kümmerte sich nicht darum.
Um Mitternacht war Lisbeth noch nicht eingeschlafen. Sie wälzte sich im Bett hin und her, drehte mehrmals die Decke um, weil es ihr mal zu warm und mal zu kalt war, und regelmäßig lauschte sie im Flur oder schaute aus dem Fenster, ob vielleicht irgendwelche Gestalten am Haus herumlungerten. Sie wunderte sich auch über sich selbst: Wie konnte nur alles so kommen. Hätte sie doch den Umschlag gleich in der Hand gehabt, als die beiden Pseudobeamten auftauchten.
Sie hätte ihn übergeben mit der Bitte, diesen ungeöffnet zur Bank zu bringen. Die Enttäuschung der beiden hätte sie noch auskosten können, bevor sie die Tür zugeknallt hätte. Ja, hätte, hätte, hätte.
Was für eine verrückte Idee, die Schaumstoffmatratze in den Keller zu schaffen. Andererseits: „Hier spricht die Polizei“, hatte er gesagt, wer soll denn darauf reinfallen? Das ist ja geradezu beleidigend, so zu sagen, dummer als die Polizei erlaubt. Dazu noch dieses platte: „Hol schon den Wagen.“
Lisbeth erinnerte sich an Konrads Studium in Münster: Germanistik und noch so allerlei, ach, wie lang ist es her. Er sollte eine Seminararbeit schreiben zum Thema: Was kann die Lyrik zur Identität eines Landes beitragen? So, oder so ähnlich. Das Wort Leitkultur war damals noch nicht geboren. Konrad war totunglücklich damit, und Helmut, der immerhin ein gestandener Studienrat war, konnte ihm auch nicht helfen: Was der meinte, war alles nicht schräg genug. Bei dem Gedanken musste Lisbeth etwas schmunzeln und vergaß dabei fast ihr Problem. Dann hatte Konrad eine geniale Idee: Er schrieb eine durchnummerierte Liste von Zitaten auf eine große Tafel, stellte die auf dem Prinzipalmarkt auf und verteilte Handzettel. Dort konnte das Publikum aufschreiben, wer wohl die Urheber dieser Zitate wären. Lisbeth konnte sich noch an einige Nummern aus der Liste erinnern, weil Konrad sie mit seinem Vater ausführlich und vielfach hin- und her diskutiert hatte. Auf die erste und die letzte Nummer wollte ihr Sohn nicht verzichten:
Warum rülpset und furzet ihr nicht?
Er ist nur halb zu sehen…
Da stand der alte Zecher…
Das ist der Mensch in seinem Wahn.
Alte Zeiten, linde Trauer…
Uralte Wasser steigen…
Was stört mich Weib, was stört mich Kind?
Nicht sein kann, was nicht sein darf.
Du musst dein Leben ändern.
Die Götter halten die Waage…
Ein Suahelischnurrbarthaar..
Harry, hol schon mal den Wagen.
Das Ergebnis der Erhebung war, dass fast alle das letzte Zitat zuordnen konnten, 30 Prozent auch das erste (was ungefähr dem Prozentsatz der Lutheraner in Münster entsprach), aber dazwischen war die Trefferrate ziemlich gering. Immerhin, Konrad war der King mit seiner Seminararbeit. Es wurde noch diskutiert, ob das erste Zitat nicht nur Legende wäre, und auch das letzte wäre in genau der Form nur sehr selten zur Anwendung gekommen. Der Professor indessen dozierte, dass Legende und Wirklichkeit nicht zu trennen seien, das läge schon in dem Wort Wirklichkeit, so zu sagen, das Wirkmächtige sei entscheidend, was wiederum ein allgemeines Gähnen im Auditorium hervorrief, denn das hatte er schon öfter gesagt, ebenso wie die Professoren für Theologie, Philosophie und die Professorin für neue Geschichte.
Die Erinnerungen berührten sie sanft. Konrad, das Schlitzohr, war ihr Sohn, von wem hat er das wohl. Dann fiel ihr ein, dass so eine Umfrage heute nicht